Protokoll der Sitzung vom 11.05.2000

(Harden [SPD]: Auch das stimmt nicht!)

Lassen Sie mich jetzt noch etwas zu einem wichtigen Punkt sagen, der in der Diskussion eigentlich untergeht oder auch bewusst verschwiegen wird. Die kalte Progression frisst Eichels Steuerentlastung auf der Zeitachse bis 2005 völlig auf. Der Steuerzahler in der Bundesrepublik tappt bei dieser Reform in eine Zeitfalle. Die Vergleichsberechnungen zur Entlastung für gut verdienende Arbeitnehmer gehen ja davon aus, dass die Arbeitnehmer 2001 und 2005 in etwa gleich hohe Bezüge haben. Das liegt ja völlig neben der Realität.

(Zuruf von Möhrmann [SPD])

Der Facharbeiter, der 1998 4.900 DM verdient hat, wird - 2,5 % bis 3 % Lohnsteigerung vorausgesetzt - 2005 in etwa ein Gehalt von 5.800 DM bis 6.000 DM haben. Wenn man das einmal auf die Grenzsteuerbelastung umlegt, dann hat er jetzt eine von etwa 29 %, und 2005 wird sie bei 32 % liegen. Der wird sich dafür herzlich bedanken.

(Möllring [CDU]: Das ist Abzocke- rei!)

Wer wirklich eine mutige Steuerreform will, meine Damen und Herren, wer mehr Dynamik in der Wirtschaft will, der muss dafür sorgen, dass die Bürger auch bei steigendem Einkommen etwas von den Entlastungsplänen haben.

(Beifall bei der CDU – Harden [SPD]: Es steigt wenigstens!)

Was hier politisch abläuft, ist bewusste Irreführung der Öffentlichkeit. Ich muss mich sogar wundern, dass die Gewerkschaften dieses Thema noch nicht intensiv angegangen sind. Es gibt ja durchaus die Möglichkeit, über eine Indexierung dieses Problem der kalten Progression abzufangen. Wir müssen uns im Steuersystem von der Automatik lösen, dass bei steigenden Einkommen und bei Tarifverhandlungen der Finanzminister immer als lachen

der Dritter mit am Tisch sitzt, weil steigende Löhne für ihn auch automatisch höhere Steuereinnahmen bedeuten. Dies ist wohl eine Entwicklung, die auf Dauer nicht so zu akzeptieren ist. Ziel der Steuerreform muss sein, diese Progressionsfalle deutlich abzuschwächen. Das kann man nur mit einer erheblichen Absenkung des Spitzensteuersatzes erreichen.

Noch eine Bemerkung zur aktuellen Diskussion um die Green Card: Ich habe mir einmal vorgestellt, was der osteuropäische oder indische Computerspezialist sagt, wenn er hier mit den beschriebenen festgelegten 100.000 DM Mindesteinkommen arbeiten will und beim ersten Mal sieht, was er als Junggeselle unterm Strich übrig hat. Der wird hier ja auch nach deutschem Steuerrecht besteuert. Der wird auf dem Absatz kehrtmachen und sehen, ob er in anderen Ländern netto nicht erheblich mehr übrig behält. Das ist bei uns wahrlich nicht attraktiv.

(Zuruf von Harden [SPD])

Wenn ihm dann noch gesagt wird „Warte bis 2005, dann musst du weniger zahlen“, dann sagt er: „Dann brauche ich das nicht mehr; dann ist meine Zeit in Deutschland beendet.“

(Beifall bei der CDU)

Der größte politische Fehlgriff dieser Steuerreform, meine Damen und Herren, ist aber die eklatante Ungleichbehandlung von Kapitalgesellschaften und Personengesellschaften. Das ist - ich sage das hier ganz deutlich - ein Angriff gegen die eigentümergeprägte Unternehmenskultur in diesem Lande. Im Hinblick auf die hier bestehende Struktur ist es auch ein Affront gegenüber 2 Millionen kleiner und mittlerer Betriebe, die ja eigentlich die Basis sind. Das sind doch die Jobmaschinen in diesem Lande. Das sind doch die Betriebe, die sich um Ausbildung und Ausbildungsplätze kümmern. Sie haben es wahrlich nicht verdient, dass man diese steuerlichen Strafexpeditionen gegen sie startet.

