Protokoll der Sitzung vom 27.05.2004

Ich fange bei der Frage an, die wir bisher noch nicht angesprochen haben. Es gibt nämlich nicht nur Missbrauch und fehlerhafte Ernährung bei Kindern in Bezug auf alkoholische Getränke, sondern teilweise auch schon bei Kindern im Bereich Medikamente. Man kann nicht einmal mehr von Gebrauch sprechen, sondern muss tatsächlich den Begriff „Missbrauch“ nutzen. Es gibt eine Studie der Universität Bielefeld, die das Konsumverhalten von 12- bis 17-Jährigen in Bezug auf Medikamente untersucht hat. Ich finde es erschreckend, weil man dort lesen muss, dass 30 % der Kinder in der Altersgruppe von 12 bis 17 Jahren - ich kann das nur wiederholen bereits Medikamente gegen Stress und Leistungsüberforderung nehmen.

(Heinrich Aller [SPD]: Durch das drei- gliedrige Schulsystem!)

Das ist erschreckend, wenn man diese Diskussion auch vor dem Hintergrund der allgemein strittigen Frage über die Wirksamkeit, die Wirkungen und die Nebenwirkungen gerade solcher Medikamente sieht.

Darüber hinaus wurde in dieser Studie festgestellt, dass 50 % aller Kinder dieser Altersgruppe regelmäßig, also einmal die Woche, Kopfschmerzmittel oder Medikamente gegen Erkältungen einnehmen und dass 12 % - das war für mich in der Tat eine Überraschung schon Beruhigungsmittel sowie 11 % Aufputsch- oder Anregungsmittel einnehmen. Das sollte uns an dieser Stelle zu denken geben, denn es ist eine Altersgruppe, nämlich die der 12bis 17-Jährigen, in der letztlich die Grundlage für allgemeines gesundheitsbewusstes Verhalten ge

legt wird und in der auch teilweise Ursachen für den Drogenmissbrauch zu finden sind, was Partydrogen und Designerdrogen betrifft. Auch das muss man bei der Frage Kindergesundheit an dieser Stelle offen ansprechen.

Es stellt sich die Frage: Was kann die Politik insgesamt an dieser Stelle tun? - Die FDP-Fraktion hat bereits vor einem Jahr gefordert, dass zumindest dem Bereich „mehr Bewegung“, aber auch dem Bereich „bessere Ernährung“ in der Schule ein verstärktes Augenmerk gewidmet wird.

(Beifall bei der FDP und bei der CDU)

Ich will Ihnen das kurz erläutern. Es geht nicht allein um das theoretische Wissen von körperlichen Zusammenhängen und von gesunder Ernährung, sondern geht es uns ganz konkret um ganz praktische Beispiele wie das gemeinsame Frühstücken. Zu Hause wird leider nicht mehr vorgelesen, wie das mein Vater früher noch getan hat,

(Heinrich Aller [SPD]: Weil sie Nacht- schichten und drei Nebenjobs haben!)

und es wird auch nicht mehr zusammen gefrühstückt, so wie ich das einmal gelernt habe - gesundes Frühstück: mit Brötchen, Marmelade und Kakao.

(Zuruf von der SPD)

- Kakao ist gesund. Diese Diskussion hatte ich mit meinen Eltern auch. Jetzt bin ich aber Arzt, und ich weiß, dass Kakao gesund ist, meine sehr verehrten Damen und Herren. Das will ich hier öffentlich festhalten.

Es gibt größtenteils nur noch den Schokoriegel und die Dose Cola zwischendurch. Deswegen finde ich es sehr sinnvoll, dass Projekte der jetzigen Landesregierung gemeinsam mit den Landfrauen angegangen werden, wie z. B. einfach einmal gemeinsam zu frühstücken,

(Beifall bei der FDP und bei der CDU)

oder dass gemeinsam mit der Fleischerinnung Projekte gestartet werden, wie „Essen und Emotionen“, um auch die Vielfalt von gesunder Ernährung jungen Menschen deutlich zu machen.

(Zuruf von der SPD: Das ist alles Schwachsinn!)

