Protokoll der Sitzung vom 21.06.2000

Gerade als Netzwerk kleiner individueller und kooperativer Einheiten kann Europa im Kontext der Globalisierung erfolgreich auftreten, weil wir eben schneller entscheiden und flexibler reagieren als ein schwerfälliger Riese. Dies, meine sehr verehrten Damen und Herren, wird nur gelingen, wenn wir kooperieren und wenn wir unsere Kompetenzen gegeneinander abgrenzen. Was wir nicht gebrauchen können, ist ein bundesstaatlicher Nationalismus á la Stoiber. Das wäre das Letzte, was wir in dieser Debatte gebrauchen könnten.

(Beifall bei der SPD)

Es wird einen lebendigen Wettbewerb der Regionen in Europa geben. Er wird geprägt sein von harter Konkurrenz, er wird aber auch geprägt sein von Chancen, die man damit erhält. Was wir machen müssen, ist, dafür zu sorgen, dass die europäischen Regionen der Bundesrepublik Deutschland mit fairen Voraussetzungen in diesen Wettbewerb hineingehen. Wenn Bayern, das jahrzehntelang vom Länderfinanzausgleich profitiert hat,

kaum, dass es vom Nehmerland zum Geberland mutiert ist, nach Karlsruhe geht und dagegen klagt, dann halte ich das für unanständig, meine sehr verehrten Damen und Herren!

(Beifall bei der SPD - Möllring [CDU]: Die sind aber schon lange raus!)

Ich sage in diesem Zusammenhang auch: Wer etwa die Wettbewerbshilfen für die deutschen Werften, Herr Kollege Möllring, als eine unzulässige Bevorteilung des norddeutschen Raums diffamiert, wie es Bayern tut, der vergisst, dass ein großer Teil der Wertschöpfung, der damit organisiert wird, in den süddeutschen Bundesländern stattfindet, also ein gesamtdeutsches Problem ist.

(Beifall bei der SPD)

Unser Leitbild bleibt das Europa der Regionen. Das heißt aber auch, dass wir allen Ansätzen von Nationalismus und Rassismus entschlossen entgegentreten werden. Wer, wie die Union seit ihrer ausländerfeindlichen Kampagne in Hessen, glaubt, er könne damit Punkte machen,

(Möllring [CDU]: Bei uns haben auch Sozialdemokraten unterschrieben! - Gegenruf von Beckmann [SPD]: Das macht die Sache nicht besser, Herr Möllring! Das ist eher traurig!)

der wird, Herr Kollege, den entschiedenen Widerstand der Sozialdemokraten dazu vorfinden. Diese Art von populistischer Politik machen wir nicht mit, meine sehr verehrten Damen und Herren!

(Beifall bei der SPD)

Wer sieht, wie in Nordrhein-Westfalen mit dem ungeheuerlichen Spruch „Kinder statt Inder“ unter Duldung der CDU-Spitzenpolitiker Merkel und Wulff Politik gemacht wird, der weiß, worum es hier geht. Wir müssen dem entschlossen entgegentreten.

(Beifall bei der SPD)

Die Lufthoheit über den Stammtischen mag ein interessanter Aspekt sein, aber Angst und Ressentiments bei den Bürgern zu wecken, hat noch nie dazu geführt, dass Institutionen wie die europäische Institution von den Menschen auch akzeptiert werden.

Natürlich kann man mit Themen wie Kompetenzabgrenzung und föderaler Ordnung keinen emotionalen Wahlkampf führen. Aber schon heute sind seltsame, sehr bemerkenswerte Töne in den Reden führender Oppositionspolitiker, insbesondere der CDU und CSU, zu hören, die im Zusammenhang mit der geplanten Osterweiterung und der Aufnahme der Türkei in die Europäische Union geäußert werden.

(Coenen [CDU]: Davon verstehen Sie doch gar nichts!)

- Ich gebe Ihnen völlig Recht: Von derartig nationalistischen Thesen verstehe ich nichts, und ich bin stolz darauf, dass ich davon nichts verstehe.

(Beifall bei der SPD)

Sie, meine Damen und Herren von der Union, wollen damit vergessen machen, dass die laufende Regierungskonferenz nur ein begrenztes Mandat erhalten hat. Sie hat das nur deshalb erhalten, weil die konservative Regierung von Helmut Kohl mit ihren Vorstellungen in Amsterdam gescheitert war.

(Möllring [CDU]: Seit wann das denn?)

