Protokoll der Sitzung vom 21.06.2000

(Beifall bei den GRÜNEN)

Herr Ministerpräsident, Sie wollten heute einen großen Sprung nach vorne machen. Ihr Vorgänger Glogowski war angetreten, Niedersachsen niedersächsischer zu machen. Sie wollen nach Europa. Das ist ein gutes Ziel. Aber wie sieht die Wirklichkeit im zehnten Jahr nach dem Ende der AlbrechtÄra aus? Das ist nicht allein Ihre Verantwortung, aber machen wir uns das einmal klar.

Wir erinnern uns sehr gut an den Wechsel von 1990, an diesen Aufbruch von Rot-Grün. Für mich sind das gar nicht die einzelnen Projekte, die man damals in Angriff genommen hat, sondern der Aufbruch macht sich, wenn man Symbole für dieses Gefühl damals nennen will, an so etwas fest wie, dass die Berufsverbote gekippt worden sind, dass man das Polizeigesetz liberalisiert hat, dass Frauen in der Politik tatsächlich endlich eine andere Rolle gespielt haben, als man das von der Ministerpräsidenten-Gattin Albrecht gewohnt war. Das Befreiende war doch eigentlich die Veränderung des gesamten politischen Klimas, als so etwas wie der herrschaftliche Mief, der sich da in der Albrecht-Ära breit gemacht hatte, ausgelüftet worden ist. Mit diesem Mief verschwand dann ja auch ein großer Teil dieses Bierdunstes der Stammtische von Wilfried Hasselmann, die Gott sei Dank in der CDU nicht mehr eine so große Rolle spielen.

(Zurufe von der CDU)

Aber was ist heute? - Heute hat sich doch wieder ein gewisser Mief eingestellt. Die GlogowskiAffäre spielte im kleineren Karree, verglichen mit der Spielbank oder dem Celler Loch. Aber dieses ungesunde Verhältnis zur eigenen Macht ist dasselbe, was schon die Albrecht-Ära am Ende unerträglich gemacht hat.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Parteienstaat oder Bürgergesellschaft? - Sie, Herr Ministerpräsident, haben sich ja in Ihren Reden zu Beginn Ihrer Amtszeit eindeutig zur Bürgergesellschaft bekannt. Aber wo ist denn jetzt eigentlich der Beleg dafür, dass hier zuerst das Land und dann die Partei kommt? Wo sind die Beispiele dafür, dass wichtige Funktionen nicht nach Parteibuch, sondern nach Eignung besetzt werden? Wo binden Sie denn, wie so oft versprochen, die Weisheit der Unabhängigen ein, außer in Podien, die am Ende mehr Selbstdarstellung und Frontalunterricht sind als Diskurse? Wo findet die Zusammenarbeit mit der Opposition statt, wo der Dialog mit der Bevölkerung? Daran, dass sich Parteien im Zuge einer langen Alleinregierung ein Land fast zwangsläufig unter den Nagel reißen, scheint man sich offensichtlich gewöhnen zu müssen. Ich finde, man sollte trotzdem versuchen - auch Sie sollten das versuchen -, die eigenen Ankündigungen in diesem Zusammenhang wahr zu machen.

Herr Gabriel, als junger Wilder in der SPDFraktion haben Sie ja Hoffnungen verbreitet. Ihre Stichworte waren „Kabinettsreform“ - kommt ja wohl noch -, „Parlamentsreform“, „Verwaltungsreform“. Sogar mit Vorschlägen für die Reform Ihrer eigenen Partei haben Sie es immer wieder verstanden, klug, gekonnt anzuecken. Mit Ihrer heutigen Rede wollten Sie uns vormachen, dass Sie jetzt in Europa angekommen sind. Mit Ihrer praktischen Politik sind Sie aber, gemessen an Ihren eigenen Ansprüchen, an den Ansprüchen an gewagte Politik, irgendwo zwischen Goslar und den HarzGrenzen hängen geblieben.

