Protokoll der Sitzung vom 19.10.2007

In der Antwort auf die Große Anfrage finden wir zwar, dass von 2002 bis 2005 die Versorgungsquote für Kinder unter drei Jahren in Tageseinrichtungen von 6,2 % auf 10,7 % gestiegen ist. Die Steigerungsrate liegt damit bei beachtlichen 47 % - daraus werden in der Antwort auf die Kleine Anfrage 55 % -, wie die Landesregierung vermerkt. Allerdings sind bei derartig niedrigen Versorgungsquoten die Steigerungsraten doch kein Ausweis für Erfolg. So wird eine 327-prozentige Steigerung notwendig sein, um das zwischen Bund und Ländern vereinbarte Zwischenziel - nämlich diese 35 % - zu erreichen. Selbst dann läge Niedersachsen noch nicht einmal bei der Hälfte des Versorgungsgrades der östlichen Bundesländer oder europäischer Nachbarländer.

Meine Damen und Herren, tatsächlich ist dieses Verdienst in erster Linie den Kommunen zuzurechnen, in deren Aufgabenbereich die Tageseinrichtungen fallen.

(Zuruf von Astrid Vockert [CDU])

- Das stimmt so nicht. Frau Kollegin Vockert, Sie wissen, dass ich Sie schätze. Ich darf Sie einmal persönlich ansprechen. Ich weiß von uns, dass wir in vielen Bereichen übereinstimmen.

(Astrid Vockert [CDU]: Wir beide im- mer!)

Ich bestreite auch nicht, dass es auch in der Vergangenheit Versäumnisse gegeben hat.

(Astrid Vockert [CDU]: Danke!)

Aber gerade daraus sollten wir den Schluss ziehen, dass solche Versäumnisse nicht wiederholt werden sollten.

(Astrid Vockert [CDU]: Sehr schön! Darin sind wir uns ja einig!)

Es ist also ein Verdienst der Kommunen. Eine Reihe von Plätzen ist zudem dadurch entstanden,

dass freigewordene Plätze in Kindergartengruppen für unter Dreijährige zur Verfügung gestellt wurden. Das ist eine zeitgemäße und konsequente Maßnahme.

Betrachtet man die vorhandenen Krippen, so fallen die acht weißen Flecken ins Auge: Landkreise, die zum Stichtag ohne Krippe waren. Es wäre müßig, jetzt etwa diskutieren zu wollen, ob in diesen Regionen Krippen notwendig sind. Aus unserer Sicht muss die Landesregierung diese Regionen beraten und fördern, um ein Krippenangebot umgehend aufzubauen.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, eines muss allen klar sein: Wenn diese Landesregierung dem Bildungsauftrag gerecht werden will, dann wären Schönfärberei und ein Sich-herausredenWollen die untauglichsten Mittel. Aus den Tabellen lässt sich errechnen, dass die durchschnittliche Größe einer Krippengruppe zurzeit bei 12,8 Kindern liegt. Das entspricht dem KiTaG. Dennoch ist die Frage bildungspolitischen Handelns zu stellen. Professor Fthenakis, der ja bei der CDU zu Gast war, nennt eine Zahl von höchstens zehn Kindern in Krippengruppen. „Besser sind sechs“, so sein öffentliches Bekenntnis.

Wie in der Antwort weiter zu finden, werden natürlich die Gruppengrößen bei der Aufnahme von Kindern unter drei Jahren in altersgemischten Gruppen reduziert, wenn es mehr als drei Kinder sind. Die Zahlen liegen bei 17 + 4, bei 13 + 6 und bei 11 + 7 Kindern. Wie dies angesichts der gerade genannten Position von Professor Fthenakis zu beurteilen ist, muss ich nicht weiter erläutern. Auch hier besteht dringender Handlungsbedarf.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Landesregierung antwortet, dass sie wesentliche Daten aus den jährlichen Personal- und Platzzahlmeldungen - abgekürzt: PPM - gewinnt. Bei einer Reihe von Fragen werden jedoch genau diese Angaben nicht genutzt. So geben die Träger natürlich die Öffnungszeiten der Einrichtungen an. Sie geben an, welche Fachkraft in welcher Gruppe arbeitet. Und aus den PPM aufeinanderfolgender Jahre lässt sich ersehen, welche Veränderungen eingetreten sind, wo z. B. Kindergartengruppen in sogenannte Familiengruppen umgewandelt worden sind. Schließlich müssen für diese Veränderungen ja auch die entsprechenden Betriebserlaubnisse erteilt werden.

