Protokoll der Sitzung vom 26.01.2000

(Unruhe – Glocke des Präsidenten)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Harms und Herr Plaue haben dargelegt - und zwar völlig zu Recht -, dass wir uns in einer ernsten Lage befinden. Die eigentliche Ernsthaftigkeit liegt darin, dass das Handeln in meiner Partei daran mitgewirkt hat, dass das Vertrauen in Parteien und vor allem auch Politiker noch weiter abgenommen hat und dass uns als

angeblich „denen da oben“ alles zugetraut wird. Das ist von dauerhaftem Schaden und wird uns alle noch beschäftigen müssen.

Ich meine, dass wir infolge dieser Vorgänge eine sehr breite Debatte über Rechtsstaatlichkeit - für jede Person in jedem Amt zu jeder Zeit, für jedermann und auch jede Partei - und eine Debatte über die Werte, die unser Gemeinwesen zusammenhalten, brauchen. Das gilt für mich und meine gesamte Partei. Hoffentlich wird dann deutlich werden, was der Philosoph Toqueville vor rund 170 Jahren über die Demokratie in Amerika geschrieben hat, nämlich: Die Grundsätze der tiefen Achtung vor dem Recht sind unentbehrlich. Sie gelten für alle. Man kann von vornherein sagen, dass da, wo sie fehlen, die Republik bald verschwunden ist.

Das gilt, und das muss in dieser Diskussion herausgearbeitet werden. Deshalb bekennen wir uns zu Verfehlungen, und deshalb hat sich Wolfgang Schäuble im Deutschen Bundestag vor der Öffentlichkeit entschuldigt. Wir bekennen uns zu dem Begriff, den manche nicht mehr hören können, der rückhaltlosen Aufklärung, weil wir das Problem haben, dass wir einem gewissen Kartell des Schweigens gegenüberstehen, das uns bei dieser Aufklärung nur unzureichend oder gar nicht behilflich ist.

Wir werden auch die Konsequenzen zu tragen haben. Die materiellen Konsequenzen sind bereits angesprochen worden. Das Parteiengesetz sieht Sanktionen vor. Wir werden ferner strukturelle Konsequenzen zu ziehen haben. Hierzu werden wir unser Finanzstatut ändern, die Verantwortung der Parteivorstände und die innerparteiliche Demokratie wieder herstellen und nach meiner Überzeugung wenige Punkte des Parteiengesetzes zu diskutieren haben.

Herr Plaue, Sie haben Recht, die Gesetze sind tauglich. Deshalb müssen nicht Gesetze verändert werden, sondern es müssen sich die Leute ändern, die sich an die Gesetze zu halten haben. Aber ich meine schon, dass man möglicherweise an Eides statt erklären lassen muss, über welche Konten in welchen Zeiträumen Parteien verfügen, denn dann können Parteien nicht durch das Verhalten Einzelner über Jahre hinweg getäuscht werden.

Die immateriellen Schäden sind weitaus größer, nämlich der Verlust an Vertauen und Glaubwürdigkeit. Es gab aber auch personelle Konsequen

zen. Wir haben unseren Ehrenvorsitzenden verloren. Sie haben Herrn Lafontaine verloren; Sie können das nachempfinden.

(Mühe [SPD]: Das ist aber ein kleiner Unterschied! - Weitere Zurufe von der SPD)

- Es ist nicht das Gleiche, und es ist auch keine Gleichsetzung, aber es ist eine tiefe Zäsur in der Geschichte einer Partei. Einige von Ihnen, die das vielleicht eher nachvollziehen können, sind ja auch gerade ruhig geblieben. Wir haben uns von Mitarbeitern getrennt, und wir haben uns vor allem von Abgeordneten getrennt, weil dies unausweichlich gewesen ist. Wir sagen nicht, dass Herr Kanther das Opfer einer „Medientreibjagd“ gewesen ist, sondern er ist das Opfer seiner eigenen Handlungen, seiner eigenen Verfehlungen, seiner Gesetzesverstöße. Es war eben kein „Kunstgriff“, sondern es war ein Skandal, dass man die Rückführung von Geldern so begründet hat, wie man sie begründet hat.