Als ein weiteres Beispiel sei auch das missglückte und wirklich verkorkste Optionsmodell genannt, das Personengesellschaften die Möglichkeit eröffnen soll, sich wie Kapitalgesellschaften besteuern zu lassen. Die Betriebe sind wirklich gut beraten, hiervon die Finger zu lassen. Sie werden von einer Steuerfalle in die nächste tappen, ganz unabhängig davon, dass sie im Ergebnis mehr Erbschaftsteuer zahlen müssen. Diese Betriebe brauchen eine echte

Steuerentlastung. Wenn immer gesagt wird, dass die Eigenkapitalbasis der kleinen und mittleren Betriebe nicht stimme - auch Herr Eichel hat wiederholt gesagt, dass die durchschnittliche Eigenkapitalbasis der kleinen und mittleren Betriebe in Deutschland etwa bei 16 % und in anderen europäischen Ländern viel höher liegt -, dann muss man eben intelligente steuerrechtliche Lösungen finden, die dazu beitragen, dass dieser Zustand beendet wird, weil er auf Dauer die Existenz vieler Betriebe in diesem Lande gefährdet. Wenn man um diese Tatsache weiß, dann fragt man sich wirklich, warum es hierfür keine Lösung gibt, um auch unseren Betrieben im europäischen und internationalen Wettbewerb die Chance zu sichern.

Ich will auf die anderen Einzelheiten - AfA und diese Dinge - nicht eingehen. Wir können sie in der Diskussion sicherlich noch vertiefen. Nach meinem Dafürhalten bleibt der hoch attraktive Steuerstandort Deutschland für Investoren nach diesen Überlegungen, nach diesem Modell weiterhin eine Fata Morgana. Mich stören hauptsächlich die unterschiedlichsten Positionen - Plural ist angesagt - der Landesregierung zu dem Gesamtpaket der Steuerreform. Vom Ministerpräsidenten und von Ministern werden hierzu munter und locker die verschiedensten Positionen belegt. In Hildesheim erklärt der Ministerpräsident ganz locker, er wolle den Mittelstand steuerlich mit den gleichen Rabatten belegen wie die Kapitalgesellschaften. Anschließend korrigiert ihn sein eigener Finanzminister, der sagt, das wäre eine Forderung, die in die falsche Richtung gehe. Aus der SPD-Fraktion gibt es Signale, die AfA-Tabellen seien vom Tisch. Der Finanzminister sagt, dass sie bei der Gegenfinanzierung weiterhin eine große Rolle spielen würden.

Ich finde, dass die Halbwertszeit der politischen Aussagen des Ministerpräsidenten immer kürzer wird. Im „Handelsblatt“ sagt er: Keine Senkung der Spitzensteuersätze; das sei nicht möglich, nicht finanzierbar. Er ist auch gegen das Optionsmodell und andere Dinge, was ja durchaus sinnvoll ist. Aber auf einmal kommt der „doppelte Rittberger“: Im Verein mit Ministerpräsident Clement ist er für die Senkung des Spitzensteuersatzes deutlich unter 45 %. - Ich finde, dass insoweit erheblicher Erklärungsbedarf besteht.

Herr Ministerpräsident, ich habe eine letzte Bitte an Sie: Machen Sie es expressis verbis nicht zur Chefsache. Mit „Chefsachen“ haben wir hier in Niedersachsen schlechte Erfahrungen gesammelt.

Das ist in den meisten Fällen in die Hose gegangen.

(Beifall bei der CDU)

Aber wenn Sie sich intensiv um die Belange des Mittelstandes kümmern, dann haben Sie die CDU an Ihrer Seite.

(Beifall bei der CDU)

Für die Regierungsfraktion hat sich der Kollege Möhrmann zu Wort gemeldet.

