Protokoll der Sitzung vom 24.01.2001

Meine Damen und Herren, ich eröffne die 67. Sitzung im 28. Tagungsabschnitt des Niedersächsischen Landtages der 14. Wahlperiode und stelle gleich zu Beginn die Beschlussfähigkeit fest.

Die Einladung und die Tagesordnung für diesen Tagungsabschnitt liegen Ihnen gedruckt vor. Der Herr Ministerpräsident hat Ihnen mitgeteilt, dass er beabsichtigt, vor Beginn der Aktuellen Stunde eine Regierungserklärung zu dem Thema „Neuausrichtung des Verbraucherschutzes und der Agrarpolitik in Niedersachsen" abzugeben. Für die anschließende Besprechung sind folgende Redezeiten vorgesehen: SPD und CDU jeweils bis zu 50 Minuten, Bündnis 90/Die Grünen bis zu 25 Minuten.

Im Hinblick auf die Regierungserklärung haben sich die Fraktionen darauf verständigt, die Tagesordnung umzustellen. Ein Ausdruck, aus dem diese neue Reihenfolge ersichtlich ist, ist an Sie verteilt worden. Außerdem sind die Fraktionen übereingekommen, den Tagesordnungspunkt 20 - Rechnung des Niedersächsischen Landesrechnungshofs – Einzelplan 14, Kapitel 14 01 - für das Haushaltsjahr 1998 - erneut an den Ausschuss zu überweisen. Dieser Punkt ist daher in der geänderten Tagesordnung nicht mehr aufgeführt. - Ich höre keinen Widerspruch.

Für die Aktuelle Stunde, die nunmehr morgen nach der Behandlung der Dringlichen Anfragen stattfinden soll, liegen drei Beratungsgegenstände vor.

Außerdem liegen zwei Dringliche Anfragen vor, die morgen früh ab 9 Uhr, gleich zu Beginn der Sitzung, beantwortet werden.

Im Ältestenrat sind für die Beratung einzelner Punkte bestimmte Redezeiten gemäß § 71 unserer Geschäftsordnung vereinbart worden. Diese pauschalen Redezeiten sind den Fraktionen und den Abgeordneten bekannt. Sie werden nach dem im Ältestenrat vereinbarten Verteilerschlüssel aufgeteilt. Ich gehe davon aus, dass die vom Ältestenrat vorgeschlagenen Regelungen für die Beratungen verbindlich sind und darüber nicht jeweils abgestimmt werden muss. - Ich stelle fest, dass das einvernehmlich so gesehen wird.

Die heutige Sitzung soll gegen 19.20 Uhr enden.

Ich möchte noch auf zwei Veranstaltungen hinweisen: Anlässlich des Gedenktages für die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar zeigt die Niedersächsische Landeszentrale für politische Bildung/Gedenkstätte Bergen-Belsen in der Portikushalle eine Ausstellung mit Werken der Künstlerin Sara Atzmon „Weitere Bilder vom Hofe des Satans". In der Wandelhalle ist die von der Buxtehuder Farbdesignerin Ute Vorndamme in Form von besonderen Farbpsychogrammen konzipierte Ausstellung „Wie bunt sind in Niedersachsen die Politikerinnen?“ zu sehen. Ich empfehle beide Ausstellungen Ihrer Aufmerksamkeit.

An die rechtzeitige Rückgabe der Reden an den Stenografischen Dienst - bis spätestens morgen Mittag 12 Uhr - wird erinnert.

Es folgen geschäftliche Mitteilungen durch die Schriftführerin.

Es haben sich entschuldigt: von der Landesregierung Herr Finanzminister Aller ab 15 Uhr und Herr Minister für Bundes- und Europaangelegenheiten Senff ab 12 Uhr, von der Fraktion der SPD Herr Collmann und Herr Endlein und von der Fraktion der CDU Herr Meier und Frau Trost.

