Protokoll der Sitzung vom 24.10.2001

(Beifall bei der SPD und bei Ange- ordneten der CDU)

Ich fand es beeindruckend, wie auch die Menschen in Niedersachsen auf die Terroranschläge reagiert haben.

Die Sorge galt und gilt auch den unschuldigen Menschen in Afghanistan, den Familien, Kindern

und Flüchtlingen in diesem seit Jahrzehnten vom Krieg zerstörten Land. Die Flüchtlingsströme gibt es nicht erst seit der Militäraktion der USA, sondern ein langer Krieg und das brutale Regime der Taliban zwingen tausende von Menschen in Afganistan zur Flucht.

Bedroht sind dort auch immer noch die acht inhaftierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Hilfsorganisation „Shelter Now“. Sie sind von der Todesstrafe bedroht, weil man ihnen vorwirft, christlich missioniert zu haben. Die Landesregierung steht im Kontakt mit der Bundesregierung. Wir wissen, dass dort in den Bemühungen um die Freilassung der Geiseln nicht nachgelassen wird. Unser Mitgefühl und das vieler Menschen in Deutschland gilt den Familien und auch den Angehörigen und den hier in Niedersachsen und in Bayern lebenden Verwandten.

(Beifall bei der SPD und bei Abge- ordneten der CDU)

Ich glaube, wir alle sind den Menschen in Deutschland und auch bei uns in Niedersachsen zu Dank für ihre spontane und - wie wir jedenfalls feststellen - auch anhaltende Mitmenschlichkeit verpflichtet.

Gleichzeitig aber lässt sich niemand in einen Kampf der Kulturen gegen moslemische Mitbürgerinnen und Mitbürger treiben. Die Menschen unterscheiden sehr wohl zwischen „islamisch“ und „islamistisch“, zwischen der großen Weltreligion Islam einerseits und deren Missbrauch für eine menschenverachtende Strategie des Terrors andererseits. Wenn wir die Terroristen, ihre Netzwerke und auch ihren ideologischen Resonanzboden in Deutschland bekämpfen, dann tun wir das zugleich, meine Damen und Herren, für die mehr als 99 % der hier friedlich lebenden Moslems. Circa 3,2 Millionen Menschen moslemischen Glaubens leben in Deutschland. Rund 31 000 von ihnen werden von den Geheim- und Nachrichtendiensten und der Polizei dem islamistischen Extremismus zugeordnet. Dieses Verhältnis aufzuzeigen ist wichtig, denn wir wollen dem einen Prozent das Handwerk legen und damit gleichzeitig für alle Menschen und damit auch für die 99 % der anderen Menschen moslemischen Glaubens ihre Heimat in Deutschland sicher gestalten.

(Beifall bei der SPD und bei Abge- ordneten der CDU)

Was aus den Taten von New York und Washington spricht, ist nicht der Islam. Es ist die Pervertierung einer grundsätzlich friedlichen Weltreligion durch wenige zu allem entschlossene Fanatiker. Und es ist das Ergebnis einer politisch motivierten Religionsausübung, die in der Weltgeschichte nicht neu ist und die auch im Christentum in früheren Jahrhunderten zu schrecklichen Ergebnissen geführt hat.

Und noch etwas macht Mut: Der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland hat in dieser Situation entschlossen, aber auch zugleich besonnen reagiert. Nicht nur die Parteien der Regierungskoalition in Berlin, sondern auch die Oppositionsfraktionen von CDU/CSU und FDP haben ihn darin nachhaltig unterstützt. Ich bin der Bundesregierung und vor allem auch den Oppositionsparteien dankbar, dass es zu dieser Gemeinsamkeit gekommen ist.

(Beifall bei der SPD)

Ich glaube, wir alle können stolz darauf sein, dass unsere parlamentarische Demokratie diese Bewährungsprobe bislang ausgesprochen selbstbewusst, unaufgeregt und eben mit ungeheuer großer Verantwortungsbereitschaft auf allen Seiten angenommen hat.

Dies gilt auch für den Niedersächsischen Landtag und die niedersächsischen Parteien. Dort, wo es politischen Klärungsbedarf gibt oder unterschiedliche Vorschläge zur Verbesserung der inneren Sicherheit auf dem Tisch liegen, muss natürlich diskutiert, engagiert diskutiert und entschieden werden. Aber auch in Niedersachsen geschieht dies bislang unaufgeregt und wirklich ohne parteipolitische Polemik. Mein ausdrücklicher Dank gilt deshalb auch allen Mitgliedern dieses Hauses.