(Starker Beifall bei den GRÜNEN)

Meine sehr geehrten Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Ich schließe damit die Besprechung und zugleich auch den Tagesordnungspunkt 18.

Wir kommen zurück zum

Tagesordnungspunkt 17: Dringliche Anfragen

Ursprünglich lagen drei Dringliche Anfragen vor. Ihnen ist inzwischen wohl schon mitgeteilt worden, dass eine Dringliche Anfrage, nämlich die Dringliche Anfrage der CDU-Fraktion in der Drucksache 1701, „10 Jahre SPD-Landesregierung: Gebrochene Wahlversprechen, Skandale, Verfassungsbrüche und Fehlentscheidungen“, zurückgezogen worden ist, was ja auch mit der Debatte zu tun hat, die wir eben geführt haben. Demzufolge liegen noch zwei Dringliche Anfragen vor, nämlich eine Dringliche Anfrage der Fraktion der SPD und eine Dringliche Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Wir kommen zu der Dringlichen Anfrage unter Punkt 17 b):

b) Allianz von örtlichem Sozialhilfeträger, Berufsbetreuerin, Vormundschaftsgericht und Pflegekasse im Landkreis Uelzen zur Abschiebung einer 100-jährigen Frau ins Pflegeheim - Anfrage der Fraktion der SPD Drs. 14/1702

Herr Kollege Voigtländer bringt sie ein. Bitte schön!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der allein stehenden 100-jährigen Elsbeth D. aus Bad Bevensen wurde seitens ihrer Pflegekasse die Pflegestufe I zuerkannt. Aufgestockt wurden die Leistungen der Pflegeversicherung bislang vom örtlichen Sozialhilfeträger bis auf einen Betrag von 2.500 DM. Das Oberverwaltungsgericht Lüneburg entschied jedoch, dass ein Sozialamt Leistungen der Pflegeversicherung nicht aufstocken muss, wenn Pflegesachleistungen der Pflegeversicherung aufgrund der zuerkannten Pflegestufe bis zu einem festen Gesamtwert erbracht werden. Der örtlichen Sozialhilfeträger nutzte dieses Urteil des OVG Lüneburg, um die Sozialhilfeansprüche von Frau D. zu verkürzen. Auf Anraten des Sozialamtes erwirkte die vom Vormundschaftsgericht bestellte Berufsbetreuerin von Frau D. die Ausweitung der Betreuung auf das Aufenthaltsbestimmungsrecht.

Nach Erwirkung eines entsprechenden Beschlusses stellten der örtliche Sozialhilfeträger und die

Betreuerin Frau D. vor vollendete Tatsachen: Frau D. wurde gegen ihren erklärten Willen und gegen den Rat ihres Hausarztes, der Frau D. für nicht heimbedürftig hält, in ein Altenpflegeheim eingewiesen. Auf diese Weise spart der örtliche Sozialhilfeträger auf Kosten der Pflegeversicherung und des überörtlichen Sozialhilfeträgers jährlich wenige tausend DM ein.

Vor diesem Hintergrund frage ich die Landesregierung:

1. Wie verträgt sich der geschilderte Fall mit dem Ziel des Pflegeversicherungsgesetzes, Pflegebedürftigen so lange wie möglich ein menschenwürdiges Leben im vertrauten Wohnumfeld zu sichern, das im § 3 SGB XI auch rechtlich normiert ist?

2. Auf welche Rechtsnormen kann sich ein Vormundschaftsgericht stützen, wenn es das Aufenthaltsbestimmungsrecht einer an sich schon wenig betreuungsbedürftigen Person auf eine Berufsbetreuerin überträgt, bzw. wie verträgt sich eine solche Entscheidung mit dem Ziel des Betreuungsgesetzes, die Betreuung nur auf Lebensumstände auszudehnen, in denen Betreuung nötig ist?

