Eine weitere wichtige Aufgabe für ein Land, in dem die Bevölkerungsentwicklung so deutlich auseinanderklafft, ist die Gewährleistung der Daseins
vorsorge in allen Landesteilen. Hierbei ist der Staat Garant für Mindeststandards in der Daseinsvorsorge. Hier unterscheiden wir uns mit unseren Instrumenten in der Tat deutlich von den Instrumenten der CDU und der FDP. Angesichts der unterschiedlichen Ausgangslagen in den Regionen wird der freie Wettbewerb um Fördermitteltöpfe diese Probleme nicht lösen. Bildlich gesprochen lassen Sie zu, dass in einem Fußballspiel eine Mannschaft der Kreisliga mit Sandsäcken auf dem Rücken gegen eine Mannschaft aus der Bundesliga spielt, und sagen dabei noch: Ihr alle habt die gerechte Chance zu gewinnen.
(Beifall bei der SPD - Norbert Böhlke [CDU]: Das ist aber ein schlechtes Bild! - Jan-Christoph Oetjen [FDP]: Sie malen ein Bild, das nicht existiert!)
Reiner Wettbewerb bedeutet hier, die Solidarität in unserem Land aufzukündigen, die unsere Gesellschaft bisher trägt. Freiheiten und Spielräume sind gut und wichtig. Aber gerade die schwachen und in der Bevölkerungsentwicklung negativ betroffenen Regionen benötigen Perspektiven und Unterstützung durch das Land. Ich verweise auf den Hilferuf aus Holzminden vom dortigen Kreistag. Heute gibt es dazu einen Artikel in der HAZ unter dem Thema „Landflucht“. Mehr Beweise braucht es wohl nicht!
Sie, Herr Ministerpräsident Wulff, lassen einen ungezügelten Wettbewerb zu, der ungleiche Kontrahenten gegeneinander ausspielt. Unsere Auffassung ist hier eindeutig anders: Wir wollen allen eine Perspektive geben. Die, die schlechtere Ausgangsbedingungen haben, müssen zumindest so unterstützt werden, dass sie eine Chance haben, im regionalen Wettbewerb zu bestehen.
Meine Damen und Herren, Grundvoraussetzung ist die Wahrnehmung der Realität. Aber genau das Gegenteil passiert im Moment in Niedersachsen. Dazu ein paar Fakten, die ich Ihnen nicht ersparen kann: Niedersachsen ist das Schlusslicht aller Bundesländer bei der Kinderbetreuung. Bei der Frauenerwerbstätigkeit sind wir immerhin Vorletzter. Schulstandorte werden mehr und mehr aufgegeben, weil insbesondere bei den Hauptschulen die Anmeldezahlen der Schüler oft noch nicht einmal mehr die Einzügigkeit gewährleisten können.
Die Gesamtschulen platzen aus allen Nähten. Die Gymnasien müssen häufig mit dem Doppelten der Schülerzahlen zurechtkommen, die sie noch vor vier Jahren hatten, was natürlich alles auf dem Rücken der Schülerinnen und Schüler ausgetragen wird.
(Beifall bei der SPD - Bernd Althus- mann [CDU]: War es nicht so, dass Herr Jüttner von der „Restschule“ ge- sprochen hat? Wollen Sie die Haupt- schule nicht auslaufen lassen? Wie stehen Sie eigentlich zur Hauptschu- le?)
Meine Damen und Herren, bei den Schulen schreibt diese Landesregierung den Systemfehler der frühzeitigen Aufteilung sogar noch fort, obwohl uns nahezu fast alle Sachverständigen, die wir in der Kommission angehört haben, darauf hingewiesen haben, dass mit dem System der frühzeitigen Auslese die Humanpotenziale und damit auch die ökonomischen Potenziale für unser Land verschenkt werden.
(Reinhold Hilbers [CDU]: Ein Sach- verständiger war das! Alle anderen hatten eine andere Auffassung!)
Was macht die Mehrheit dieser Kommission? - Sie beschließt, die Erde sei eine Scheibe, und schreibt in die Analyse, dass das gegliederte Schulsystem die Schulstandorte in der Fläche erhält. Das ist die derzeitige Politik made in Niedersachsen. Das ist das berüchtigte Weiter-so.
