Protokoll der Sitzung vom 09.11.2006

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Um zu zeigen, worum es bei diesem Antrag geht, lassen Sie mich mit einem Beispiel aus dem Schulalltag beginnen: Vitali ist Grundschüler im zweiten Schuljahr. Bei ihm werden in mehreren Fächern erhebliche Schwächen festgestellt, er spricht z. B. kaum einen zusammenhängenden Satz. Zusätzlich hat er große Probleme im Sozialverhalten, kann sich überhaupt nicht in eine Gruppe integrieren. Er hat - so heißt es heute mit einem Fachbegriff - auf mehreren Gebieten Förderbedarf. Nach einer entsprechenden Überprüfung wird ihm mitgeteilt, er solle, damit er gezielt gefördert werden könne, die Förderschule besuchen. Vitali wird also an die Förderschule überwiesen, und die Eltern stellen fest, dass die besondere Förderung darin besteht, dass er gelegentlich früher nach Hause kommt, gelegentlich später in die Schule muss, kurz gesagt, dass der Primarbereich der Förderschule nicht in die Verlässlichkeit - die Zeiten von 8 bis 13 Uhr - einbezogen ist. Das, meine Damen und Herren, darf so nicht bleiben!

(Beifall bei der SPD)

Die schwächsten, die am meisten förderungswürdigen Schülerinnen und Schüler brauchen keine schlechtere, sondern eine bessere Förderung.

Es ist ein sehr überschaubarer Bereich, von dem hier die Rede ist. Unter den verschiedenen Arten von Förderschulen sind nur diejenigen mit dem Schwerpunkt Lernen und Emotionale und Soziale Entwicklung betroffen und von diesen auch nur die Primarstufe, also die Jahrgangsstufen eins bis vier mit dem Schwerpunkt in den Klassen eins und zwei.

Der Vertreter des Kultusministeriums hat im Ausschuss für die Förderschule Lernen den Bedarf auf höchstens 750 Stunden - 750 Stunden! - landesweit beziffert, die nötig wären, um beim Anlegen des Grundschulmaßstabs die Förderschulen L verlässlich zu machen. Wer hier noch von Problemen der Finanzierung spricht, macht sich lächerlich.

(Karl-Heinz Klare [CDU]: Gute Aussa- ge!)

Die Hinweise im Ausschuss gingen eher in die Richtung, dass bei ständig im Fluss befindlichen Zahlen die organisatorische Umsetzung und die Berechnung schwierig seien.

Meine Damen und Herren, wenn es um das auch vom Kultusminister stets beschworene Prinzip geht, niemanden zurückzulassen, dann sind diese Schwierigkeiten dazu da, überwunden zu werden.

(Beifall bei der SPD)

CDU und FDP haben sich darauf nicht eingelassen und den Antrag rigoros mit geradezu lächerlichen Argumenten abgelehnt. Sie haben auf manches verwiesen, was zuletzt verbessert worden sei. Als ob das irgendjemand in Abrede gestellt hätte!

Es reicht auch nicht mehr aus, zu sagen, auch die alte Regierung habe das Problem nicht gelöst.

(Karl-Heinz Klare [CDU]: Nein, sie hat das Problem geschaffen!)

Sie hatte die gleichen Schwierigkeiten. Wir sind aber heute in der Analyse und in den Lösungsansätzen wesentlich weiter.

(Karl-Heinz Klare [CDU] lacht)

Es darf hier nicht um gegenseitige Schuldzuweisungen gehen, Herr Klare, es geht um die betroffenen Kinder.

(Beifall bei der SPD - Karl-Heinz Klare [CDU]: Deshalb haben Sie den Satz mit der Schuldzuweisung auch vor- weg gesagt, damit das klar ist!)

Sie haben im Ausschuss zusätzlich darauf verwiesen, dass Sie sich lieber der Entwicklung alternativer Entwürfe zuwenden wollten. Nach Lage der Dinge kann das nur heißen, Schritt für Schritt die sonderpädagogische Förderung in die Grundschulen zu verlagern. Darüber lässt sich reden. Mit einem integrativen Ansatz laufen Sie bei uns offene Türen ein, wenn - darauf muss dann Wert gelegt werden - die Differenzierungsmöglichkeiten entsprechend ausgestaltet werden.

Wir sind sehr gespannt darauf, wie Sie sich bei den mit den nächsten Tagesordnungspunkten zur Debatte stehenden Anträgen verhalten werden.

Uns lag bei dem hier und jetzt zu beratenden Antrag daran, den von mir am Anfang beschriebenen unhaltbaren Istzustand sofort zu beenden und eine Lösung nicht auf Jahre hinauszuschieben.