Meine Damen und Herren, wir kommen damit zur Abgabe einer Regierungserklärung, die den Titel trägt:

Zusätzlicher Tagesordnungspunkt: Neuausrichtung des Verbraucherschutzes und der Agrarpolitik in Niedersachsen Regierungserklärung - Drs. 14/2168

Zunächst gibt der Herr Ministerpräsident die Regierungserklärung ab. Ich erteile ihm das Wort.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am 21. November 2000, drei Tage, bevor in Deutschland der erste BSE-Fall in Schleswig Holstein aufgetaucht war, hatte das niedersächsische Kabinett Vorsorgemaßnahmen für mögliche BSE-Fälle beschlossen. Unter anderem zielten die Beschlüsse auf BSE-Schnelltests für Rinder über 30 Monaten und auf eine Verschärfung des Fütterungsverbots

von Tiermehl ab. Zu diesem Zeitpunkt lebten die meisten von uns in und mit der Illusion einer BSE-freien Bundesrepublik.

Nur drei Tage später platzte diese Illusion bundesweit. Mit dem Auftreten des ersten BSE-Falles in Schleswig-Holstein sind über Jahrzehnte gewachsene Strukturen der Landwirtschaft, der Ernährungs- und Futtermittelindustrie in der Bundesrepublik sowie auch unser Verbraucherverhalten infrage gestellt worden. Eingestehen müssen wir wohl, dass unser Vertrauen in die Experten, BSE würde bei seiner Reise durch Europa die Bundesrepublik aussparen oder gar vergessen, Schiffbruch erlitten hat. Unsere Vorkehrungen und unsere administrativen Schutzwälle der letzten Jahre haben die Ausbreitung von BSE auch in Deutschland nicht abhalten können.

Die entschiedenen Aussagen und Feststellungen von Politikern, Wissenschaftlern und Verbandsvertretern, die Bundesrepublik sei BSE-frei, entsprachen wohl mehr den Wunschvorstellungen, denen wir - jedenfalls zum Teil - nur zu gerne getraut haben.

Die Konsequenzen und Folgewirkungen, die sich nun bereits abzeichnen, verlangen von uns Neuorientierung und Veränderungsprozesse. Sie werden uns - da bin ich sicher - viele Jahre begleiten. Die Lernfähigkeit bzw. Lernbereitschaft unserer Gesellschaft - das zeigt auch die Geschichte der Bundesrepublik - orientiert sich nicht selten an derart schmerzlichen Ereignissen und Vorfällen. Ich hoffe, dass uns der 24. November 2000 über lange Jahre ein Mahntag bleiben wird, der uns zeigt, wie verletzbar unsere Gesellschaft mit ihrem Fortschrittsoptimismus letztlich doch bleibt.

(Beifall bei der SPD)

Dieser Tag hat uns auch die Erkenntnis gebracht, wie sehr wir bei unserem Streben, Zukunft zu gestalten, darauf angewiesen sind, alle gesellschaftlichen Kräfte immer wieder einzubeziehen. Kritische Geister bei Entscheidungsprozessen mehr zu berücksichtigen sollte künftig im Rahmen des Wettbewerbs der Ideen und Konzepte Politikalltag werden.

(Zustimmung von Hagenah [GRÜ- NE])

Viele haben vor dieser Entwicklung gewarnt, wenige haben ihnen zugehört.

Betroffen sind von der BSE-Krise zum einen die Landwirte. Sie tragen die Folgewirkungen einer Krise, die sie persönlich nicht zu verantworten haben. Für ihre Proteste, mit denen sie auf ihre existentiellen Sorgen hinweisen und ihren massiven Ärger ausdrücken, habe ich jedenfalls Verständnis,

(Beifall bei der SPD)

auch wenn die Landesregierung allein nicht in allen Fragen Abhilfe leisten kann.