Meine Damen und Herren, bei der beruflichen Bildung sind gerade in Niedersachsen die Übergangssysteme sehr ausgeprägt und mit anderen Bundesländern kaum vergleichbar. Daher fordern wir ein Recht auf Ausbildung für alle jungen Menschen in unserem Land.
Nicht nur für die Jugendlichen, sondern auch für dieses Land ist dies wichtig, weil uns aufgrund der demografischen Entwicklung Fachkräfte fehlen werden. Die letzten zahlenmäßig starken Jahrgänge gehen jetzt in die Schulen. Das sind die Kinder der Babyboomergeneration. Danach wird es mit dem Arbeitskräftepotenzial absolut noch schlimmer. Diese Landesregierung tut nichts dagegen, sondern sorgt durch Klientelpolitik noch immer dafür, dass viel zu viele die Bildungsleiter nicht hochklettern können.
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN - Norbert Böhlke [CDU]: Was ist das für ein dummes Zeug? Das ist doch unglaublich!)
Meine Damen und Herren, ein weiteres wichtiges Zukunftsfeld ist die Innovationspolitik dieses Landes. Auch hier sind wir mit die Letzten in der Bundesrepublik. Wir haben die gute Wettbewerbsposition, die wir vor Jahren hatten, verschenkt, nicht zuletzt weil diese Landesregierung die Innovationsförderung nahezu halbiert hat.
Damit haben wir die Wettbewerbsposition im Vergleich zu den anderen Bundesländern deutlich verschlechtert. Dies wird beim Thema der Hochqualifizierten deutlich. Niedersachsen hat die höchsten Wanderungsverluste aller Bundesländer bei Studierenden. Damit haben wir den höchsten Brain Drain in ganz Deutschland.
Wie, meine Damen und Herren, sollen wir im internationalen Wettbewerb um Hochqualifizierte eigentlich bestehen, wenn nicht einmal im nationalen Wettbewerb Schritt gehalten werden kann? - Zusammen mit der Innovationsschwäche ist hier eine riesengroße Hypothek vorhanden, die Sie in den letzten Jahren angelegt haben.
(Zustimmung von Rolf Meyer [SPD] - Norbert Böhlke [CDU]: Die Hypothek ist schon drei bis vier Jahre vorher entstanden!)
Meine Damen und Herren, nun zu einem Thema, das ein wesentlicher Anlass für unser Zusatzvotum war, nämlich die Frage der Integration. Ich erinnere mich noch gut an die vielen Diskussionen zu die
sem Thema in der Kommission. Während wir und auch einige Sachverständige wegen der zentralen Bedeutung immer wieder ein eigenes Kapitel zu Fragen der Integration vorgeschlagen haben, lehnten Sie es kontinuierlich ab. Mehrfach mussten wir darauf hinweisen, dass es nicht nur um die Zuwanderung von Hochqualifizierten geht, sondern zuerst darum, die Menschen, die bereits in unserem Land sind, in unsere Gesellschaft zu integrieren,
ihre Kompetenzen, ihre Kultur und ihre Bereitschaft, weil sie sich für Niedersachsen entschieden haben, anzuerkennen und sie willkommen zu heißen in diesem Land und ihnen die Möglichkeit zu eröffnen, ihren Beitrag zur Entwicklung des Landes zu leisten. Aber die Landesregierung mit ihrem Hardliner Minister Schünemann schiebt lieber weiter ab.
Da klingt es geradezu zynisch, wenn Sie jetzt den Zuwanderungskompromiss im Bundesrat ablehnen mit der Begründung, es werde zu wenig für qualifizierte Zuwanderer getan.
Meine Damen und Herren, entscheidend ist der Umgang mit hier lebenden Migranten. Entscheidend ist das Bild, das Niedersachsen für zuwanderungswillige Menschen abgibt.
Solange sich das nicht ändert, können Sie so viele Zuwanderungen Hochqualifizierter beschließen, wie Sie wollen. Es wird aber niemand kommen.
Ich bin daher ausgesprochen froh darüber, dass insbesondere der massive Druck der externen Sachverständigen am Ende dazu geführt hat, dass Ihre Fraktion diesen Aspekt in den Bericht mit aufgenommen hat.