Die Verunsicherung über die innere Sicherheit ist in unserer Bevölkerung groß. Es ist gut, wenn wir nicht nur von der Gemeinsamkeit der Demokraten reden, sondern die Bürgerinnen und Bürger im Alltag erleben, dass sie sich in Niedersachsen und Deutschland auf die kompetente, engagierte und entscheidungsfreudige Beratung unserer Parlamente und Regierungen verlassen können. Das ist gut für die innere Stabilität unseres Landes.

Das ist einer der Gründe für unser gemeinsames Vorgehen mit der Bayerischen Staatsregierung. Das gilt für den Verbotsantrag gegen die NPD ebenso wie für den Kampf gegen den Kalifatsstaat, Hamas, Dschihad oder andere extremistische Or

ganisationen in Deutschland, die menschenverachtende Ideologien predigen, zum Hass aufstacheln und gegen die Prinzipien der Völkerverständigung verstoßen. Gemeinsam wollen und werden wir das in Deutschland nicht dulden.

(Beifall bei der SPD und bei Abge- ordneten der CDU)

Meine Damen und Herren, es ist klar, dass nicht nur eine Phase deutscher Außenpolitik beendet wurde, sondern dass wir darüber hinaus auch in der Innenpolitik, die in unserem föderalen Staat ganz wesentlich Ländersache ist, vor Neubestimmungen stehen, nicht nur in der Sicherheitspolitik.

Die Bundesrepublik Deutschland hat sich nach den schrecklichen Erfahrungen der Naziherrschaft eine der freiheitlichsten, aber auch der stabilsten Verfassungen der Welt gegeben. Konstitutiver Bestandteil dieser Verfassung ist ein an Recht und Gesetz gebundener und durch eine unabhängige und starke Justiz kontrollierter liberaler Rechtsstaat. Liberalität meint dabei die Garantie der Menschen- und Grundrechte und die Begrenzung auch der Eingriffsmöglichkeiten der Repräsentanten und Institutionen des Staates in die Freiheitsrechte des Einzelnen. Es gibt in unserem Land weder einen Absolutheitsanspruch des Einzelnen, noch gilt der Staat alles und der Einzelne nichts. Freiheit und Verbindlichkeit prägen unsere Verfassung. Sie begrenzen und bedingen einander. Auch unser Polizeirecht, die gesetzliche Grundlage der Nachrichtendienste, das Strafrecht und der Strafvollzug werden diesen Prinzipien gerecht.

Wir haben in Deutschland ein Ausmaß an Internationalität und Toleranz erreicht, auf das wir wirklich stolz sein können. Viele Länder der Welt beneiden uns darum. Hinter diese Errungenschaften, hinter diese politische Leistung wollen und müssen wir nicht zurückfallen. Das gilt für die Freiheitsrechte des Einzelnen, der vom Staat nicht gegängelt wird, ebenso wie für die Bereicherung unseres Landes durch andere Kulturen, Talente, Lebensgewohnheiten, Meinungen und Mentalitäten.

(Zustimmung bei der SPD)

Umso wichtiger ist es jedoch, dass wir eben dieses offene und weltoffene Deutschland auch schützen. Wenn Bedrohungen von Menschen ausgehen, die die Offenheit unserer Gesellschaft missbrauchen, dann werden wir gegen sie mit den Mitteln des

Rechtsstaates vorgehen. Für Langmut gibt es dabei keinen Grund und keinen Raum.

(Beifall bei der SPD)

Organisierte Kriminalität hat unser Land seit Jahrzehnten beschäftigt. Der islamistische Terror hat ihn allerdings perfektioniert. Für die Finanzierung des Terrorismus werden alle denkbaren Schauplätze der Verbrechen aufgesucht und ausgenutzt. Ob durch Drogenhandel, Schutzgelderpressung oder Menschenschmuggel - jeder Weg ist den Terroristen willkommen, um Kapital für ihre zerstörerischen Pläne zu beschaffen.

Dieses neue Potenzial für Gewaltverbrechen, Massenmord und Aufwiegelung zum Völker- und Rassenhass hat eine andere Dimension als selbst die schlimmsten Formen bislang gekannter internationaler und organisierter Kriminalität in der Nachkriegsgeschichte. Wir müssen und wir werden diesen Gefahren entschieden entgegentreten.

Meine Damen und Herren, die Realität hat sich verändert, und auf diese Veränderung haben wir zu reagieren, und zwar auch mit Instrumenten, die wir bislang nicht für notwendig erachtet haben.

Eine Rasterfahndung gegen randalierende Punker, wie sie Mitte der 90er-Jahre nach den „ChaosTagen“ gefordert wurde, wäre auch heute noch nach meiner Auffassung unsinnig gewesen.