Für Vitali darf es nicht heißen: Ich fördere dich, indem ich dir diese Stunden kürze; für Anna und Jana und Heinz auch nicht. - Geben Sie den Förderschulen L die Chance, ihrem Namen gerecht zu werden - sofort und von Anfang an! - Danke sehr.

(Beifall bei der SPD)

Die nächste Rednerin ist Frau Pfeiffer von der CDU-Fraktion.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! In diesem Schuljahr werden in Niedersachsen in Förderschulen - um auch einmal ein paar Zahlen zu nennen - mit dem Schwerpunkt Lernen 22 148 Schülerinnen und Schüler unterrichtet und erzogen. Sie, meine Damen und Herren von der SPD, stellen den Antrag, den Primarbereich dieser Förderschulen in die sogenannte Verlässlichkeit einzubeziehen.

Wir haben in Niedersachsen verschiedene Organisationsformen sonderpädagogischer Förderung, wie mobile Dienste, Integrationsklassen und regionale Integrationskonzepte. Wie und in welcher Form Kinder und Jugendliche mit sonderpädagogischem Förderbedarf in einer Region gefördert werden können und wie die dafür vorhandenen sonderpädagogischen Förderangebote um- und

ausgebaut werden sollen, wird im regionalen Konzept geplant. Hier werden sonderpädagogische Angebote gebündelt und diese auch im Hinblick auf mehr gemeinsamen Unterricht und gemeinsame Erziehung weitergeführt.

Dass alle diese Maßnahmen Wirksamkeit entfalten, sieht man, wenn man die Zahlen für den gesamten Bereich der Förderschulen Schwerpunkt Lernen einmal genauer betrachtet. Hier sind die Zahlen rückläufig. 2003 wurden 26 026 Kinder in Förderschulen gefördert, 2004 waren es fast 900 weniger, nämlich nur noch 25 156, und 2005 waren es nur noch 24 007. Zum Stichtag im September dieses Jahres sind es sogar nur noch 22 148 Schülerinnen und Schüler. Dies bedeutet, dass wir uns heute über etwa 3 900 Schülerinnen und Schüler weniger unterhalten, als es im Jahr 2003 gab.

Nach dem Erlass zur sonderpädagogischen Förderung gilt für die Förderschulen mit dem Schwerpunkt Lernen die Stundentafel der Grundschule. In den dritten und vierten Jahrgangsstufen wird der zeitliche Umfang der Verlässlichkeit damit bereits durch die Stundentafel abgedeckt.

(Claus Peter Poppe [SPD]: Das stimmt nicht!)

Für die Schülerinnen und Schüler, die in den ersten und zweiten Klassen unterrichtet werden, bedeutet Ihr Antrag auf Einbeziehung in die Verlässlichkeit, dass sie mit erheblichem finanziellem Aufwand in die Verlässlichkeit einbezogen werden müssten. Es gibt nämlich landesweit verhältnismäßig wenig Schülerinnen und Schüler, die den ersten und zweiten Schuljahrgang an der Förderschule mit dem Schwerpunkt Lernen besuchen. Nur hier spielt ja die Frage der Verlässlichkeit überhaupt eine Rolle. Es handelt sich derzeit um 1 481 Kinder. Auch hier ist die Zahl wiederum um 80 gegenüber dem Vorjahr heruntergegangen. Da dies so wenige Kinder sind und diese in sehr kleinen Gruppen - in der Regel von nur weniger als acht Kindern - unterrichtet werden, findet der Unterricht häufig in Kombinationsklassen statt. Hier gilt aber erlassgemäß die Stundentafel des jeweils höchsten Jahrgangs. In der Regel ist deshalb auch hier die Verlässlichkeit gewährleistet.

Die Dinge sind in der Förderschule, wie Sie ja schließlich wissen, nun einmal anders gelagert als in der Verlässlichen Grundschule. Die Schülerinnen und Schüler werden nicht allein von ausgebil

deten Förderschulpädagoginnen und -pädagogen unterrichtet, sondern wir stellen ihnen in bestimmten Formen der Förderschule darüber hinaus auch Heil- und Sozialpädagoginnen und -pädagogen, Erzieherinnen und Erzieher, Heilerziehungspflegerinnen und -pfleger und Physio- und Ergotherapeutinnen und -therapeuten zur Seite. Bei den Grundschulen hier im Lande haben immerhin inzwischen 400 von 1 870 Standorten eine sonderpädagogische Grundversorgung, d. h. hier sind Kinder u. a. mit festgestelltem Förderschwerpunkt Lernen in die Grundschule integriert. Die stetige Steigerung dieser Zahlen und die ständige Verminderung der Schülerzahlen in den Förderschulen lassen doch den Schluss zu, dass die Integration bereits, kontinuierlich ausgeweitet, sehr gut funktioniert. Wir sollten also unser Augenmerk darauf richten, die Entwicklung in diese Richtung voranzutreiben.