- Ich halte das nicht für Schwachsinn, Herr Kollege, sondern ich halte es für dringend notwendig.

(Beifall bei der FDP und bei der CDU - Karl-Heinz Klare [CDU]: „Schwach- sinn“ braucht einen Ordnungsruf!)

Ein weiterer Teil ist mindestens genauso notwendig, nämlich die Frage ausreichender Bewegung. Ich habe mir im Studium sagen lassen, dass Kinder im Wachstum täglich zwei Stunden Bewegung brauchen. Jeder hatte in seiner Lebensphase ja mal eine Revoluzzerphase gehabt. Ich hatte das auch. Da stand auf meinem Federmäppchen: Erst lernt das Kind gehen und sprechen und dann stillzusitzen und den Mund zu halten. Es ist heutzutage leider so, dass sich die Kinder in ihrem allgemeinen Alltagsleben kaum noch bewegen. Sie werden von den Eltern oder mit dem Bus zur Schule gefahren, sitzen dann in der Schule, fahren wieder nach Hause und setzen sich dort vor den Fernseher oder den Computer. Deshalb fordern wir auch, ein verstärktes Augenmerk auf den Bereich des Schulsportes zu legen. Wir sind der Landesregierung sehr dankbar dafür, dass das momentan angegangen wird. Es geht dabei nicht um das Erlernen einzelner Sportarten, sondern darum, deutlich zu machen, dass das Sich-Betätigen auch in der Freizeit Sinn machen kann.

Ich war Arzt bei der Bundeswehr, und wenn ich junge Menschen untersucht habe, habe ich feststellen müssen, dass sie in einem katastrophalen körperlichen Zustand gewesen sind. Wenn ich dann gefragt habe, ob sie sich selbst für sportlich halten, haben Sie geantwortet: Aber selbstverständlich. Ich bin der beste Inlineskater in der Stadt. - Meine sehr verehrten Damen und Herren, zum Sport gehört etwas mehr, als Inlineskates zu fahren. Es ist auch eine Aufgabe von Schulsport, das wieder einmal deutlich zu machen.

(Beifall bei der FDP und bei der CDU)

Es geht uns auch um die Frage von Untersuchungen; das wurde schon erwähnt. Im Rahmen der Überarbeitung des Gesundheitsdienstgesetzes von 1934 wird auch die Frage der Schuleingangsuntersuchungen von den Sozialpolitikern der Koalition noch einmal beleuchtet. Ich halte es für sehr wichtig, dass wir eine solide Datenbasis haben, auf deren Grundlage wir vernünftige Entscheidungen treffen können. Wir erwarten eigentlich, dass alle Kinder sechs bis zwölf Monate vor der tatsächlichen Einschulung nach einem standardisierten Verfahren gesundheitlich untersucht werden und dass diese Daten auch ausgewertet werden - Grundsatz: Daten für Taten -, um letztlich die

Handlungsfelder für Gesundheitsprävention besser als bisher festlegen zu können. Auch an dieser Stelle ist die Landesregierung auf dem richtigen Weg.

Als Letztes - die Klingel ertönt - ein Dank an die Landesregierung. Die Untersuchungen U 1 bis U 9 und J 1 wurden angesprochen. Viele Familien nehmen bisher diese kostenlosen - das kann man nicht oft genug betonen - Untersuchungsmöglichkeiten nicht wahr, weil vielen nicht klar ist, dass diese Untersuchungen kostenlos sind und viele einen Migrationshintergrund haben. Hierbei ist von der Landesregierung der richtige Weg beschritten worden, solche Hinweise auch einmal in unterschiedlichen Sprachen herauszugeben, z. B. in Türkisch und Russisch. Auch das ist ein Beitrag zu einer besseren Kindergesundheit.

Ich komme zum Schluss, meine sehr verehrten Damen und Herren. Wenn es drei Ebenen zum Thema Kindergesundheit gibt, nämlich zum einen die Frage von mehr Bewegung, zum anderen die Frage einer besseren Ernährung und als Drittes mehr Gesundheitsaufklärung, dann, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist die jetzige Landesregierung aus CDU und FDP auf dem richtigen Weg. - Ich danke für die Aufmerksamkeit.

