Protokoll der Sitzung vom 10.07.2007

Wir brauchen mehr Frauen in verantwortungsvollen Positionen, weil wir es uns nicht leisten können, die gut ausgebildeten Frauen zu Hause zu lassen. Wir brauchen mehr Unterstützung für unsere schwächeren Regionen anstatt Förderung mit der Gießkanne. Wir brauchen eine Politik, die ältere Menschen mitnimmt, ihre Potenziale im Blick hat, die Teilhabe und ein menschenwürdiges Leben im Alter ermöglicht. Meine Damen und Herren, neue Anstriche ersetzen keine maroden Häuser. Anscheinserweckung ersetzt keine seriöse Politik für die Zukunft.

(Beifall bei der SPD - Zurufe von der CDU)

Eine Strategie des Aussitzens wird dem demografischen Wandel nicht gerecht. Das Land hat eine bessere Politik verdient. Es hat eine Niedersachsen-gerechtere Politik verdient.

(Starker Beifall bei der SPD)

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt der Kollege Klein das Wort.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Die Kommission empfiehlt“ heißt es auf 50 Spiegelstrichseiten im letzten Teil des Enquete-Berichts und als Fazit von zwei Jahren Fleißarbeit. Herr Kollege Hilbers, um es gleich am Anfang zu sagen: Ich finde es sehr verdienstvoll, dass wir darauf

verzichtet haben, diesen 50 Seiten 20 weitere hinzuzufügen. Masse und Klasse bleibt ein Unterschied.

Was empfiehlt die Kommission? - Zum Beispiel die in der Veränderung der Bevölkerungsstruktur liegenden Chancen zu nutzen. Sie empfiehlt, ein attraktives Bild der unternehmerischen Selbstständigkeit von Frauen und Männern zu vermitteln. Sie empfiehlt, mehr Aufklärung über die Chancen einer generationengerechten Wirtschaft zu betreiben. Sie empfiehlt weiterhin, deutlich zu machen, dass eine gute Bildung und Ausbildung als zentraler Faktor im überregionalen und internationalen Wettbewerb gesehen werden müssen. Sie empfiehlt, die Bildungspotenziale aller optimal zu nutzen und auszuschöpfen. Sie empfiehlt, Innovationspolitik als Querschnittsaufgabe zu betreiben. Sie empfiehlt weiterhin, Maßnahmen zu unterstützen, die mehr arbeitsfähigen Menschen die Arbeitsaufnahme erleichtert.

Hätten Sie das gedacht? - Ich fürchte, ja. Ist das neu für Sie? - Ich fürchte, nein. Genau das sind nur einige Selbstverständlichkeiten und Banalitäten von den ersten fünf der 50 Seiten. Das ist das, was wir mit der „Enzyklopädie der Unverbindlichkeiten“ und den zwei verlorenen Jahren meinen.

(Zustimmung von Enno Hagenah [GRÜNE])

Ich nenne gerne noch weitere Beispiele: Die Kommission empfiehlt den Ausbau verlässlicher, flexibler und bedarfsgerechter Bildungs- und Betreuungsstrukturen. Sie empfiehlt, die spezifische Leistungsfähigkeit von Menschen mit Behinderungen anzuerkennen. Sie empfiehlt - ganz wichtig bei dieser Landesregierung - dem Land, die Landesplanung als wichtiges Steuerungsinstrument zu erhalten. Sie empfiehlt die Stärkung der kulturellen Identität der Orte. Die Kommission empfiehlt, jedes Kind entsprechend seinen individuellen Fähigkeiten bestmöglich zu fördern.

(David McAllister [CDU]: Das tun wir doch!)

Sie empfiehlt weiterhin, durch gezielte Maßnahmen ein kinderfreundliches Klima in Niedersachsen zu entwickeln. - Man höre und staune! Ich höre damit jetzt auf. Da der Bericht jetzt vorliegt, hat jeder die Möglichkeit, sich das selbst zu Gemüte zu führen, wenn er denn über genügend Ausdauer verfügt.

Die FDP hat den Bericht „Handbuch für die politische Arbeit der nächsten Jahre“ genannt. Ich mahne zur Vorsicht. Wenn Sie diesem Fahrplan folgen, dann kommen Sie überall und nirgends hin, aber auf keinen Fall an ein Ziel, das „Positive Gestaltung des demografischen Wandels in Niedersachsen“ heißt.

Zum Verfahren will ich nicht mehr viel sagen; die Kollegin Heiligenstadt hat das schon sehr anschaulich geschildert. Die Probleme wurden ja bereits in der Vordiskussion benannt. Wir hatten eine Überlagerung der Arbeit durch aktuelle politische Auseinandersetzungen in dieser Wahlperiode. Das lässt sich bei der politischen Zusammensetzung dieser Kommission nicht verhindern. Aber es verhinderte natürlich auch aufseiten der Mehrheitsfraktionen immer wieder den Zugang zu ideologiefreien Zukunftslösungen.