(Beifall bei der SPD)

Wir wissen auch, dass selbst die Bundesländer, die die Rasterfahndung im Gefahrenabwehrrecht hatten, sie nicht angewendet haben. Gegen 1 000 betrunkene Jugendliche in einer Innenstadt braucht man keine Rasterfahndung, sondern im Zweifel 2 000 und mehr nüchterne Polizeibeamte.

(Beifall bei der SPD)

Aber gegen international organisierte Terroristen oder Straftäter nützen im Zweifel noch so viele Polizisten nichts, wenn wir die Strukturen und die Straftäter nicht kennen. Genau diese Strukturen und Personen müssen wir aber bereits im Vorfeld einer denkbaren Straftat kennen lernen. Deshalb brauchen wir heute ein Instrument wie die Rasterfahndung im Gefahrenabwehrrecht und nicht nur, wie bislang, im Strafrecht.

Wir werden dadurch an den Prinzipien unserer Verfassung nichts ändern. Denn es wäre auch ein Sieg der Terroristen, wenn sie so viel Angst und

Schrecken verbreiten könnten, dass wir unsere zivile Gesellschaft militarisieren und Freiheit und Demokratie in unserem Land selbst einschränken.

(Beifall bei der SPD)

Wir haben das auch nicht nötig, meine Damen und Herren. Wir müssen den Charakter dieser Republik nicht verändern, um uns besser vor Kriminalität und Terrorismus schützen zu können. Unsere Republik muss nicht ihr Gesicht verändern, sondern muss ihre Zähne zeigen. Liberalität bedeutet nicht Wehrlosigkeit. Freiheit und Wehrhaftigkeit nach innen und außen sind zwei Seiten derselben Medaille.

Dieser Rechtsstaat wird ja auch ganz wesentlich von uns selbst geprägt und von unabhängigen Gerichten kontrolliert. Hier gerät nichts außer Kontrolle, nur weil ein Fingerabdruck in den Personalausweis soll. Wer eine Dauerkarte im Hannoveraner Zoo haben will, muss dort schon seit längerer Zeit seinen Fingerabdruck hinterlassen.

(Zuruf von Frau Stokar von Neuforn [GRÜNE])

- Der Zuruf lautete, glaube ich, „freiwillig“, Frau Stokar. Ich bin auch der Überzeugung, wir sollten das freiwillig machen, um die innere Sicherheit in diesem Land besser voranzubringen.

(Beifall bei der SPD)

Weder ein Fingerabdruck im Personalausweis noch eine biometrische Erkennung schränkt Freiheitsrechte ein. Es wird nichts anderes gesichert als das, wozu Ausweise da sind, seit es sie gibt: eine einwandfreie Identifizierung. Dabei können wir nicht zulassen, dass die Fälscherwerkstätten auf dem Niveau des 21. Jahrhunderts arbeiten, die Einwohnermeldebehörden und die Polizei aber auf dem des 19. Jahrhunderts.

Ich plädiere deshalb dafür, in der aktuellen Diskussion über die Maßnahmen zur Stärkung der inneren Sicherheit nicht sofort jedes Mal staatliche Missbrauchsmöglichkeiten zu unterstellen und in den Mittelpunkt der Debatte zu bringen, sondern die Stärke unseres liberalen Rechtsstaates auch von dieser Seite her nicht zu unterschätzen oder zu ignorieren. Die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte zeigen: Auch dort, wo wir, wie am Ende der 70erJahre, zu Anti-Terrorgesetzen eine kritische Meinung hatten, hat sich am liberalen Charakter unserer Republik durch diese Gesetze nichts geändert.

Ganz im Gegenteil, dieses Land ist jedes Jahr ein Stück weltoffener und liberaler geworden.

(Beifall bei der SPD)

Es gibt aber durchaus auch Grenzen, meine Damen und Herren, die wir in der aktuellen Sicherheitsdebatte beibehalten müssen. Sie sind dort zu ziehen, wo sich tatsächlich der Charakter unseres Landes verändern würde. In der Süddeutschen Zeitung stand dazu am 11. Oktober eine Feststellung, die ich nicht besser ausdrücken könnte:

Erstens. Wir brauchen keine Bundeswehr mit Befugnissen nach innen, die über die Möglichkeiten hinaus gehen, die unsere Verfassung schon heute gibt.

(Zustimmung bei den GRÜNEN)

Zweitens. Wir brauchen keine Geheimdienste mit polizeilichen Befugnissen.

(Zustimmung bei den GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, diese Grenzziehung ist nicht variabel, sozusagen je nach innenpolitischer Stimmungslage, sondern sie ist konstitutiv für unser Verfassungsverständnis.