Meine Damen und Herren, nun zur Situation der Versorgung älterer Menschen. Wir müssen angesichts der stark steigenden Zahl älterer Menschen ein Umfeld schaffen, damit diese Menschen die Möglichkeit haben, ein weitgehend eigenständiges
Leben zu führen. Das bedeutet u. a. barrierefreie Wohnungen und lebenswerte und altengerechte Städte und Dörfer mit notwendigen Infrastrukturen und ÖPNV-Anschlüssen. Es ist bezeichnend und fast schon konsequent, dass Niedersachsen nichts für den Stadtumbau macht: keine Beteiligung bei Stadtumbau West und eine teilweise Aussetzung der Städtebauförderung.
Wenn ältere Menschen doch pflegebedürftig werden sollten, dann muss dafür Sorge getragen werden, dass ihnen eine menschenwürdige Pflege zukommt. Der Bedarf steigt rasant: 30 % bis 2020. Was macht diese Regierung? - Sie sperrt sich gegen eine Wiedereinführung der Ausbildungsumlage im Altenpflegebereich und produziert damit wissentlich und sehenden Auges einen Pflegenotstand.
(Zustimmung bei der SPD - Reinhold Hilbers [CDU]: Das hat niemand au- ßer Ihnen in der Kommission be- fürchtet! - Norbert Böhlke [CDU]: Was ist das für eine Würdigung?)
- Genau: Wir und einige Experten, die angehört worden sind. - Nicht zu vergessen ist die Streichung der Investitionskosten für stationäre Pflege, die zur Absenkung der Pflegestandards geführt hat.
Meine Damen und Herren, unser Land ist weitaus besser, als es durch diese Landesregierung regiert wird.
Aber wir müssen die Probleme auch schonungslos benennen können und anpacken. Ein Weiter-so wird in den Regionen wie Holzminden und dem Harz als Drohung empfunden. Wir meinen, man muss jetzt umsteuern. Wir sind für mehr staatliche Verantwortung und Solidarität statt Individualisierung und Privatisierung. Wir sind für eine gemeinsame Bildung statt Auslese. Wir brauchen mehr Handlungsfähigkeit und Wettbewerbsfähigkeit in unseren Regionen anstatt Verdrängungswettbewerb. Deshalb muss der demografische Wandel echte Chefsache werden. Er darf nicht im Sozialressort am Rande verkümmern, sondern muss in Zukunft in allen Politikfeldern mitgedacht werden. Das bedeutet an ersten Schritten: Wir müssen bei der frühkindlichen Bildung und Förderung ansetzen. Wir brauchen einen Rechtsanspruch auf Betreuung der Kinder ab dem ersten Lebensjahr, den Ihre Partei noch immer verweigert. Wir brau
chen mehr Ganztagsplätze und Ganztagsbetreuungsplätze für alle Kinder, und zwar ohne Gebühren. Wir müssen weg von der frühzeitigen Auslese und weg von 32 Kindern in einer engen Klasse. Wir brauchen mehr Studienplätze in Niedersachsen, vor allen Dingen ohne Studiengebühren.
(Zustimmung bei der SPD - Norbert Böhlke [CDU]: Im Formulieren von Forderungen sind Sie klasse! Aber die Antworten fehlen!)
Wir brauchen eine Öffnung der Hochschulen für beruflich Qualifizierte anstatt einer Einschränkung. Wir brauchen eine bessere Integration und Offenheit für Zuwanderung, anstatt abzuschieben und auf einem deutschen Leitbild zu beharren, das es so gar nicht gibt.
Wir brauchen mehr Frauen in verantwortungsvollen Positionen, weil wir es uns nicht leisten können, die gut ausgebildeten Frauen zu Hause zu lassen. Wir brauchen mehr Unterstützung für unsere schwächeren Regionen anstatt Förderung mit der Gießkanne. Wir brauchen eine Politik, die ältere Menschen mitnimmt, ihre Potenziale im Blick hat, die Teilhabe und ein menschenwürdiges Leben im Alter ermöglicht. Meine Damen und Herren, neue Anstriche ersetzen keine maroden Häuser. Anscheinserweckung ersetzt keine seriöse Politik für die Zukunft.