Protokoll der Sitzung vom 21.06.2000

Aber der sichtbarste Ausdruck einer Politik, die sich um die Menschen in unserem Land tatsächlich kümmert und nicht nur darüber redet oder alles den anonymen Marktkräften überlässt, war die Struktur- und Arbeitsmarktpolitik der vergangenen zehn Jahre. Wir wussten und wissen auch heute: Voraussetzung für eine erfolgreiche Politik ist die Bereitschaft, mutige Entscheidungen zu treffen und dabei auch Risiken einzugehen. Meine Damen und Herren, das haben wir getan: Wir sind diese Risiken ganz bewusst eingegangen, und zwar mit der Gründung der ASL in Lemwerder, mit der Beteili

gung an der Salzgitter AG und mit dem Engagement für die Gießerei Pleissner in Herzberg, um nur wenige Beispiele zu nennen. Hier haben wir Flagge gezeigt, meine sehr verehrten Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD)

Wenn sich Herr Wulff darüber beklagt, dass die Bundesregierung angeblich eine Entscheidung beim Kauf bzw. bei der Entwicklung des militärischen Airbusses gegen Lemwerder getroffen hat, dann muss der Herr Wulff ehrlicherweise auch sagen, dass es dieses Werk Lemwerder nicht mehr gegeben hätte, wenn nicht der damalige Ministerpräsident Schröder dafür eingetreten wäre, dass es erhalten bleibt, meine sehr verehrten Damen und Herren!

(Beifall bei der SPD)

Hätte die Landesregierung alle Risiken gescheut und wäre sie bei der Bürgschaftspolitik auf die Forderungen der CDU, die sie an uns gerichtet hat, eingegangen, hätten wir tausende von Arbeitsplätzen insbesondere im mittelständischen Bereich verloren.

(Zuruf von Frau Körtner [CDU])

- Frau Kollegin, Sie haben bis heute nicht begriffen, dass ein Großteil unserer Bürgschaftspolitik und unserer Entwicklungspolitik dem Mittelstand in Niedersachsen dient. Die haben das verstanden, Sie nicht. Aber es reicht uns, wenn uns die Menschen verstehen. Sie brauchen es nicht zu begreifen.

(Beifall bei der SPD)

Wir wissen, dass bei allem deutlichen Einsatz für die new economy unsere industriellen Kerne nicht zu vernachlässigen sind. Wir brauchen sie, um unseren Standort für Wissenschaft, Wirtschaft und Forschung attraktiv zu gestalten. Die Vorstellung, man könnte auf die traditionellen Industrien verzichten - das ist eine Debatte, die auch auf manchen Parteitagen immer wieder eine Rolle spielt -, um sich auf Forschung, Entwicklung und Dienstleistungen zu konzentrieren, ist ebenso unsinnig, wie der Glaube, dass allein die new economy die Entwicklung eines Landes neu und vernünftig gestalten kann. Wir brauchen beide Aspekte dieser wirtschaftlichen Tätigkeit, um daraus einen Mix zu machen, der den Wirtschaftsstandort und die wirtschaftliche Schlagkraft Niedersachsens stärkt.

Darauf richten wir unsere Kraft, und nicht auf Reden theoretischen Inhalts, meine sehr verehrten Damen und Herren!

(Beifall bei der SPD)

Deshalb bleibt es dabei: Das Land wird sich nicht von seinen Anteilen von Volkswagen trennen, Frau Kollegin Harms, das Land wird sich nicht von Salzgitter trennen, und das Land wird sich nicht von der NORD/LB trennen. Wir brauchen dies als Instrumente einer strategischen Wirtschaftspolitik. Wer etwas Anderes beschließt, der muss wissen, dass er dann wesentlich mehr Geld zur Verfügung stellen muss, um Wirtschaftspolitik zu machen, Geld, das wir nicht haben. Er handelt dann gegen die Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, und das ist nicht unsere Politik, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD)

Der Ministerpräsident hat vorhin darauf hingewiesen, dass Unternehmen in Niedersachsen wie die Meyer-Werft, die Thyssen-Nordseewerke, aber auch die Biotechnologie in Braunschweig, füge ich hinzu, natürlich die ASL in Lemwerder und die Conti in Hannover wesentliche Bestandteile niedersächsischer Wirtschaftspolitik bleiben. Ich will Ihnen im Übrigen einmal sagen: Diese Unternehmen der old economy - wie sie genannt werden sind prägnante Beispiele dafür, wie es gelungen ist, eine vernünftige Symbiose zwischen old economy, Hightech und new economy einzugehen. Dies sollte als Beispiel unserer Politik bzw. als Anregung für unsere Politik bestehen bleiben. Wir brauchen diese industriellen Kerne als das Rückgrat unserer niedersächsischen Wirtschafts-, Arbeitsmarkt- und Ausbildungspolitik.