Betroffen sind aber auch alle Verbraucherinnen und Verbraucher. Bei all den Diskussionen über Maßnahmen, die bereits eingeleitet worden sind oder eingeleitet werden, und die Probleme der Landwirtschaft darf nicht aus den Augen verloren werden, dass wir, die Menschen, und unsere Gesundheit durch BSE bedroht werden. Alle Anstrengungen müssen darauf gerichtet sein, zu verhindern, dass Menschen durch BSE-nahe Krankheiten wie die Creutzfeldt-Jakob-Krankheit infiziert werden. Die ersten Erkrankungen in Großbritannien und Frankreich lassen ein Ausmaß der Krise erkennen, das wir alle gemeinsam abwenden müssen. Verbraucherschutz und Erzeugerschutz bilden dabei untrennbare Aufgabenbereiche. Sie sind zwei Seiten ein und derselben Medaille.

Die Landesregierung sieht die BSE-Krise als Anlass, aber auch als Chance, Grundsatzpositionen bei der Erzeugung sowie der Ver- und Bearbeitung von Nahrungsmitteln kritisch zu überprüfen und die notwendigen Veränderungen vorzunehmen.

Die Vorfälle zu BSE haben auch Schattenseiten unseres Zusammenlebens sichtbar werden lassen. Jede wirksame Regelung, jede Vereinbarung, jede Absprache und jedes Gesetz findet ihre bzw. seine Grenzen, wenn sich die Beteiligten, um Gewinnspannen wuchern zu lassen, nicht an diese Verabredungen und Gesetze halten. Falsch deklarierte Lebensmittel, unzulässige Beimischungen von billigen Inhaltsstoffen in Lebensmitteln und ein grauer Arzneimittelmarkt, der illegal Hormone, Impfstoffe und Antibiotika letztlich in die Nahrungsmittelkette einbringt, sind nur einige Überschriften der letzten Tage und Wochen.

Der jetzt erst bekannt gewordene - oder nochmals bekannt gewordene, muss man wohl sagen - illegale Handel und Einsatz von Medikamenten in der Schweinezucht in Niederbayern wird leider nicht der letzte Vorfall sein, der öffentlich gemacht wird.

Dies alles lässt Misstrauen der Verbraucherinnen und Verbraucher zu Recht anwachsen.

Wir haben bislang keine Hinweise darauf, dass Niedersachsen in dieser Affäre involviert ist. Anders als in Bayern haben wir bereits im Oktober 1996 einen Rückstandskontrolldienst eingerichtet, der aktuelle Rückstandsdaten auswertet, überörtliche und zielgerichtete Überwachungsaktionen organisiert und notfalls die Staatsanwaltschaft einschaltet.

Ich halte es allerdings für einen besseren Ansatz, präventiv die Tiergesundheit durch Verbesserung der Haltungsbedingungen und nicht durch den Einsatz von Medikamenten zu gewährleisten.

(Beifall bei der SPD)

Wir haben mit einem Programm hierzu in den letzten Jahren begonnen und festgestellt, dass hier auch bei den betroffenen Landwirten eine rege Nachfrage gibt. Unsere Forderung ist allerdings, alle Antibiotika in den Futtermitteln zu verbieten.

(Beifall bei der SPD)

Wir hoffen, dass diese alte niedersächsische Forderung vom Bund gegenüber der Europäischen Union endlich durchgesetzt wird.

(Frau Harms [GRÜNE]: Aber nur Hoffnungen helfen nicht!)

- Sie stellen jetzt ja die neue Landwirtschafts- und Verbraucherschutzministerin. Sie werden uns dabei helfen können, Frau Harms.

(Beifall bei der SPD)

In der Vergangenheit haben wir mit dieser Forderung bislang keinen Erfolg gehabt. Wir wären ja froh, wenn wir es alleine machen könnten, Frau Harms. Ich bin mir aber sicher, dass durch Ihre Beteiligung jetzt alles besser wird.