Selbst die Analyse, also der Faktenteil, war vor schwarz-gelber Mehrheitszensur nicht sicher, und zwar immer dann nicht, wenn Aussagen möglicherweise kritische Interpretationen der aktuellen Landespolitik zuließen. Das ging so weit - die Kollegin hat es geschildert -, dass selbst unliebsame Grafiken, weil sie sehr deutlich waren, schlicht und einfach auf den Index kamen.

(Jörg Bode [FDP]: Na, na, na!)

Aber eines hat der Bericht natürlich gezeigt: Die Notwendigkeit zum Handeln hat er erneut belegt. Ich muss hier nicht noch einmal die gesamten statistischen Rahmendaten darstellen. Tiefgreifende Veränderungen in der Anzahl, der Struktur und dem Altersaufbau unserer Bevölkerung stehen uns bevor. Wie beim Klimawandel stellen sich uns zwei Aufgaben: Die Entwicklung selbst muss gebremst und langfristig umgekehrt werden, und die nicht mehr zu korrigierenden Veränderungen - Professor Birk hat einmal gesagt, dass es nicht fünf Minuten, sondern 30 Jahre nach zwölf ist - müssen bewältigt und gestaltet werden. Je eher das passiert, desto größer sind auch der Spielraum und die Wirksamkeit begrenzender oder gestaltender Konzepte. Die Anpassungsstrategien wirken mit erheblicher Verzögerung. Selbst wenn die Kinderzahlen von heute auf morgen so ansteigen würden, dass unser Geburtendefizit sofort ausgeglichen wäre, dauerte es mindestens eine Generation, bis das die volle Wirkung entfalten könnte.

Einsichtig ist doch auch: Je später gehandelt wird, desto teurer und schmerzhafter werden die Maß

nahmen. Deshalb - darum kann man nicht herumdiskutieren, Herr Hilbers - haben wir vor drei Jahren begonnen, handlungsorientierte Initiativen zur demografiegerechten Anpassung von Infrastrukturen und zur städtebaulichen Entwicklung einzufordern. Wir haben Anträge zur Zukunft der Pflege und zu den Chancen einer Seniorenwirtschaft eingebracht. Der Hinweis auf zwei verlorene Jahre bleibt also bestehen. Deshalb haben wir die Vorlage des heutigen Berichts erneut genutzt, hier ein sofortiges Handeln einzufordern. Es ist klar, dass ein solcher Antrag nicht den gesamten Handlungsbedarf abbilden kann. Aber wir haben einige für uns wichtige Punkte herausgestellt und beantragen, über diese heute sofort abzustimmen, weil wir es eilig haben.

Lassen Sie uns ein paar demografiepolitische - ich betone: demografiepolitische - Fachpunkte im Einzelnen anschauen. Nach dem Grundsatz „So früh wie möglich beginnen“ muss unser erstes Augenmerk natürlich den Kleinen gelten. Eine kinderfreundliche Gesellschaft zeichnet sich durch ein quantitativ und qualitativ gutes Angebot an Einrichtungen für die frühkindliche Betreuung und an Kindergärten aus. Frankreich ist dafür ein guter Beleg. Mit 21 Kindern auf 10 Frauen ist Frankreich Spitze in Europa. Die Grundlage ist ein hervorragendes Betreuungsangebot. Frankreich gibt dreimal soviel Geld dafür aus wie Deutschland und fördert die Berufstätigkeit von Müttern. Auch die skandinavischen Länder zeichnen sich durch eine hohe Betreuungsdichte aus und liegen mit 18 Kindern je 10 Frauen immer noch gut im Rennen.

(Karl-Heinz Klare [CDU]: Hohe Beiträ- ge!)

Es zeigt sich also, Herr Klare: In Ländern, in denen viele Mütter arbeiten, ist die Geburtenrate besonders hoch. Das sollte Anhängern des 3-K-FrauenBildes und der Rabenmüttertheorie zu denken geben. Dabei denke ich nicht nur an Bischöfe.

Eine entscheidend bessere Versorgung wird aber nicht mit halbherzigen Appellen zu erreichen sein. Wir wissen doch, wie es geht. Der Durchbruch bei der Kindergartenversorgung Anfang der 90erJahre wurde erst mit der Einführung des Rechtsanspruchs erreicht. Deshalb brauchen wir auch in diesem Fall den Rechtsanspruch auf einen Ganztagsplatz ab dem vollendeten ersten Lebensjahr.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Begleitet werden muss das Ganze natürlich auch durch eine bessere Ausbildung der Menschen, die unsere Kinder betreuen und ausbilden.

