Protokoll der Sitzung vom 11.05.2000

Zur Tagesordnung: Wir beginnen die heutige Sitzung mit Tagesordnungspunkt 16 - Dringliche Anfragen. Anschließend setzen wir die Beratung in der Reihenfolge der Tagesordnung fort. Die heutige Sitzung soll gegen 19.17 Uhr enden.

An die rechtzeitige Rückgabe der Reden an den Stenografischen Dienst - bis spätestens morgen Mittag, 12 Uhr - wird erinnert.

Es folgen geschäftliche Mitteilungen durch die Schriftführerin.

Es haben sich entschuldigt für den heutigen Tag von der Fraktion der SPD Herr Buß und Herr Glogowski, von der Fraktion der CDU Herr Meier und von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Frau Janssen-Kucz.

Wir kommen damit zu

Tagesordnungspunkt 16: Dringliche Anfragen

Es liegen zwei Dringliche Anfragen vor: a) Kürzungen beim Zivildienst: „Stille menschliche Katastrophen“ - Was tut die Landesregierung? Anfrage der Fraktion der CDU - Drs. 14/1605 und b) Zwangsarbeiterentschädigung - wo bleibt das Geld der niedersächsischen Wirtschaft? - Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen - Drs. 14/1606.

Ich erinnere an die Verfahrensbedingungen. Jeder Abgeordnete darf nur bis zu zwei Zusatzfragen stellen. Zu zählen sind die jeweils einzelnen Fragen. Die Zusatzfragen müssen knapp und sachlich sein, sie müssen zur Sache gehören, sie dürfen die Frage nicht auf andere Gegenstände ausdehnen und dürfen nicht verlesen werden.

Ich rufe zunächst die Dringliche Anfrage auf

a) Kürzungen beim Zivildienst: „Stille menschliche Katastrophen“ - Was tut die Landesregierung? - Anfrage der Fraktion der CDU - Drs. 14/1605

Wer fragt?

(Jansen [CDU]: Ich!)

- Herr Kollege Jansen.

Guten Morgen, meine sehr verehrten Damen und Herren, Herr Präsident! Die Bundesregierung hat drastische Kürzungen im Zivildienst angekündigt, die nach Äußerungen der Wohlfahrtsverbände zu großen Schwierigkeiten für die sozialen Einrichtungen, aber auch für viele andere Bereiche, so z. B. für Sonderschulen für geistig Behinderte, das Technische Hilfswerk, die Feuerwehren usw. führen, weil dort Zivildienstleistende einen wichtigen Beitrag leisten. Die Verringerung der Zivildienstzeit von 13 auf elf Monate sowie der schrittweise Abbau mehrerer zehntausend Zivildienstplätze bedeuten eine Verringerung der Zivildienstkapazität um ca. 30 %. Ein besonderes Problem stellt in der Praxis die Schwierigkeit dar, dass in rund 80 % der Stellen, in denen Zivildienstler tätig sind, nur ein bis drei Zivildienstplätze vorhanden sind. Bestimmte Arbeitsfelder wie die Betreuung von Schwerstbehinderten können von den Zivildienstträgern aber nur mit dem Einsatz von Zivildienstleistenden wahrgenommen werden.

Die Kürzungen gehen offensichtlich an der sozialen Praxis im Lande vorbei. Nach Meinung des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes wird versucht, die vom Bundesfinanzminister vorgegebenen Einsparungssummen im Bundesfamilienministerium fast ausschließlich durch Kürzungen im Zivildienstbereich aufzubringen. Der Wohlfahrtsverband vermutet, dass der Zivildienst im Ministerium eine schlechte Lobby hat und deshalb dort mit dem geringsten Widerstand gerechnet wird, obwohl die Bundesministerin immer wieder versprochen hat, dass die Kürzungen insbesondere für die davon betroffenen Menschen keine Nachteile mit sich bringen würden. Der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen hingegen spricht von „stillen menschlichen Katastrophen“, die sich anbahnen.

In dieser Situation, in der Engpässe und Einbrüche insbesondere auch bei den mobilen sozialen Hilfsdiensten und bei der Betreuung von Schwerstbehinderten drohen, muss die Landesregierung tätig werden, um Einbrüche in wichtigen Teilen der sozialen Infrastruktur in Niedersachsen zu verhindern.

Wir fragen die Landesregierung:

1. Welche Auswirkungen erwartet die Landesregierung für Niedersachsen von den Kürzungen beim Zivildienst im Bereich der sozialen Infrastruktur?

2. Welche Maßnahmen ergreift die Landesregierung, um zusammen mit den Zivildienstträgern die zu befürchtenden Einbrüche aufzufangen?