Meine Damen und Herren, dass alles reicht aber nicht. Wenn man sich z. B. vorstellt, dass Veterinäre anders als in der Humanmedizin mit Arzneimitteln und Medikamenten handeln dürfen, dann liegt es doch nahe, dass bei bestimmten Veterinären ein wirtschaftliches Interesse daran besteht - wie man in Niederbayern gesehen hat -, diese Arzneimittel vorbeugend und in relativ großen Mengen in die Futtermittel zu bringen. Das heißt, es müssen auch die Strukturen verändert werden. Meiner Meinung nach müssen wir hier möglichst schnell zu einer

anderen Struktur kommen, bei der wie bei der Humanmedizin das wirtschaftliche Interesse am Handel mit Arzneimitteln völlig getrennt ist von den Interessen der Veterinäre.

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herrn, wenn wir uns darin einig sind, dass es ein wichtiges Ziel ist, das Vertrauen der Verbraucher zurückzugewinnen, dann müssen wir auch den Mut aufbringen, die Fehlentwicklungen zu benennen, die Voraussetzung für BSE waren und die Rahmenbedingungen dafür abgaben. Auf den Prüfstand gehört auch unsere EUAgrarpolitik, die für die niedersächsische Landwirtschaft immer noch Herzschlag ist. Hier zeigen sich Fehlentwicklungen. Dass sich die Landwirte den Regelwerken und Vorgaben der Europäischen Union anpassen, um für sich und ihre Familien gute Betriebsergebnisse zu erzielen, ist selbstverständlich. Jeder von uns würde sich so verhalten. Im Vertrauen auf diese Vorgaben stellen Landwirte ihre Betriebe um und investieren sehr viel Geld. Wir müssen nicht die landwirtschaftliche Hardware ändern, sondern die Programmierung der Software unserer Landwirtschaftspolitik.

Ich möchte jetzt nur auf einige wenige Beispiele an Fehlentwicklungen aufmerksam machen: Durch den Grundsatz, Prämien pro Rind zu zahlen, werden erhebliche Produktionsanreize gegeben. Es werden Rinder nicht deshalb gehalten, weil Bedarf an Rindfleisch besteht, sondern deshalb, weil die Prämien das Einkommen der Landwirte sichern.

Trotz der tendentiellen Überproduktion von 20 % in der Milchwirtschaft werden in der Kälbermast so genannte Milchaustauscher eingesetzt. Sie werden als eine der Ursachen für die Übertragung von BSE vermutet. Bei meinen Bereisungen haben mir Landwirte erzählt, dass es gar nicht mehr möglich sei, die Milch der Milchkühe den Kälbern zur Aufzucht zu geben, weil die Kälber sie aufgrund der Züchtungsmethoden inzwischen nicht mehr vertragen. Überspitzt - oder vielleicht auch ganz real - heißt das: Die Muttermilch der Kuh ist für das Kalb inzwischen unverträglich.

Bei Zucker haben wir eine Überproduktion von ca. 40 %. Über EU-übliche Instrumentarien wie Quotensysteme oder garantierte Abnahmepreise wird der Zucker subventioniert und auf dem Weltmarkt verkauft. Dritte-Welt-Ländern, deren einzige Einnahmequelle oft die Ausfuhr von Zucker ist, wird

mit unseren Steuergeldern die Existenzsicherung erschwert.

Große Lebensmittelkonzerne berichten inzwischen, dass sie Probleme haben, deutsche Nahrungsmittel in der Fleischindustrie in der erforderlichen Qualität einzukaufen. Sie weichen in andere Länder aus. Ich weiß, viele Fehlentwicklungen sind das Ergebnis eines komplizierten und auf Kompromisse angewiesenen Einigungsprozesses von 15 EUMitgliedstaaten.

Die strukturellen, politischen und finanziellen Unterschiede zwischen den EU-Mitgliedstaaten sind äußerst groß. Agrarpolitische Entscheidungen sind oft das Ergebnis von harten Diskussionen und letztlich auch immer von Kompromissen. Der Versuchung, möglichst viel Geld in das eigene Land zu holen, hat auch bei den Agrarreformen des letzen Jahres zudem den politischen Weitblick auch in Deutschland erblinden lassen. Diesen Zustand müssen wir beenden, meine Damen und Herren. Es muss umgesteuert werden!