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Steuersenkungspartei CDU hat gesprochen. Es fehlte allerdings der Hinweis, dass Sie, Herr Dinkla, auch die Gewerbesteuer ändern wollen. Dann wäre es vollständig gewesen. Dann fehlte natürlich auch noch das ganz Entscheidende, das jedes Mal fehlt. Auch eine längere Redezeit reicht anscheinend nicht aus, dass Sie die Einsicht dafür gewinnen, dass alles das, was Sie hier zusagen, auch bezahlt werden muss, und dass alles das, was Sie hier den Leuten vorgaukeln, auch finanziert werden muss, und dass alles das auch Auswirkungen auf den Bundeshaushalt, die Länderhaushalte und die Haushalte der Kommunen hätte. Wenn Sie so Ihre Oppositionspolitik betreiben, dann werden Sie Ihrer Rolle, die man von Ihnen verlangt, nach meinem Dafürhalten nicht gerecht.

Nach der bitteren Enttäuschung, die große Industrie- und Wirtschaftsverbände der CDU derzeit zumuten, ist es aber auch nicht erstaunlich, dass nun plötzlich der Mittelstand als Gruppierung entdeckt wird, um die man sich besonders kümmern muss, nachdem man in diesem Bereich 16 Jahre lang völlig untätig war.

(Möllring [CDU]: Da waren die sehr zufrieden! 16 Jahre lang! Jetzt fühlen die sich ziemlich vorgeführt!)

Meine Damen und Herren, wenn man unser Mittelstandskonzept für Niedersachsen betrachtet, dann weiß man, wie man es machen kann. Andere Bundesländer sind dabei, dieses Konzept zu übernehmen, und auch auf Bundesebene geschieht inzwischen so etwas. Wenn ich mir Ihren Antrag anschaue, dann stelle ich fest, dass Sie den Ansprüchen, die man an eine vernünftige und gute

Haushaltspolitik stellen muss, nicht gerecht werden.

Was ist aber eigentlich passiert, dass eine Jahrzehnte dauernde innige Freundschaft zwischen den konservativen Kräften in unserem Land und den Großen in der Wirtschaft einen Riss bekommen hat? - Der Riss ist ja sogar so tief gegangen, dass Herr Merz - immerhin Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion -, wie ich zu meinem Erstaunen gelesen habe, die Zwangsmitgliedschaft in der Industrie- und Handelskammer infrage gestellt hat. So sauer war der. Also muss da ja irgendetwas passiert sein. 16 Jahre lang haben Sie doch Politik für diese Klientel betrieben, insbesondere für die Spitzenverdiener. Gleichzeitig haben Sie die Steuer- und Sozialversicherungsbelastungen für kleine und mittlere Einkommen, für Arbeitnehmer, Handwerker und für die kleinen und mittleren Unternehmen steigen lassen.

Was machen aber diejenigen, um die Sie sich so gesorgt haben, jetzt, nach dem Regierungswechsel? - Statt aus Dankbarkeit für die Segnungen Ihrer früheren Regierungszeit im Chor der Steuerreformkritiker mitzusingen, haben sich die Vertreter der Wirtschaftsverbände zu einer konstruktiven Zusammenarbeit mit der Regierungskoalition entschlossen, um die Probleme gemeinsam zu lösen. Meine Damen und Herren, so hatten Sie sich das sicherlich nicht vorgestellt.

Wir können doch feststellen, dass die Wirtschaftsverbände die Steuerreformvorschläge loben, dass der Gewerkschaftsbund damit einverstanden ist, dass die Fachpresse den Finanzminister für seinen konsequenten Weg lobt und dass die konjunkturelle Stimmung in der Bundesrepublik wieder so positiv und erwartungsvoll ist wie seit vielen Jahren nicht mehr.