Sehr genau werden wir aber die Entwicklung beobachten und im Auge behalten; denn wir tragen Verantwortung dafür, dass die Kinder mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf die notwendige Hilfe und Unterstützung erhalten - an welchem Ort auch immer. Da können Sie sicher sein.

(Zustimmung von Ursula Körtner [CDU])

Derzeit sehen wir aus den eben genannten Gründen keinen Handlungsbedarf und lehnen den Antrag der SPD-Fraktion ab.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Die nächste Rednerin ist Frau Ina Korter von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Kultusminister lässt in letzter Zeit eigentlich keine Gelegenheit aus, sich als besonderer Freund der Förderschülerinnen und Förderschüler zu präsentieren. Gerade in der vorigen Woche hat er unter der etwas martialischen Überschrift „Kultusminister weist Angriff auf Förderschulen zurück“ erklärt:

„Die Landesregierung widmet der Situation der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf... ihre besondere Aufmerksamkeit.“

(Ursula Körtner [CDU]: Mehr als das!)

Aber wenn es konkret wird, dann lässt der Kultusminister und mit ihm seine Regierungskoalition die Förderschülerinnen und Förderschüler doch im Regen stehen.

(Beifall bei den GRÜNEN - Karl-Heinz Klare [CDU]: Sie wissen, dass das falsch ist!)

Vor einem Jahr hat die SPD-Fraktion die eher bescheidene Forderung aufgestellt, auch die Förderschulen in die Verlässlichkeit einzubeziehen. Das ist eine Forderung, die in mehrfacher Hinsicht billig ist: Billig deshalb, weil es eigentlich selbstverständlich sein sollte, dass für die Schülerinnen und Schüler an den Förderschulen eine verlässliche Betreuung bis 13 Uhr genauso selbstverständlich ist wie die für andere Grundschülerinnen und Grundschüler. Die Horte haben sich längst auf die Verlässlichkeit der Grundschulen eingestellt. Wie aber soll die Betreuung der Kinder aus den Förderschulen gesichert sein, wenn ihr Unterricht vor 13 Uhr endet, der Hort aber erst um 13 Uhr aufmacht? - Billig ist die Forderung aber auch, weil nach Auskunft des Kultusministeriums nicht einmal 5 000 Schülerinnen und Schüler in ganz Niedersachsen betroffen wären. Trotzdem lehnen die Landesregierung und die Regierungskoalition die Einbeziehung der Förderschulen in die Verlässlichkeit ab. Meine Damen und Herren, das zeigt, was Ihnen die Förderschülerinnen und Förderschüler wirklich wert sind.

Das Kultusministerium hat uns im Ausschuss darauf hingewiesen, dass die Verlässlichkeit in den Förderschulen ab der dritten Klasse durch die Stundentafel ohnehin abgedeckt sei. Zugleich hat uns der Minister in der vergangenen Woche die Zahlen zur Unterrichtsversorgung präsentiert. Die beträgt bei Förderschulen im Landesdurchschnitt 98,4 %, in einzelnen Kreisen aber nach wie vor weniger als 95 %. Wie soll denn dort die volle Stundentafel erteilt werden?

(Beifall bei den GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, Verlässlichkeit für die Förderschulen im Primarbereich - das ist eine Möglichkeit. Im Kultusausschuss habe ich für meine Fraktion jedoch eine andere Entwicklungsrichtung angedeutet: die vollständige Verlagerung der sonderpädagogischen Förderung in die Grundschulen. - Wir werden beim nächsten Tagesordnungspunkt dazu ei

nen Antrag vorlegen. Ich bin gespannt, ob Sie uns darin unterstützen werden. - Vielen Dank.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Danke, Frau Korter. - Der nächste Redner ist Herr Schwarz von der FDP-Fraktion.

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Poppe, ich schätze Sie im Kultusausschuss durchaus als sachlichen Politiker. Aber das, was Sie uns hier als Schuldzuweisungen bieten, lasse ich Ihnen so nicht durchgehen. Das kann einfach nicht angehen.

(Claus Peter Poppe [SPD]: Das war extrem sachlich!)

Sie bzw. Ihre Fraktion hatten noch vor drei Jahren die Regierungsverantwortung. Alles das, was Sie jetzt fordern, hätten Sie in der Tat schon längst erledigt haben können.