Ich sage Ihnen deutlich: Die Vorgänge dürfen sich nicht wiederholen. Ich habe sie für undenkbar gehalten, insbesondere nach der Debatte über die damalige Krise der Parteiendemokratie, die es in den 70er-Jahren gegeben hat. Aber ich sage auch: Vertrauen muss Gegenstand menschlichen Zusammenlebens bleiben. Es darf nicht durch Misstrauen gegenüber jedermann ersetzt werden. Das würde die Menschlichkeit der Zusammenarbeit rauben.

Ich weise vor dem Hintergrund dieser Schilderung, dass wir die Konsequenzen zu verantworten und zu tragen haben, ausdrücklich zurück, wenn es zu pauschalen Diffamierungen einer bedeutenden, der großen Volkspartei CDU und zu abenteuerlichen Verdächtigungen kommt, beispielsweise gerade von Manfred Carstens. Der taucht dort als einer derer auf, die man gerne einmal als Zeuge über bestimmte Entscheidungen der Bundesregierung sprechen würde. Es gibt keine staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen gegen ihn. Das ist eine schlichte Unwahrheit gewesen, Frau Harms. Ich nehme Parteifreunde gegen Unwahrheiten und falsche Verdächtigungen in Schutz.

(Beifall bei der CDU)

Das Fehlverhalten Einzelner führt weder zu einer Sippenhaftung noch zu Kollektivschuld. 85.000 Mitglieder der CDU Niedersachsen haben sich nichts zuschulden kommen lassen. Vor diese stel

len wir uns ebenso wie vor die Millionen Wähler der Union, die in diesen Tagen besonders leiden, weil die Rechtsstaatlichkeit zu unserer Kernkompetenz gehört. Das wird auch in Zukunft so bleiben. Dafür werden wir Sorge tragen, meine Damen und Herren. Das möchte ich sehr deutlich sagen.

(Beifall bei der CDU)

Wir brauchen auch für Parteien eine Kultur des Spendens. Bürgerinitiativen brauchen nicht offen zu legen, von wem sie sich in welchem Umfang finanzieren lassen. Parteien müssen das offen legen, und dazu bekennen wir uns. Das haben wir nämlich so eingeführt. Wir wollen, dass sich auch in Zukunft in den Kreisverbänden die Spender dazu bekennen, dass sie spenden. Denn eine Kreispartei bekommt keine einzige Mark öffentlicher Mittel für Kommunalwahlkämpfe. Sie muss aber Gelder an die Landes- und an die Bundespartei abführen, und sie ist damit in einer besonders schwierigen Lage der Finanzierung, um weiter Dienstleister und Bürgerbüro für die Menschen zu bleiben.

Meine Damen und Herren, Selbstgerechtigkeit ist wahrlich fehl am Platz. Wenn hier ein PDS-Redner spricht, dann muss man daran erinnern dürfen, dass bei Ihnen der Ehrenvorsitzende Hans Modrow heißt, der rechtskräftig als Wahlfälscher verurteilt ist.

(Beifall bei der CDU)

Wenn hier die Grünen sprechen, dann muss man daran erinnern dürfen, dass Sie auf Ihrem nächsten Bundesparteitag Ihren Beschluss ändern werden, dass aus der steuerfreien Abgeordnetenpauschale Abführungen an die Partei im Umfang von 3,5 Millionen DM geleistet werden. Im Hinblick auf die SPD möchte ich erwähnen, dass es ein großer Gewinn für die Debatte wäre, wenn wir in Zukunft nicht nur vor anderen Haustüren, sondern auch vor der eigenen Haustür wachsam blieben.