Der Erfolg dieser Politik lässt sich an Zahlen ablesen. Anders, als Sie das in Ihrer bunten Statistik dargestellt haben, braucht man einfach nur in die offiziellen Statistiken des Niedersächsischen Landesamts für Statistik hineinzuschauen. Dann stellt man fest, dass die Anzahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Niedersachsen von 1990 bis 1999 um 2,1 % gestiegen ist. Das ist so viel wie in keinem anderen Bundesland der Bundesrepublik Deutschland.

(Beifall bei der SPD)

Die Steigerung drückt sich im Übrigen nicht nur durch diesen Prozentwert, sondern auch bei den absoluten Zahlen aus. 49.000 Arbeitsplätze mehr in

Niedersachsen, 116.000 Arbeitsplätze weniger in Baden-Württemberg, das macht deutlich, wo die Schwerpunkte der richtigen Wirtschaftspolitik in der Bundesrepublik gelegen haben.

(Lebhafter Beifall bei der SPD)

Das Bruttoinlandsprodukt stieg in Niedersachsen von 1990 bis 1998 um 18,7 %. Der Durchschnitt der westdeutschen Flächenländer liegt bei lediglich 14,6 %. Ich sage Ihnen: Ohne die gleichzeitige Zuwanderung von Menschen aus den fünf neuen Bundesländern nach Niedersachsen hätten wir heute eine deutlich geringere Arbeitslosigkeit, als wir sie leider immer noch zu verzeichnen haben.

Das ausgesprochen günstige Wirtschaftsklima in Niedersachsen - das sage ich mit aller Bescheidenheit - hat sicherlich auch etwas damit zu tun, dass die Sozialdemokraten hier eine Wirtschaftspolitik betrieben haben, die jedenfalls von den Unternehmen anerkannt wird. Wenn Sie sich das einmal genau anschauen, dann werden Sie feststellen, wie anregend dies gewirkt hat. Sie selbst haben ja vorhin davon gesprochen, Herr Wulff, dass sich die Innovationsfähigkeit, die Dynamik einer Wirtschaft insbesondere an den Neugründungen zeige. Dazu stelle ich jetzt einfach fest - auch das ist ein statistischer Wert, der nachprüfbar ist -, dass der Saldo bei den Neueintragungen und Löschungen im Handelsregister in Niedersachsen positiv ausfällt. Von 1993 bis 1998 gab es einen Saldo von plus 12,3 %, in Deutschland insgesamt hingegen ein Minus von 5,7 %. Es lohnt sich offenbar, sich in Niedersachsen selbständig zu machen, und die Menschen reagieren darauf, meine sehr verehrten Damen und Herren!

(Lebhafter Beifall bei der SPD)

Der eigentliche Erfolg dieser Politik in den letzten zehn Jahren kann aber erst dann richtig bewertet werden, wenn das finanzpolitische Umfeld der vergangenen Dekade beleuchtet wird. Infolge des Konjunktureinbruchs Anfang der 90er-Jahre verringerten sich die Steuereinnahmen abrupt. Auf der Einnahmeseite hatten wir es mit Ausfällen, Herr Kollege Möllring, in der Größenordnung von bis zu 4 Milliarden DM zu tun; nicht Mehreinnahmen, sondern Ausfälle waren das, meine sehr verehrten Damen und Herrn, die wir zu bewältigen hatten. Aus diesem Grunde mussten mehrere Sparoperationen, Konsolidierungsmaßnahmen, schließlich auch kräftige Streichungen im Landeshaushalt eingeleitet werden.

Für die Finanzierung der deutschen Einheit brachte Niedersachsen im Zeitraum von 1991 bis 1994 rund 3 Milliarden DM auf. Im Jahre 1995 summierte sich der Beitrag für den Aufbau Ost schon auf 4 Milliarden DM. Es war eine jener Lebenslügen des Bundeskanzlers Dr. Kohl, mit der er Wahlen gewonnen hat, dass die deutsche Einheit aus der Portokasse bezahlt werden könne. Dies haben wir heute durch eine enorm hohe Staatsverschuldung allesamt zu bezahlen!

(Lebhafter Beifall bei der SPD)

Zusätzlich zu den finanziellen Restriktionen standen wir in Niedersachsen auch noch vor der großen Aufgabe, rund 540.000 neue Einwohnerinnen und Einwohner zu integrieren, also mehr als eine halbe Million Menschen in Niedersachsen zusätzlich in Arbeit und Brot zu bringen.