Ein Weiteres ist mir wichtig: Diese Gesellschaft muss besser auf ihre Kinder achten, wenn Eltern damit überfordert sind. Dazu gehören auch Pflichtuntersuchungen. Die Empfehlung der Kommission, mindestens eine dieser Pflichtuntersuchungen einzuführen, war ein Kompromiss. Dass die Sozialministerin selbst den ablehnt, ist ein Armutszeugnis für diese Landesregierung.

(Beifall bei den GRÜNEN und Zu- stimmung bei der SPD)

Meine Damen und Herren, wenn Fachwissenschaft und gute Beispiele zeigen, dass die beste Potenzialausschöpfung bei unseren Schülerinnen und Schülern gelingt, wenn sie gemeinsam, aber individuell gefördert werden, wenn wir wissen, dass nur dies die Chancen zur Überwindung von Sozialschranken verbessert, wenn bekannt ist, dass vor allem die gemeinsame Schule die Integrationschancen verbessert,

(Ursula Körtner [CDU]: Dorfschule für alle!)

sei es für Migranten, Frau Kollegin, oder sei es für Menschen mit Behinderung, und wenn noch hinzukommt, dass gemeinsame Schule in Schrumpfungsregionen wegen besserer lokaler Auslastung mit reduzierten Schulwegen Schulstandorte sichern kann und nicht verhindert, wie Sie dauernd fälschlicherweise behaupten, dann ist die eingliedrige Ganztagsschule die Schule des demografischen Wandels.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Es ist wichtig, dass man Schulpolitik an den Erfordernissen des demografischen Wandels ausrichtet und nicht davon abhängig macht, ob sie in das individuelle Weltbild eines Herrn Busemann passt.

(Zustimmung bei den GRÜNEN - Ur- sula Körtner [CDU]: Deswegen ist die Orientierungsstufe auch abgeschafft!)

Meine Damen und Herren, da wir wissen, dass dieses Thema zu den Punkten gehört, bei denen diese Landesregierung die größte Beratungsresistenz zeigt, will ich mir an dieser Stelle weitere Ausführungen dazu sparen. Aber ich sage Ihnen: Wir verlieren wertvolle Zeit, wenn wir warten, bis ein erneutes Scheitern oder der wachsende El

ternwille diese Landesregierung zwingt, das Notwendige zu tun.

Das mit der Beratungsresistenz gilt auch für das Thema Hochschulen. Als sei nichts einfacher als das, bieten uns Schwarz-Gelb im Kommissionsbericht und die Landesregierung die Quadratur des Kreises an. Wir haben Bedarf an zusätzlichen Studienanfängerplätzen. Zusätzlich ist die Steigerung unserer grottenschlechten Akademikerquote erforderlich.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Wir brauchen eine Verbesserung der Leistungsqualität in Studium und Lehre, um die Abbrecherquote und die Studiendauer zu senken. Wir müssen Hürden für den Hochschulzugang abbauen. All das soll nach Meinung der Mehrheitsfraktionen auch weiter geschehen. Wenn wir uns aber anschauen, wie, dann stellen wir fest: mit sinkenden Studienplatzzahlen, mit weniger Geld und mit Studiengebühren schon im Erststudium. Meine Damen und Herren, das ist eine Strategie, um die Hochschulen zu verschlanken, aber nicht, um sie im Sinne wirtschaftlicher Stabilität demografiefest zu machen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Mit der konjunkturellen Erholung - Sie alle haben es mitbekommen - hat uns auch jetzt wieder die Diskussion um einen drohenden Fachkräftemangel erreicht. Mit dem massiven Rückgang des Anteils der erwerbsfähigen Bevölkerung ist dieses Problem als Dauerzustand absehbar. Wir kennen seit Langem die Quellen, die wir neben einer guten Ausbildung für unsere Kinder und Jugendlichen nutzen müssen, um diesem Mangel zu begegnen: Es ist die verstärkte Berufstätigkeit von Frauen. Es ist eine bessere Integration von Menschen mit Migrationshintergrund in unseren Arbeitsmarkt. Es ist die längere Nutzung der Arbeitskraft von älteren Menschen - nicht zuletzt durch Gesundheitsprävention und durch Weiterbildung. Es ist die Ausschöpfung der spezifischen Potenziale von Menschen mit Behinderungen und nicht zuletzt eine vermehrte Zuwanderung.