3. Hat die Pflegekasse im vorliegenden Fall geprüft, ob gemäß § 43 Abs. 1 SGB XI überhaupt Anspruch auf stationäre Pflege besteht oder ob nicht vielmehr häusliche oder teilstationäre Pflege möglich wäre?

Vielen Dank, Herr Kollege. – Die Antwort der Landesregierung wird durch Frau Ministerin Merk erteilt.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Sachverhalt, der dieser Dringlichen Anfrage zugrunde liegt, kann alle nur erschüttern.

(Beifall bei der SPD)

Es ist eigentlich kaum noch darstellbar, dass eine Gesellschaft, die eine Frau immerhin bis zu ihrem 100. Jahr durchs Leben getragen hat, sie ausgerechnet in der höchsten aller Altersstufen in die schlimmste Situation bringt, in die man kommen kann, nämlich 100 Jahre alt zu sein, allein zu stehen und dann aus der eigenen Wohnung in eine Einrichtung umziehen zu müssen – nur um einige

wenige Mark zu sparen. Das hat mit Humanität in einer sozialen Gesellschaft nichts, aber auch gar nichts zu tun.

(Beifall bei der SPD)

Ich möchte aber gern – damit das Ganze trotzdem seine Nüchternheit behält, die der Fall rechtlich in jedem Fall hat – noch einige Punkte zu dem Sachverhalt ergänzen.

Frau D. wird von einem Betreuungsverein gemäß Betreuungsgesetz betreut. Die für Frau D. zuständige Betreuerin ist Mitarbeiterin des Vereins. Auslöser des Verfahrens war die Ankündigung des Sozialamtes des Landkreises Uelzen, dass man im Hinblick auf die Entscheidung des OVG Lüneburg die Gewährung von Sozialhilfe zur Aufstockung der Pflegeleistungen der Pflegekassen einstellen werde.

Gegen diesen Bescheid legte die Betreuerin Rechtsmittel ein. In der Zwischenzeit musste jedoch geklärt werden, wie die Versorgung von Frau D. sichergestellt werden konnte, als der Landkreis Uelzen seine Zahlungen einstellte. Diese Entwicklung hat dazu geführt, auf Antrag der Betreuerin ihr auch das Aufenthaltsbestimmungsrecht zu übertragen. Diesem Antrag hat das Vormundschaftsgericht bekanntlich stattgegeben.

Zuvor war ein medizinisches Gutachten eingeholt worden, wonach aufgrund des Gesundheitszustandes von Frau D. nach deren Auffassung eine Heimunterbringung erforderlich war. Der Hausarzt von Frau D. vertrat allerdings eine andere Auffassung.

Aufgrund der sehr verfahrenen Situation beabsichtigt nun der Bürgermeister der Stadt Bad Bevensen, noch in dieser Woche ein Gespräch mit allen Beteiligten, insbesondere dem begutachtenden Arzt und dem Hausarzt, zustande zu bringen, um abzuklären, wie der Gesundheitszustand und Hilfebedarf von Frau D. zu beurteilen sind und welche Schritte gegebenenfalls erforderlich sind, um eine entsprechende fachgerechte Hilfe zu gewähren.

Ich appelliere an den Landkreis Uelzen, dass er seine Ankündigung wahr macht, aufgrund einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, mit der die Entscheidung des OVG Lüneburg aufgehoben worden ist, im vorliegenden Fall im Zug des Widerspruchverfahrens neu und im Sinne von Frau D. zu entscheiden - und zwar so schnell wie möglich.

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, ich bin froh, dass nun der Versuch unternommen wird - wenngleich ich meine, viel zu spät -, pragmatische Lösungen zu finden, die in erster Linie der alten Dame zugute kommen.

(Im Plenarsaal ist ein Handy zu hören)

Entschuldigung, Frau Ministerin. – Meine Damen und Herren, ich bitte Sie ernsthaft darum, Ihre Handys abzustellen. Es ist unerträglich. Wenn jeder sein Handy mitbrächte, könnten wir die Plenarsitzung einstellen. – Bitte sehr, Frau Ministerin!