Die Gründe für die positiven Reaktionen liegen doch auf der Hand. Diese Steuerreform wird deutliche Steuersenkungen für alle Unternehmen und für alle Bürger mit sich bringen, und, was ganz wichtig ist, es sind keine Entlastungen auf Pump. Es geht um eine verantwortungsvolle Konsolidierung der Staatsfinanzen und um mutige Entlastungen im Bereich der Steuersätze.

(Beifall bei der SPD)

Die Reform bringt eine deutliche Abkehr von den erschreckend hohen Steuersätzen der Regierung von CDU/CSU und FDP, die es in einer Regierungszeit von 16 Jahren nicht geschafft haben, ein

international wettbewerbsfähiges und soziales Steuerrecht zu gestalten.

(Zustimmung von Harden [SPD] - Rolfes [CDU]: Einsamer Klopfer!)

Gegenüber dem Steuersatz von 1998 von 45 % auf im Unternehmen verbleibende Gewinne bedeutet die Senkung der Körperschaftsteuer auf 25 % fast eine Halbierung. Der Wirtschaftsstandort Deutschland wird dadurch international erheblich gestärkt. Die Steuerhalbierung fördert auch die Bildung von Eigenkapital. Mit der Substanzstärkung der Unternehmen wird das Aktiensparen für breite Schichten der Bevölkerung attraktiv. Die niedrige Besteuerung der Unternehmen lässt die Kurse steigen, die höhere Ertragskraft der Unternehmen führt zu höheren Dividenden.

Dies ist nur eine kleine Liste der positiven Veränderungen, die diese geplante Steuerreform ermöglicht und heute schon in ihrer Wirkung erkennbar erreicht hat. Das sind Veränderungen, die zu der positiven Erwartungshaltung führen, die wir, wie ich bereits sagte, zurzeit wahrnehmen.

Ihnen, meine Damen und Herren von der CDU, fällt nur eine Strategie ein: Sie versuchen, an kleinen Beispielen Kritikpunkte aufzugreifen und das Steuerreformkonzept öffentlich anzuprangern.

(Möllring [CDU]. Das sind doch die zentralen Punkte Ihrer Steuerreform! Und jetzt sind das kleine Beispiele?)

Dass Sie damit maßlos übertreiben, Herr Möllring, werden Sie gleich an meinen Beispielen ersehen.

Ich will noch einmal festhalten: Es geht um Entlastung in Höhe von 70 Milliarden DM. Es geht um 24 Milliarden DM für die privaten Haushalte, um 14 Milliarden DM für den Mittelstand und zusätzlich um 5 Milliarden DM, die schon in der ersten Stufe der Steuerreform erreicht worden sind.

Folgendes wird in den Berechnungen immer vergessen: Die Inhaber der kleinen und mittleren Unternehmen sind ja auch Privathaushalte. Auch sie profitieren von den Erhöhungen des Kindergeldes. Auch sie profitieren von der Entlastung des Faktors Arbeit durch die Ökosteuer. Auch sie profitieren von der Steuer- und Familienentlastung durch die Senkung des Eingangssteuersatzes.

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, wer sich hier hinstellt und anhand der Beispiele kritisiert, der sollte sich zumindest daran erinnern, dass 16 Jahre zu folgendem Ergebnis geführt haben: 4 Millionen Arbeitslose, 1,5 Billionen DM Schulden und ein Deckungsloch im Bundeshaushalt von 90 Milliarden DM.

(Frau Pawelski [CDU]: Die Wieder- vereinigung haben Sie vergessen! Öffnung der Grenzen in Ost und West!)

Meine Damen und Herren, Deutschland war auf dem Weg in die Schuldenfalle, und der Bund stand kurz vor der Handlungsunfähigkeit. Das war die Lage bis 1998.

(Beifall bei der SPD - Frau Pawelski [CDU]: Wie viele Neubürger hatten wir in der Zeit?)

Angesichts dieser Hinterlassenschaften finde ich es etwas unverfroren, wenn man sich hier hinstellt und so tut, als könne man von heute auf morgen umsteuern und alles das machen, was man in den 16 Jahren nicht gepackt hat.

(Zurufe von der CDU)