Möglicherweise hat hier beim Kultusminister die Schnelligkeit vor der Sorgfalt gesiegt. Dafür spricht meines Erachtens auch, dass die Antwort der Landesregierung schon zwei Tage vorher in den Medien besprochen wurde, bevor sie uns Abgeordneten zur Verfügung stand.

Meine Damen und Herren, die Konsequenz ist jedenfalls, dass zu allen Fragen die Antworten völlig unzureichend sind. Wenn in einer Reihe von Antworten das Gesetz zitiert wird, das uns sagt, wie der Sollzustand zu sein hat, dann kann schon das Gefühl entstehen, die Fragesteller sollen hier für dumm verkauft werden. Gleichzeitig - und diese Möglichkeit sollte ich wohl nicht ausschließen - hat der Minister auch die Abkürzung PPM für Personal- und Platzzahlmeldung bewusst zitiert, wohl wissend, dass die gebräuchliche Definition parts per million ist. Das ist die Maßeinheit für die Verteilung eines Stoffes in einem Medium in millionstel Teilen - und genauso kommt einem manchmal die Antwort vor.

(Beifall bei der SPD)

Meine sehr geehrten Damen und Herren, machen wir uns nichts vor. Wir wissen hier im Parlament und in den demokratischen Gremien, aber auch in der Fachpraxis noch viel zu wenig darüber, wie sich Kinder unter drei Jahren Wissen und Bildung erarbeiten. Dazu möchte ich Ihnen drei Hinweise geben.

Erstens. Frau Dr. Schneider vom Deutschen Jugendinstitut berichtete, dass sie ihre Studenten in den Seminargruppen regelmäßig fragt: Wer ist im letzten halben Jahr länger als eine halbe Stunde mit einem Kind unter zwei Jahren auf eine Distanz von unter zwei Metern zusammen gewesen? - Einfache Frage. Dabei zählt alles, also auch das fremde Kind in der Straßenbahn auf dem Arm der Eltern. In der Regel melden sich von 25 bis 30 Studentinnen und Studenten 1 oder 2. Wenn sie dann - so berichtete sie weiter - diejenigen abzieht, bei denen es das eigene Kind ist, dem sie so nahe gewesen sind, dann bleibt oft gar kein Student übrig.

Zweitens. Frau Dr. Schneider zeigte bei einer Veranstaltung hier in Hannover vor einem halben Jahr einer Gruppe von etwa 60 Erzieherinnen und Erziehern eine Videosequenz mit dem Verhalten eines Zweijährigen auf dem Spielgelände eines Kindergartens. Niemand kann ihre Frage beant

worten, was da gerade zu sehen war, welchen Bildungsschritt dieses Kind für sich erarbeitet hat.

Drittens. In einer Arbeitsgruppe mit Erzieherinnen und Erziehern zur Bildung der unter Dreijährigen erklärte vor wenigen Wochen mehr als die Hälfte von ihnen, dass diese Themen in ihrer Fachschulausbildung nicht behandelt wurden.

Diese praktischen Erfahrungen decken sich nicht mit den Antworten der Landesregierung. Hier werden Defizite deutlich, die beseitigt werden könnten, wenn zielgerichtet gehandelt würde. Ich darf noch einmal auf die Antwort auf die Kleine Anfrage hinweisen: Das genau ist unsere Richtung, der die Landesregierung aber leider nicht entsprochen hat. Auch hier muss man den Eindruck gewinnen, dass die Fragesteller eher für dumm verkauft werden sollen.

Meine Damen und Herren, die Studie „Renditen der Bildung - Investitionen in den frühkindlichen Bereich" des Instituts der deutschen Wirtschaft im Auftrag der „Wissensfabrik - Unternehmen für Deutschland“, herausgegeben im Februar dieses Jahres, zeigte deutlich, dass Investitionen nicht nur in die Quantität, sondern vor allem auch in die Qualität der frühkindlichen Bildung notwendig sind. Die sogenannte Reformrendite, die sich dann für den Staat erzielen ließe, stiege von 3 % auf 8 %, d. h. um mehr als 150 %, um auch hier einmal das Spiel der großen Zahlen zu spielen. Zu den Reformschritten müssen demnach gehören: die Einführung von Mindeststandards - im Falle unseres Landes also z. B. die Verbindlichkeit des Orientierungsplanes -, die Verbesserung der individuellen Förderung - das könnte bedeuten: Sprach- und Bewegungsförderung als Teil der basalen Pädagogik - und die Höherqualifizierung der Erzieherinnen und Erzieher.