- Herr Kollege, die Überfrachtung der europäischen Institutionen mit einer Vielzahl von Detailzuständigkeiten ist - denken Sie bitte daran - nicht von Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten beschlossen worden, sondern ist von CDU/CSU und FDP im Bundestag getragen worden.

(Beifall bei der SPD - Wulff (Osna- brück) [CDU]: Wo haben Sie sich verweigert? - Eveslage [CDU]: Wo haben Sie dagegen gestimmt? Haben Sie gegen den Vertrag von Amsterdam gestimmt?)

- Sehen Sie, Herr Kollege Wulff, der Unterschied zwischen Ihnen und mir ist der, dass ich mich nicht hinterher hier hinstelle und sage, es seien die anderen gewesen, die Sozialdemokraten. Ich sage Ihnen: Zu der Entscheidung, die getroffen wurde, stehen wir auch.

(Eveslage [CDU]: Die ist im Bundes- tag beschlossen worden!)

Aber wir wollen das im Gegensatz zu Ihnen verändern. Wir wollen Konzepte dazu erarbeiten, die das konkret verändern, und nicht nur Reden halten, wie

Sie es tun, die Sie letztendlich auf der Grundlage von Ressentiments Politik machen.

(Beifall bei der SPD - Wulff (Osna- brück [CDU]: Wer hat Ihnen das denn aufgeschrieben?)

Wenn man hört, Herr Wulff,

(Eveslage [CDU]: Keine Ahnung!)

wie sich z. B. einige Ihrer Kolleginnen und Kollegen dazu äußern, was nun mit dieser FFHRichtlinie ist, wie schwierig und bürokratisch das sei und welche Einschränkungen damit verbunden seien, dann erzählen Sie denen doch einmal, dass Helmut Kohl den Vertrag unterschrieben hat, damit die wissen, dass es ihre eigene Politik ist, vor der sie da stehen.

(Beifall bei der SPD - Wulff (Osna- brück) [CDU]: Haben Sie gelesen, was Herr Gabriel dazu gesagt hat? „Der letzte Schwachsinn“ hat er dazu gesagt!)

Die Diskussion um eine europäische Neuordnung wird politisch auch deshalb reizvoll sein, weil sie zeigen wird, wie glaubwürdig eigentlich die Kritik der unionsgeführten Bundesländer an der Wettbewerbspolitik der Europäischen Kommission ist. Auf der einen Seite fordern gerade BadenWürttemberg, Bayern und Hessen im Rahmen des Länderfinanzausgleichs den Wettbewerbsföderalismus und ständig mehr Wettbewerb. Marktorientierung wird ja gerade von konservativen und liberalen Politikern als Modell für alle gesellschaftlichen Bereiche und alle Politikfelder angepriesen. Allerdings merken die Anhänger der reinen Lehre nunmehr, dass dieses Wettbewerbsrecht dann zur Zerschlagung gewachsener Strukturen führt, wenn es wirklich einmal als alleiniger Maßstab für die Entscheidungen des Staates angewendet wird.

Meine Damen und Herren, ich darf Sie daran erinnern, dass der Staat eine demokratisch verfasste Gesellschaft ist. Wir können und wollen es uns nicht leisten, dass Menschen, die nicht mehr gebraucht werden, aussortiert werden, wie Arbeitslose, und Regionen, die nicht leistungsfähig sind, abgeschrieben werden. Wir wollen uns zu der Gesamtverantwortung des Staates für diese Entwicklung bekennen und wollen auch entsprechende Maßnahmen ergreifen.

(Beifall bei der SPD - Zuruf von der CDU: Wann?)

Wer hier den Markt als alleinigen Regulator organisieren möchte, der wird sich wundern, zu welchen Verwerfungen innerhalb der Bundesrepublik Deutschland dies innerhalb kürzester Frist führen würde. Es wird aber nicht dazu kommen, weil sich Sozialdemokraten dagegen stemmen werden.

Meine Damen und Herren, natürlich bin ich mir darüber im Klaren, dass der Föderalismus deutscher Prägung kaum eine Entsprechung in anderen Ländern hat, und viele unserer Probleme, die wir vortragen, werden in der Tat von den anderen europäischen Nachbarn nicht als solche erkannt und angesehen.