3. Wie beurteilt die Landesregierung die Versuche der Bundesministerin für Jugend, die betroffenen pflegebedürftigen Menschen und Menschen mit einer Behinderung dahin gehend zu beruhigen, dass die Kürzungen keine Auswirkungen auf ihre Situation hätten? - Danke schön.

(Beifall bei der CDU)

Für die Landesregierung beantwortet Frau Ministerin Merk die Frage.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Zivildienst hat sich als Alternative zum Wehrdienst bewährt und genießt ein gutes Ansehen in der Gesellschaft. Seit 1961 haben über 2 Millionen junge Männer ihren Kriegsdienst verweigert und rund 1,5 Millionen ihren Zivildienst abgeleistet. Derzeit sind es in Deutschland jährlich ca. 138.000 junge Männer, die statt des Dienstes in der Bundeswehr in einer anderen gemeinnützigen Einrichtung tätig sind. Meistens handelt es sich um einen Dienst am Menschen. Ich denke, wir alle im Landtag haben Grund genug, zunächst auch den Zivildienstleistenden Dank zu sagen,

(Beifall bei allen Fraktionen)

denn diese Arbeit der jungen Männer ist ein wichtiger Beitrag für das soziale Gefüge in unserer Gesellschaft, er geht still vonstatten und ist oft mit viel Leiden verbunden, sowohl bei denen, die sie

betreuen, als auch bei denen, die Schwerstarbeit leisten.

Meine Damen und Herren, seit Beginn der 80er-Jahre haben tief greifende gesellschaftliche Veränderungen einen steigenden Bedarf an außerfamiliärer sozialer Hilfe nach sich gezogen. Im Zuge dieser gesellschaftlichen Entwicklung ist der Zivildienst zunehmend ein Teil des sozialstaatlichen Hilfesystems geworden. Dies auch deshalb, weil die damalige Bundesregierung es in den 80er-Jahren versäumt hat, notwendige strukturelle Veränderungen bei den sozialen Dienstleistungen vorzunehmen.

(Frau Schliepack [CDU]: Ach was!)

Ein Schwerpunkt der zivildienstlichen Arbeit lag und liegt bei der Betreuung von pflegebedürftigen und behinderten Menschen. Verschiedene Arbeitsfelder wie individuelle Schwerstbehindertenbetreuung, mobiler sozialer Hilfsdienst und familienentlastende Dienste wurden überhaupt erst durch den Einsatz von Zivildienstleistenden aufgebaut. Dieser hohe Leistungsstandard für Bürgerinnen und Bürger mit Behinderungen oder Pflegebedürftigkeit muss erhalten bleiben, auch im Rahmen der Umstrukturierung des Zivildienstes. Darin sind wir uns sicherlich alle einig.

Worauf aber haben wir uns einzustellen? - Die jährliche Einberufungszahl der Zivildienstleistenden wird von ca. 138.000 im Jahresdurchschnitt auf rund 124.000 Zivildienstleistende abgesenkt. Zurzeit sind in den sozialen Diensten ca. 90.000 Plätze besetzt. Die Unterstützung der sozialen Dienste kann damit unverändert beibehalten werden. Es werden vor allem Zivildienstplätze in Bürodiensten, in handwerklichen Bereichen und im Grünpflegebereich nicht wiederbesetzt. Zum 1. Juli 2000 wird die Zivildienstzeit von 13 Monate auf elf Monate verkürzt. Damit wird einer langjährigen politischen Forderung entsprochen, die auch auf Zustimmung der freien Wohlfahrtspflege trifft. Ferner wird die Beteiligung der Beschäftigungsstellen des Zivildienstes an den Kosten für den Zivildienstleistenden erweitert. Bisher gibt es von den Wohlfahrtsverbänden keinen Hinweis darauf, dass diese finanzielle Mehrbeteiligung bei den Zivildienststellen ein besonderes Problem wäre.

(Zuruf von Frau Schliepack [CDU])

- Meine Damen und Herren, wenn Sie sich etwas näher erkundigen würden, dann würden Sie feststellen, dass das zu leisten sein wird. Denn wir

wollen doch wohl festhalten, dass das ein sehr billiger Dienst ist.

(Frau Pawelski [CDU]: Darum ja!)

Bisher gibt es also keine Bedenken dahin gehend, dass diese finanzielle Mehrbeteiligung ein besonderes Problem wäre.

Nach Einschätzung des Bundesamtes für Zivildienst in Köln bringt die Umstrukturierung für Niedersachsen einen Rückgang von rund 1.000 Plätzen mit sich, die gar nicht alle für den sozialen Dienst eingesetzt werden. Bei der Besetzung der verbleibenden rund 10.000 Stellen haben die Verbände ein Mitspracherecht. Es ist reine Spekulation und völlig ungerechtfertigt, wenn heute behauptet wird, dass die Änderungen im Zivildienst ein Fiasko für die behinderten und pflegebedürftigen Menschen sein könnten.