Meine Damen und Herren, zur Ehrlichkeit einer solchen Bilanz gehört, dass der Paradigmenwechsel in der Finanzpolitik auch von uns nur sehr mühsam zur Kenntnis genommen wurde. Die Wahlprogramme und -versprechungen von SPD und von Grünen vor der Regierungsübernahme im Jahre 1990 waren alle geschrieben, bevor die dramatischen Veränderungen weltweit und auch in Deutschland deutlich wurden. Manches an Versprechungen war nicht mehr zu finanzieren, einiges musste sogar wieder rückgängig gemacht werden. Das hat wehgetan. Vielen von uns, die wir in der Regierungsverantwortung standen, hat das wehgetan. Was uns aber besonders geärgert hat - das will ich hier deutlich sagen -, war die Tatsache, dass Ihre finanzpolitischen Sprecher hier im Landtag ständig die zu hohe Staatsverschuldung beklagt haben und sich immer dann, wenn wir Dinge nicht mehr bezahlen konnten, draußen an die Spitze der Bewegung derer gestellt haben, die gesagt haben: Kürzungen aber nicht bei uns!

(Starker Beifall bei der SPD)

Seit Mitte der 90er-Jahre stand deshalb die Konsolidierung des Landeshaushalts auf der Tagesordnung. Wir haben uns dieser Aufgabe gestellt. Trotz der schwierigen Rahmenbedingungen lief das im Übrigen erfolgreich ab, und zwar ohne dass wir dabei den Menschen etwas von dem genommen zu haben, was ihnen dabei hilft, nicht unter die Räder zu geraten. Vor allem in der Kinder-, Jugend-, Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik hat Niedersachsen bei dem, was wir vonseiten der Politik bereitgestellt haben, ein hohes Niveau halten kön

nen, und zwar trotz der Einsparungen, zu denen wir uns gezwungen sahen.

Meine Damen und Herren, ich will das, was ich eingangs zu der Notwendigkeit gesagt habe, die Nettokreditaufnahme drastisch zu senken, keinesfalls relativieren, aber die Fachleute und die Öffentlichkeit sind sich darüber einig, dass die niedersächsische Finanzpolitik im Rahmen der objektiven Möglichkeiten, die sie hatte, und der externen Einflüsse, mit denen sie zu kämpfen hatte, überaus erfolgreich war. Wenn Sie mir das nicht glauben, dann empfehle ich Ihnen, eine diesbezügliche Untersuchung des Instituts der Deutschen Wirtschaft zu lesen. Dieses Institut, wahrhaftig und weiß Gott nicht das Zentralorgan der SPD, kommt zu dem Ergebnis: Bei einer Bewertung von Staatsausgaben, Kreditaufnahmen, Schuldenentwicklung und Personalausgaben, dazu in Kontext gestellt die Investitionen, hat Niedersachsen im Konzert aller 16 Bundesländer den Platz 2. - Das ist ein Qualitätsmaßstab, auf den wir zu Recht stolz sein können.

(Lebhafter Beifall bei der SPD)

Eine der dafür zentralen Bedingungen war die Verwaltungsreform in Niedersachsen, die von Gerhard Glogowski eingeleitet wurde. Von 1995 bis 1998 haben wir mehr als 7.000 Stellen abgebaut. Mehr als 5.000 Stellen werden in der laufenden Legislaturperiode hinzukommen. Wir haben es geschafft, diesen Abbau von immerhin rund 13.000 Stellen sozialverträglich und erfolgreich ohne Kündigungen zu organisieren. Das können sich Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten gutschreiben lassen: Wir tragen soziale und personalpolitische Verantwortung gleichzeitig.

(Lebhafter Beifall bei der SPD)

Dieser dramatische Stellenabbau ist der Grund, warum in Niedersachsen die Personalkostenentwicklung deutlich unter der aller anderen westlichen Bundesländer verläuft. Bei den anderen westlichen Bundesländern beträgt die Steigerung immerhin 36,5 %, bei uns nur 28,9 %.

Meine Damen und Herren, ich könnte die Aufzählung beliebig fortsetzen. Es ist eine Erfolgsbilanz sozialdemokratischer Landespolitik, und ich bin mir sicher, dass wir diese Erfolgsbilanz in den nächsten Jahren fortsetzen werden.