An keiner Stelle werden diese Chancen wirklich ergriffen, meine Damen und Herren. Bei den Frauen bremst nach wie vor das etwas verschwiemelte Heile-Welt-Familienbild, das in weiten Teilen der CDU noch vorhanden ist und auch in der Kommission immer wieder aufgetaucht ist. Die Integrationsbemühungen für die Migranten treten besten

falls auf der Stelle, und nach wie vor werden gut integrierte Familien mit bei uns gut ausgebildeten Kindern abgeschoben. Die Verjüngung von Belegschaften - möglichst auf Steuerzahlerkosten - ist nach wie vor gängige Praxis. Die Weiterbildung im Beruf - schauen Sie sich die Statistiken an - ist seit Jahren kontinuierlich rückläufig. Das persönliche Budget, das für Menschen mit Behinderungen größere Freiräume schafft, kommt wegen klein karierter Rahmenbedingungen nicht zum Durchbruch. Schließlich, meine Damen und Herren, waren die Hürden, um in unser Land zu kommen, noch nie so hoch wie heute. Die Zuwanderung ist geradezu zusammengebrochen.

Noch ein paar Aussagen zum Stichwort „Gesundheitsversorgung“ - sicherlich eines der heiklen Kapitel. Die geringere Auslastung in Schrumpfungsregionen, aber auch die diagnostische und therapeutische Spezialisierung mit ihren technischen Innovationen führen in der Tendenz zur Zentralisierung. Da beißt die Maus keinen Faden ab. Es ist extrem realitätsfern, wenn die CDU entsprechende Probleme für kleine Krankenhäuser einfach negiert und nicht zur Kenntnis nimmt. „Small is beautiful“ wird übrigens nicht nur an dieser Stelle zum ideologischen Dogma erhoben, ohne es mit einer funktionellen Lösung zu verbinden. Am Ende gibt es dann wieder verstolperte Haurucklösungen ohne Konzept.

Auch der dringende Handlungsbedarf für eine spezialgeriatrische Versorgung - Frau Heiligenstadt hat es ausgeführt - wurde in der Kommission mit dem Hinweis auf angebliche Überkapazitäten schlicht geleugnet.

(Reinhold Hilbers [CDU]: Die sind doch vorhanden!)

Als Frau Lehr dann Unterlagen einbrachte, die den hohen Bedarf belegen, war es leider schon zu spät, um noch Änderungen am Bericht vorzunehmen. Wir haben diesen Punkt in unseren Antrag aufgenommen, um diesen Mangel zu heilen.

Herr Hilbers, ich muss es noch einmal ansprechen: Diese Forderungen standen bereits in unserem Antrag vom April 2005 „Der demografische Wandel erfordert eine andere Politik: Zukunft der Pflege in Niedersachsen - Perspektiven für 2030“ - vielleicht erinnern Sie sich. Diese Forderungen bildeten damals einen Teil eines umfassenden Handlungskonzeptes zur Sicherung der Pflege vor dem Hintergrund des demografischen Wandels. Zugege

ben: Sie finden viele der dort aufgeführten Punkte im Kommissionsbericht wieder. Der kleine Unterschied sind 27 verlorene Monate.

Stichwort „Landesplanung“: Meine Damen und Herren, für eine angepasste Siedlungsentwicklung und die Sicherung der Daseinsvorsorge braucht man eine Stärkung des Zentrale-Orte-Prinzips in der Landesplanung. Für die Zahl und die Struktur der Zentralen Orte müssen Planungsvorgaben entsprechend der Bevölkerungsentwicklung gemacht werden. Da darf auch der Wegfall eines solchen Prädikates kein Tabu sein. Es darf auch keine Aufweichungen geben, wie es jetzt im Landes-Raumordnungsprogramm vorgesehen ist. Es geht darum, auf der grünen Wiese keine Neubaugebiete mehr zuzulassen, wenn dies nicht notwendig ist. Vielmehr geht es darum, vorhandenen Wohnraum und bebaute Flächen besser zu nutzen, um nicht neue Verkehre und neue Verkehrsinfrastruktur entstehen zu lassen und nicht neue Ver- und Entsorgungsanlagen und neue Kitas und Schulen zu bauen, sondern die vorhandenen besser auszulasten.

Kurzum: Demografie braucht mehr Planung. Da waren wir wieder bei der Überlagerung durch die Tagespolitik. In der Kommission wurde von Schwarz-Gelb peinlich genau darauf geachtet, den Enquete-Bericht auch mit den laufenden Planungen zur Novellierung des Landes-Raumordnungsprogramms kompatibel zu machen. Darin steht nämlich genau das Gegenteil: Die Entwicklung könne man getrost dem freien Spiel der Kräfte und dem gemeindlichen Bürgermeisterwettbewerb überlassen. - Meine Damen und Herren, so geht es nicht!