(Zurufe von der CDU)

- Sie wollten ja die Antwort. Vielleicht hören Sie sie zunächst an.

(Frau Zachow [CDU]: Erschüttert hö- ren wir zu, ja!)

Die Fachleute der freien Wohlfahrtspflege, die ich hierzu befragt habe, sind bei aller Sorge um mögliche Auswirkungen in diesem Punkt sehr zurückhaltend. Das sieht man übrigens auch an der Empfehlung der Caritas, den Zivildienst völlig abzuschaffen. Meine Damen und Herren, das muss man alles insgesamt bedenken.

(Frau Schliepack [CDU]: Nicht nur die Caritas!)

Auch nach den Zivildienstzeitverkürzungen unter CDU/CSU-FDP-Βundesregierungen im Jahre 1990 von 20 auf 15 Monate und im Jahre 1995 von 15 auf 13 Monate trafen die damals geäußerten und ähnlich düsteren Prognosen am Ende nicht zu. Vielleicht lesen Sie das noch einmal nach. Es wäre zudem um das Sozialsystem in Niedersachsen schlecht bestellt, wenn es nicht eine Reduzierung von 1.000 Zivildienstplätzen verkraften würde, von denen nur ein Teil dem sozialen Bereich zuzuordnen ist. Durch Verschiebungen von handwerklichen oder verwaltenden Tätigkeiten zu sozialen Hilfsdiensten dürfte es überdies möglich sein, den sozialen Bereich ganz zu verschonen. Ich habe deshalb die Einschätzung, dass die Versorgung der behinderten und pflegebedürftigen Menschen hier

im Lande nicht in größerem Umfange beeinträchtigt werden wird.

Gleichwohl ist die Sorge der freien Wohlfahrtspflege und anderer im Zivildienst tätiger Institutionen zu berücksichtigen, dass es durch die Kontingentierung der Zivildienstplätze und durch die Verkürzung der Zivildienstdauer in einzelnen Zivildienststellen zu finanziellen Folgewirkungen kommen könnte, sofern Tätigkeiten auf hauptamtliche Kräfte übertragen werden müssten. Ich bin deshalb derselben Meinung wie die freie Wohlfahrtspflege, dass unter Führung der Bundesregierung gemeinsam mit den Wohlfahrtsverbänden, Kostenträgern und anderen betroffenen Institutionen die Folgen geprüft und Vorschläge zum weiteren Vorgehen erarbeitet werden müssen. Wir sollten erst einmal feststellen, welcher Handlungsbedarf besteht und welche Belastungen im sozialen Bereich überhaupt zu verkraften sind. Das wird auch gemacht. Zu diesem Zweck hat sich am Freitag vergangener Woche, am 5. Mai, in Berlin unter Leitung des Bundesbeauftragten für den Zivildienst, Herrn Dieter Hackler, eine Kommission zur Zukunft des Zivildienstes konstituiert. Hier geht es genau um diese Fragen. Die Ergebnisse werden voraussichtlich Mitte des Jahres vorliegen.

Meine Damen und Herren, ich möchte dafür werben, diese Ergebnisse abzuwarten. Der CDUFraktion gebe ich zudem den Rat, vor einer Anfrage wie dieser erst einmal selbstkritisch auf die eigene Regierungsverantwortung im Bund zu schauen.

(Beifall bei der SPD - Zuruf von der CDU: Oberlehrerin! - Möllring [CDU]: Hat die Landesregierung ge- wechselt? Seid ihr nicht mehr dran?)

Denn Sie haben seinerzeit statt der gesellschaftlich notwendigen Ausweitung von sozialen Dienstleistungen diesen Bedarf erheblich durch Leistungen des Zivildienstes kompensiert, der damit zu einem kostengünstigen Teil des sozialstaatlichen Hilfesystems wurde. Das, was abgelaufen ist, muss man sich auch dann anhören, wenn man seit kurzem nicht mehr in der Regierung ist, meine Damen und Herren.

(Adam [SPD]: Richtig!)

Gerade angesichts dieser von Ihnen zu verantwortenden Strukturen - von niemand anderem sind sie zu verantworten - sind heute keine kurzatmigen Problemlösungen gefragt.

(Ontijd [CDU]: Unglaublich!)

Wir sollten vielmehr die Diskussion um die Zukunft des Zivildienstes als Chance begreifen, etwaige Fehlentwicklungen - und die gibt es - zu korrigieren und den sozialen Bereich zu einem für das hauptamtliche wie für das freiwillige Engagement gleichermaßen attraktiven Arbeits- und Berufsfeld zu machen. Mit düsteren Prognosen, obwohl man noch gar nicht weiß, um welche Zahlen es genau geht, kann man nur Ängste erzeugen,