Ich bedaure, dass diese Überlegungen nicht schon von Anfang an in diesem Fall Platz gegriffen haben.

Lassen Sie mich hinzufügen, meine Damen und Herren: Ich hoffe, dass dieser abschreckende Fall so weit abschreckt, dass es keine weiteren solchen Fälle in unserem Land mehr geben kann.

(Beifall bei der SPD)

Ich meine, es muss uns darum gehen – das ist die Position der Landesregierung, und ich weiß mich einig mit dem gesamten Parlament; das ist die klassische Position, die wir uns seit Jahren erarbeitet haben -, dass jede Frau und jeder Mann im Alter so weit, wie es möglich ist, und so lange, wie es geht, in der eigenen Wohnung leben kann, dort betreut wir und nur dann, wenn es überhaupt nicht mehr geht, aus diesen Gründen die Wohnung verlassen muss.

Aber wenn man wegen einiger weniger Mark, die man spart, die Humanität aufgibt, ist das keine Größe, die unseren Staat auszeichnet.

Dies vorausgeschickt, antworte ich wie folgt:

Zu den Fragen 1 und 3: Der Fall von Frau D. verträgt sich nur dann mit dem Ziel des Pflegeversicherungsgesetzes, wenn stationäre Pflege auch tatsächlich erforderlich ist. Dies hat der Medizinische Dienst nach Maßgabe der für ihn verbindlichen Pflegebedürftigkeitsrichtlinien im Rahmen seiner Begutachtung zur Feststellung der Pflegebe

dürftigkeit zu prüfen und in seiner Stellungnahme gegenüber der Pflegekasse nachvollziehbar festzustellen.

Die Erforderlichkeit von vollstationärer Pflege ist allerdings nur dann zu prüfen und zu begründen, wenn ein Antrag auf vollstationäre Pflegeleistungen gestellt wurde und Pflegebedürftigkeit im Sinne des SGB XI vorliegt. Letzteres ist der Fall. Danach erhält Frau D. Pflegesachleistungen für häusliche Pflegehilfe in Höhe von 750 DM monatlich für die erste Pflegestufe.

Ein zwischenzeitlich gestellter Antrag auf Leistungen der Pflegestufe II wurde nach Begutachtung durch den Medizinischen Dienst am 20. Januar 2000 wegen dafür nicht hinreichender Pflegebedürftigkeit abgelehnt. Ein daraufhin erfolgtes Widerspruchsverfahren wurde aufgrund einer fehlenden und auch nach ausdrücklicher Aufforderung der Pflegekasse an die Betreuerin von dort nicht beigebrachten Begründung des Widerspruchs eingestellt. Ein Antrag auf vollstationäre Pflegeleistungen nach § 43 SGB XI liegt der Pflegekasse bislang nicht vor.

Frau D. erhält bis einschließlich 21. Juni Leistungen der Kurzzeitpflege nach § 42 SGB XI. Diese Leistung wurde seitens der Pflegekassen auf Antrag der Betreuerin von Frau D. gewährt. Sie ist nur zu gewähren, wenn die häusliche Pflege vorübergehend nicht sichergestellt ist, und ist auf vier Wochen im Kalenderjahr beschränkt. Die Pflegekasse geht daher grundsätzlich von einer Rückkehr von Frau D. in die eigene Häuslichkeit bei fortgeltendem Anspruch auf häusliche Pflegehilfe entsprechend Pflegestufe I aus.

Sollte die häusliche Pflege der Frau D. auch weiterhin nur vorübergehend nicht gesichert werden können, könnten auf Antrag Leistungen der – bitte wundern Sie sich nicht über das schreckliche Wort – Verhinderungspflege nach § 39 SGB XI für erneut maximal vier Wochen gewährt werden. Das ist leider die Gesetzessprache. Frau D. könnte dabei in der Einrichtung bleiben, in der sie sich zurzeit noch befindet.