Der finanzielle Aufwand für die Bundesrepublik wird mit 1,3 Milliarden Euro jährlich für höhere Gehälter und mit 0,4 Milliarden Euro jährlich für die individuelle Förderung beziffert. Auf das Land entfiele etwa ein Zehntel der genannten Summen. Aus der Studie wird auch deutlich, dass jedes weitere Abwarten und Nichthandeln die Reformbilanz verschlechtert und Kinder weiter ins Abseits stellt.

Das Institut der deutschen Wirtschaft schreibt in seinem Resümee:

„Setzt der Staat die beschriebenen Maßnahmen in Kindergärten und Grundschulen um, rentiert sich der

Aufwand für ihn langfristig gerechnet mit rund 8 % - die Rendite ist also weitaus höher als bei vergleichbaren Kapitalanlagen, wie etwa Staatsanleihen.“

Die Antwort auf unsere Große Anfrage liefert zwar Hinweise, macht aber auch große Defizite deutlich. Die Landesregierung ist aufgefordert, die Datenbasis zu vervollständigen. Wir werden weitere Anträge zur Umsetzung eines schlüssigen Konzeptes in der frühkindlichen Bildung einbringen. - Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD)

Danke, Herr Robbert. - Jetzt hat Herr Minister Busemann das Wort.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin der SPD-Landtagsfraktion dafür dankbar, dass sie mit dieser Großen Anfrage das bildungspolitische Megathema „frühkindliche Bildung“ gezielt thematisiert hat, wobei ich es aber bedauerlich finde, dass an der Diskussion über dieses so wichtige Thema nur so wenige Damen und Herren des Parlaments teilnehmen. Aber wie auch immer.

(Ulrich Biel [SPD]: Die Wichtigsten sind da!)

- Die Wichtigsten sind hier. Das ist das Beruhigende, Herr Kollege! Deswegen werden die Ergebnisse - wie Sie am Ende meiner Rede feststellen werden - auch besonders tragfähig sein.

Dies gibt mir jedenfalls Gelegenheit, hier für die Landesregierung noch einmal deutlich zu machen, was wichtig ist, was gilt. Frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung sind hier in Niedersachsen ein ganz zentrales Zukunftsthema. Wer die Politik, gerade auch meine Politik, der letzten Jahre verfolgt hat, der wird das - so glaube ich - bestätigen können.

Wir wissen alle: Auf den Anfang kommt es an. Alle nachfolgenden Bildungsschritte hängen entscheidend davon ab, inwieweit kleine Kinder im vorschulischen Alter ihre Wissbegierde stillen, ihre sozialen Fähigkeiten entwickeln und altersgemäße Lernstrategien erwerben können.

Das Thema hat für den Kultusminister, den Bildungs- und Schulminister, aber nicht nur eine bildungspolitische Dimension. Die Rahmenbedingungen für Familien haben sich in den letzten Jahrzehnten - das wissen wir alle - stark verändert. Die junge Elterngeneration ist vielfach hoch qualifiziert, aber auch die beruflichen Anforderungen sind gestiegen. Familien brauchen daher eine gute Infrastruktur, um berufliche Anforderungen meistern und gleichzeitig auch Familie mit hoffentlich vielen Kindern leben zu können.

Seit der Einführung des Elterngeldes für die Zeit nach der Geburt des Kindes wird der Handlungsbedarf unabweisbar. Es darf keine Lücke zwischen der Elternzeit und dem Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz ab drei Jahren entstehen, die die Integration von Frauen in das Erwerbsleben gefährden würde.

Damit sind wir mitten im Thema. Vorweg gesagt: Der Begriff „Krippenplätze“, meine Damen und Herren, ist eigentlich etwas irreführend. Es geht um die Bildung, Betreuung und Erziehung von Kindern unter drei Jahren, die in unterschiedlichen Betreuungseinrichtungen wie Krippen, Kindergartengruppen, altersübergreifenden Gruppen und anderen mehr aufgenommen werden können.