(Beifall bei der SPD)

Sigmar Gabriel hat in seiner Rede die große Herausforderung dargestellt, die in der weiteren Entwicklung Europas für Niedersachsen liegt. Herr Kollege Wulff, Sie haben das zu Beginn Ihrer Rede verhöhnt. Ich kann Ihnen nur sagen: Jemand, der als Landespolitiker bis heute nicht begriffen hat, wo die Musik zurzeit und wahrscheinlich auch noch in den nächsten Jahrzehnten spielt, dass Politik nur noch im Kontext der Interessenlagen zwischen Landespolitik, kommunaler Politik, Bundespolitik und europäischer Politik zu gestalten ist, der hat seinen Anspruch aufgegeben, realitätsnahe Politik zu betreiben.

(Lebhafter Beifall bei der SPD - Zuruf von Wulff (Osnabrück) [CDU])

- Herr Kollege Wulff, wir müssen unser Bewusstsein dafür schärfen, dass sich Niedersachsen noch mehr zu einer europäischen Region entwickelt.

Das Einzigartige an Europa ist seine enorme Vielfalt spezifischer regionaler Eigenheiten und individueller natürlicher, kultureller, sozialer und wirtschaftlicher Entwicklungen auf engstem Raum.

Meine Damen und Herren, lassen Sie uns einen Fehler nicht machen: Wir verwenden den Begriff „Region“ in Bezug auf die Landesebene natürlich auf einzelne Landesteile. Europäische Regionen sehen anders aus. Europäische Regionen sind etwa das Land Niedersachsen, sind aber auch länderübergreifende Bereiche. Die Zusammenarbeit mit den Niederlanden, die Zusammenarbeit mit den norddeutschen Bundesländern, aber auch die Zusammenarbeit mit Brüssel und europäischen Institutionen wie etwa dem Rat der Regionen, dies ist es, was uns in Zukunft in den Stand versetzen wird, noch Landespolitik gestalten zu können. Deshalb muss Europapolitik in das Zentrum der Landespolitik gerückt werden.

(Beifall bei der SPD)

Wir sehen dabei im Übrigen in der Individualität der Regionen Europas eine entsprechende Vielfalt der Entwicklungspotentiale, die in einem Netzwerk der Regionen allen Kooperationspartnern zugute kommt. Wir wollen Regionalität, aber wir wollen eben auch Zusammenarbeit. Um diese Potentiale ausschöpfen zu können, müssen wir verstärkt Initiativen zur Stärkung der Europakompetenz der Landesverwaltung ergreifen. Ich meine, es muss in Zukunft ein karriereförderndes Merkmal sein, wenn man Erfahrungen in europäischen Institutionen nachweisen kann, und nicht ein Nachteil.

(Beifall bei der SPD)

Aber wir wollen auch ein handlungsfähiges und in seinen Regionen bürgernahes und positiv erlebbares Europa, in dem die Kompetenzen der staatlichen Ebenen klar abgegrenzt und vor allen Dingen parlamentarisch kontrolliert werden. Ich sage das ganz deutlich: Die Verlagerung von immer mehr Kompetenzen von den Gemeinden auf die Länder, von den Ländern auf den Bund und von den Nationalstaaten auf die europäische Ebene hat nichts mit Bürgernähe, sondern eher etwas mit Bürgerferne zu tun. Das wollen wir nicht. Wir wollen eine Nähe herstellen, die den Bürgerinnen und Bürgern das Gefühl gibt, dass sie in Europa und von Europa ernst genommen werden und dass die Verantwortung dort angesiedelt wird, wo die Kenntnis der Sachlage auch eine sachgerechte Entscheidung ermöglicht.

(Zustimmung von Groth [SPD])

Um es ganz deutlich zu sagen, meine sehr verehrten Damen und Herren: Für mich wäre es eine Horrorvision, wenn ein Europabeamter in die Region hineinfährt, um darüber zu entscheiden, ob eine Feldhamsterkolonie den Bau eines Hochschulinstituts behindern darf oder nicht. Das hat mit Europa nichts zu tun. Das ist regionale Kompetenz, der wir uns zu stellen haben.

(Beifall bei der SPD)

Gerade als Netzwerk kleiner individueller und kooperativer Einheiten kann Europa im Kontext der Globalisierung erfolgreich auftreten, weil wir eben schneller entscheiden und flexibler reagieren als ein schwerfälliger Riese. Dies, meine sehr verehrten Damen und Herren, wird nur gelingen, wenn wir kooperieren und wenn wir unsere Kompetenzen gegeneinander abgrenzen. Was wir nicht gebrauchen können, ist ein bundesstaatlicher Nationalismus á la Stoiber. Das wäre das Letzte, was wir in dieser Debatte gebrauchen könnten.