(Beifall bei der CDU - Zuruf von der SPD)

Ich rechne überhaupt nichts gegeneinander auf. Gleichsetzungen vermeide ich.

(Zuruf von Plaue [SPD])

Aber, meine Damen und Herren von der SPD, glauben Sie im Ernst, dass es an Ihnen vorbeigehen wird, dass zwar Herr Schleußer gestern eingeräumt hat, die deutsche Öffentlichkeit und das Parlament

über Wochen belogen zu haben, aber Herr Clement erklärt hat, dass dies kein Grund für Rücktritt, für Austritt aus der Landesregierung oder sonstige Konsequenzen sei?

(Beifall bei der CDU)

Ich sage Ihnen: Die schwarzen Kassen bei der Westdeutschen Landesbank für die Reisen der Kabinettsmitglieder sind ein eindeutiger Verstoß gegen die Landeshaushaltsordnung und die nordrhein-westfälische Verfassung. Deshalb müssen Sie sagen: Auch der Verfassungsbruch der Sozialdemokraten in Nordrhein-Westfalen hat für uns Bedeutung, nicht nur der behauptete Verfassungsbruch bestimmter CDU-Politiker im Zusammenhang mit der Parteispendenaffäre der CDU.

(Plaue [SPD]: Behauptung? - Weitere Zurufe von der SPD)

Im Rechtsstaat gilt ja immer noch - ich gehe aber davon aus, dass es sich um einen Bruch der Verfassung handelt - - -

(Zurufe von der SPD)

- Wissen Sie, was uns wirklich aufregt? Uns regt die Tatsache auf, dass man sich im gesamten Parlament nicht auf bestimmte Verfahren verständigen kann. Wir setzen gleich einen Untersuchungsausschuss ein, der Affären aufklären soll, der persönliche Bereicherungen abtesten soll, der das Versagen als Aufsichtsratsvorsitzender, die Fälschung und Manipulation von Rechnungen und Parteienfilz untersuchen soll. Sie aber machen Folgendes: Bevor die Ermittlungen des Untersuchungsausschusses abgeschlossen sind, sprechen Sie von Medienhetze, von falschem Handeln der Staatskanzlei, und der Ministerpräsident entsendet diesen Mann, dem Versagen als Aufsichtsratsvorsitzender vorgeworfen wird, in den Aufsichtsrat der Norddeutschen Landesbank. Das ist eine wirkliche Provokation.

(Beifall bei der CDU)

Deshalb sage ich zum Schluss: Wir sollten uns gemeinsam bemühen, dass jeder in seinem Bereich - auch bei der Kontrolle der anderen - ein wenig sensibler wird, als er bisher gewesen sein mag. Ich leide persönlich darunter - das können Sie vielleicht nachvollziehen -, dass wir zwar als Union gebraucht werden, aber uns im Moment den Sachfragen und der inhaltlichen Auseinandersetzung im

Wettstreit der Ideen nicht so zuwenden können, wie wir es gerne würden.

(Zuruf von der SPD)

Ich leide auch ein Stück darunter, dass wir in dieser schwierigen Situation unserer Demokratie nicht einmal einen Bundespräsidenten haben, der völlig unbescholten und ohne Belastungen durch Skandale in diese Debatte eingreifen könnte.

(Beifall bei der CDU - Plaue [SPD]: Das ist doch nicht zu glauben! - Wei- tere Zurufe von der SPD)

Das ist eine schwere Belastung. Deshalb sollten wir uns bemühen, die Dinge in der Ernsthaftigkeit zu diskutieren, wie Herr Plaue und Frau Harms dieses gemacht haben. Dazu wollte ich einen Beitrag leisten, damit nicht der Eindruck entsteht, hier seien Heilige und Engel auf der einen Seite und sozusagen in Sippenhaft zu nehmende Täter auf der anderen Seite. Das wäre ein falsches Bild der Wirklichkeit. Wir sollten daran nicht mitwirken.