Dies ist seinerzeit 1993 - noch unter der rot-grünen Landesregierung - im niedersächsischen Gesetz über Tageseinrichtungen für Kinder geregelt worden. In der dazu ergangenen Durchführungsverordnung sind die sogenannten Standards entsprechend den fachlichen Erfordernissen für die Betreuung kleinster Kinder geregelt. Die waren damals so falsch nicht. Es gibt auch keine aktuelle Diskussion dazu, jetzt an den Standards gewaltig herumzuzuppeln und da herauf und herunter irgendwas zu ändern. Deswegen sollten wir jetzt das eigentliche Thema in den Blick nehmen und es nicht in Richtung Diskussion über Standards verlagern.

Selbstverständlich gilt: Die Gesamtverantwortung für die Schaffung und den Erhalt einer bedarfsgerechten Infrastruktur liegt bei den örtlichen Trägern der kommunalen Jugendhilfe und damit auf kommunaler Ebene. Das muss immer wieder gesagt werden und auch klar sein. Das Land hat deren Tätigkeiten in unserem Interesse - ich habe das hier oft ausgeführt - anzuregen und zu fördern. So zahlt das Land Niedersachsen seit 1993 für Kindertagesstätten eine Finanzhilfe in Höhe von ca. 20 % der Kosten des Fachpersonals.

Auch bei den sogenannten Krippenplätze, von denen wir hoffentlich in den nächsten Jahren eine ganze Menge aufbauen werden, sind wir abseits aller sonstigen Förderung a priori mit 20 % Finanzhilfe dabei. Das muss man wissen, denn das sind Summen, mit denen wir dann aufwarten müssen.

Durch bundesgesetzliche Vorgaben aus dem Jahr 2005 - meine Damen und Herren, ich nenne einmal in Kurzform die Stichworte TAG und KICK - ist weitere Bewegung in die Verbesserung der Betreuungssituation für Kinder unter drei Jahren gekommen. So wurde die Kindertagespflege als eine Form der Betreuung aufgewertet. Die örtlichen Träger der Jugendhilfe sind verpflichtet, ein bedarfsgerechtes Betreuungsangebot für diese Altersgruppe zu schaffen und jährlich über den Ausbaustand zu berichten.

Einiges Unverzichtbare nun zur Statistik. Die uns für Niedersachsen bisher vorliegenden Angaben erwachsen aus den bereits von den Vorgängerregierungen so praktizierten, bewährten Erhebungsverfahren. „Bewährt“ versehe ich mit einem kleinen Fragezeichen; das sage ich ganz offen. Ich bin über manche Fragen der SPD-Landtagsfraktion verwundert, die ins Leere laufen mussten, weil wir schlicht und einfach nicht über die entsprechenden statistischen Angaben verfügen. Wir haben es so gemacht wie immer, aber es ist auch uns selber nicht ausreichend gewesen, gerade in jüngster Vergangenheit.

Die uns zur Verfügung stehenden statistischen Fakten haben wir Ihnen jedoch mitgeteilt. Zum Stichtag 1. Oktober 2005 wurden in Niedersachsen 19 475 Kinder unter drei Jahren in Kindertagesstätten betreut. Das entspricht einer Versorgungsquote von 9,3 %.

In allen Tageseinrichtungen für Kinder insgesamt wurden 22 340 Kinder dieser Altersgruppe betreut. Das ist eine Versorgungsquote von 10,7 %.

Zum Vergleich: Zum Stichtag 1. Oktober 2002 - damals hatte die SPD noch das Sagen - wurden lediglich 13 243 Kinder unter drei Jahren in Kindertagesstätten betreut. Die Versorgungsquote lag damals bei schlappen 5,7 %.

In allen Tageseinrichtungen für Kinder insgesamt wurden 14 374 Kinder dieser Altersgruppe betreut, was 6,2 % entsprach.

Das heißt - das muss in dieser Debatte auch festgestellt werden -, dass innerhalb von nur drei Jah

ren die Anzahl der betreuten Kinder im Alter von unter drei Jahren in Kindertagesstätten um 47 % und in Tageseinrichtungen für Kinder insgesamt um 55 % gesteigert werden konnte.