Aber in diesem Zusammenhang möchte ich darauf hinweisen dürfen, dass in Niedersachsen 8 Millionen Menschen leben. Dies sind wesentlich mehr Menschen als in manch einem europäischen Staat. Deswegen haben wir einen Anspruch darauf, dass unsere Stimme in Europa wahrgenommen wird, und wir werden dieses Ziel auch kraftvoll verfolgen, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD - Zurufe von der CDU)

Ein prägendes Merkmal unseres Bundeslandes ist seine sehr unterschiedliche Siedlungsdichte. Dem Ballungsraum Hannover mit seinen mehr als 1 Million Einwohnern, den großen Städten wie Braunschweig, Göttingen, Oldenburg und Osnabrück stehen dörfliche und ländliche Räume gegenüber. Ziel unserer Politik ist es, die jeweiligen Nachteile dieser Siedlungsstrukturen durch eine gezielte Stärkung ihrer jeweiligen Vorteile zu kompensieren. Dabei werden wir uns die Möglichkeiten der neuen Informationstechnologien nutzbar machen. Wir wollen durch Vernetzung weltweit, wo auch immer, angesiedelter Informations-, Produktions- und Vermarktungszentren die Verbindung des ländlichen Raumes mit der urbanen Welt verbessern und wollen dadurch dazu beitragen, dass insbesondere auch im ländlichen Bereich neue Arbeitsplätze entstehen, die zu einer Verbesserung der wirtschaftlichen Situation beitragen.

(Ehlen [CDU]: Vergesst die Bauern nicht!)

- Genau. Herr Ehlen, auch sie werden in Zukunft Informationen aus dem Internet erhalten, Informationen, die sie brauchen, um wettbewerbsfähiger zu

sein in einem Europa, in dem der Markt in der Tat mehr bestimmen wird, als sie bisher gedacht haben.

In Zukunft wird es neben Telematikdiensten, also überwiegend Teilzeitarbeitsplätzen im Telefonservice der Call Center, mehr und mehr echte Telearbeit geben. Es wird darum gehen, dass Vollarbeitsplätze von den Unternehmen ausgelagert werden. Bei modernen vernetzten Arbeitsplätzen kommt es weniger auf die räumliche Nähe an, sondern vielmehr auf die Fähigkeit, mit den weltweiten Kommunikationsnetzen umzugehen.

Meine Damen und Herren, N 21, die Initiative der Landesregierung, wird einen wichtigen Beitrag dazu leisten, den jungen Menschen in unserem Lande nicht nur die Fähigkeiten im Umgang mit den neuen Technologien zu vermitteln. Sie wird auch zusammen mit den Schulen und den Ausbildungsbetrieben zu einem sozialverträglichen Umgang mit den Technologien beitragen, und sie wird die soziale Kompetenz der Menschen stärken, die diese Technologien einsetzen. Diese Entwicklung wird nicht nur die Großunternehmen betreffen, sondern sie wird immer mehr gerade auch die kleinen und mittleren Betrieben erfassen. Deshalb gibt es die E-Commerce-Initiative, und wir werden diese E-Commerce-Initiative um ihre Entsprechung, das E-Government, erweitern.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir werden die Politik, die wir gemacht haben und die wir machen, zu jeder Zeit auf den Prüfstand stellen. Wir haben dazu als Fraktion einen, wenn Sie so wollen, Landes-TÜV gegründet, der prüfen wird, wo etwas fehlt, aber auch kontrollieren wird, ob die Umsetzungen in der Praxis Erfolg bringen. Dieser wird auch neue Anregungen erbringen. Politikerinnen und Politiker, die zugeben, dass sie nicht alles wissen, vor allen Dingen auch zugeben, dass sie nicht alles besser wissen, sind keine schwachen, sondern starke Politiker, und zu denen zählen wir uns, meine sehr verehrten Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD - Zurufe von der CDU)

Wir werden mit klaren Perspektiven nach vorn gehen. Wir werden die Menschen überzeugen und werden sie nicht mit dumpfer Rhetorik in Zukunftsängste stürzen. Ich lade die Opposition ein, sich an diesem Wettstreit zu beteiligen. Eines sage ich auch ganz deutlich: Wer gute Arbeit geleistet

hat, der hat auch ein Recht darauf, diese Arbeit zu feiern. Deswegen war der - wenn Sie so wollen Überschriftenwald insbesondere der „Bild“Zeitung richtig. Sie hat klassifiziert: „Die einen meckern, die andern feiern.“ Wir wollen unsere Erfolge feiern, ohne dabei zu vergessen, dass wir noch wichtige Aufgaben vor uns haben.

(Starker, lang anhaltender Beifall bei der SPD)

Das Wort hat jetzt die Frau Kollegin Harms.