(Starker Beifall bei der CDU)

Das Wort hat Herr Ministerpräsident Gabriel.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eines vorweg: Herr Kollege Wulff, ich nehme Ihnen ausdrücklich ab, dass Sie sich insgesamt um Redlichkeit in dieser Debatte bemühen, und ich habe großen Respekt vor der Art und Weise, wie Sie dies nicht ohne innerparteiliche Risiken in Ihrer Partei und Ihrer Fraktion versuchen durchzusetzen und durchzuhalten. Das ist keine einfache Aufgabe. Jemanden, der mit einer Partei nicht nur intellektuell, sondern natürlich auch emotional verbunden ist, muss das ungeheuer treffen, was passiert ist. Ihre berufliche Herkunft macht deutlich, was es für Sie bedeuten muss, wenn Rechtsstaatlichkeit in dieser Angelegenheit infrage gestellt wird.

Aber, Herr Kollege Wulff, ich glaube nicht, dass wir eine Rechtsstaatdebatte brauchen. Wir brauchen auch keine Wertedebatte. Der Rechtsstaat steht nicht infrage, und die Werte, die wir brauchen, stehen in unserer Verfassung. Es geht darum, dass wir darauf achten müssen, dass die Repräsentanten dieses Staates und der Parteien durch ihr Handeln den vorhandenen Rechtsstaat achten,

ihren Amtseid ernst nehmen und die Werte, die in der Verfassung stehen, nicht nur in Sonntagsreden vor sich hertragen, sondern auch zum Gegenstand ihrer aktiven Politik und ihres aktiven Handelns machen.

(Beifall bei der SPD)

Deswegen wehre ich mich dagegen, dass der Rechtsbruch, der Verfassungsbruch, sozusagen das Überschreiten jeder Grenze beim Umgang mit den in unserer Verfassung vorgegebenen Werten jetzt zu einer allgemeinen Staats- und Demokratiekrise oder Wertedebatte hochgezogen wird. Das hat damit nach meiner Auffassung überhaupt nichts zu tun.

Gestatten Sie mir zwei Bemerkungen zu Ihren politischen Randbemerkungen. Erstens weise ich zum Thema Ehrenvorsitz darauf hin, dass die SPD bis heute einen Ehrenvorsitzenden hat, auf den sie weiterhin stolz sein kann.

(Beifall bei der SPD)

Er heißt nicht Oskar Lafontaine, sondern Willy Brandt.

Zweitens. Es war ja zu vermuten, dass heute Stichwörter wie „Schleußer“ oder „Hochzeitsfeier“ in die Debatte gebracht werden. Das ist auch in Ordnung, weil alle diese Themen dazu beitragen, dass in der Bevölkerung der Eindruck entsteht, Politik befasse sich nur noch mit sich selbst. Es gibt in der Wahrnehmung der Bevölkerung offensichtlich häufig keinen, jedenfalls keinen gravierenden Unterschied zwischen dem, was wir bei der Parteispendenaffäre diskutieren, und dem, was bei anderen Affären diskutiert wird. Machen wir uns keine Illusionen. Aber, Herr Kollege Wulff, es gibt - jedenfalls in der Parlamentsdebatte - den Auftrag, nicht nur die öffentliche Wahrnehmung für sich in Dienst zu nehmen, sondern zumindest auch darauf hinzuweisen, dass es sich in dem einen Fall um Geldwäsche handelt, bei der eine Regierungspartei wie eine kriminelle Vereinigung gehandelt hat, bei der in der Tat hunderttausende von Mitgliedern dieser Partei für offenbar kriminelles Handeln in Dienst genommen werden, und dass es sich bei dem anderen Fall um persönliches Handeln außerhalb von Strafrecht und außerhalb von Verfassung und Rechtsbruch handelt.

(Beifall bei der SPD)