(Lebhafter Beifall bei der FDP und bei der CDU)

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Rösler. - Für die Landesregierung hat sich nun noch einmal Ministerin Frau Dr. von der Leyen zu Wort gemeldet. Bitte schön!

(Ulrich Biel [SPD]: Jetzt müssen Sie ein bisschen Herrn Rösler widerspre- chen! Marmelade ist nicht gesund!)

Die Marmelade diskutieren wir hinterher.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Albers, wenn Sie eine Zwischenfrage von mir als Abgeordneter nicht zulassen, dann muss ich mir etwas Bewegung machen - Bewegung ist gesund und noch einmal für die Landesregierung sprechen. Wenn Sie sich schon Reden schreiben lassen, dann sollten Sie zumindest den Hintergrund genau recherchieren.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP - Oh! bei der SPD)

Wenn Sie sich den Beschluss der Jugendministerkonferenz angeschaut hätten - Sie hätten den Vorbeschluss, über den diskutiert worden ist, bei einer sauberen Recherche auch gesehen -, dann hätten Sie am Anfang des Papiers, das lang ist, u. a. die Aussage gefunden, dass wir die Sondersteuer begrüßen. Die Passage ist von allen Ländern, den Aund den B-Ländern, in der Jugendministerkonferenz herausgestrichen worden. Das sind die Experten. Das spricht Bände! Mit den repressiven und den präventiven Ansätzen von Land und Bund ist u. a. die Umsetzung des Jugendschutzgesetzes gemeint. So einfach ist das gewesen. Den ersten Teil muss man dann auch nennen. Es ist kein einziges Wort von der Sondersteuer mehr drin. - Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Danke schön, Frau Ministerin. - Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen erteile ich nunmehr Frau Janssen-Kucz das Wort.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin Herrn Dr. Rösler sehr dankbar, dass er die Themen, die auf der politischen Agenda stehen sollten, noch einmal skizziert hat. Aber dies Themen, die Sie skizziert haben und die auch mir und uns Grünen unter den Nägeln brennen, tauchen in dieser so genannten Großen Anfrage gar nicht auf. Sie werden außen vor gelassen. In meinen Augen ist das auch nicht eine Große Anfrage, sondern eher eine Kleine Anfrage. Viele Antworten sind sehr dürftig, unkonkret, und zukunftsweisende Handlungsansätze kann ich in der Antwort der Landesregierung nicht erkennen. Ich finde es sehr gut, dass Frau Dr. von der Leyen eben klar gesagt hat, wir planen eine Initiative in Richtung Bewegung. Das ist positiv. Aber warum taucht das in der Antwort nicht auf? Das kann ich nicht nachvollziehen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Es ist sehr gut, dass es die Grundlage des Niedersächsischen Kinder- und Jugendgesundheitsberichtes aus dem Jahr 2002 der alten SPDLandesregierung gibt. Daraus haben wir wenigstens Daten. Daraus wurden auch Teile der Ant

worten skizziert. Aber auch die Unterlagen aus dem Jahr 2002 haben sehr deutlich gemacht, dass ein ganzheitliches Konzept fehlt, dass eine mangelnde Koordinierung im Gesundheitsbereich offensichtlich ist und dass weiterhin lebenslagenorientierte Untersuchungen nicht vorhanden sind. Das wurde in der Antwort auf diese Anfrage in großen Teilen noch einmal bestätigt.

Ich habe bei Ihrer Anfrage den Eindruck gehabt, dass man versuchte, Aktivitäten vorzutäuschen, die nicht so groß sind, wie sie den Anschein haben. Es ist für mich nicht viel Süßes dabei herausgekommen, sondern eher ein bitterer Beigeschmack, weil offensichtlich ist, dass die fachliche Basis als Grundlage für eine problemorientierte Gesundheitsberichterstattung und für eine inhaltlich zielgerichtete Arbeit in den Kommunen fehlt.

Uns fehlt das Gesetz für den öffentlichen Gesundheitsdienst. Seit einem Jahr warten wir auf eine Vorlage, aber bis dato haben wir nur die Eckpunkte vorgelegt bekommen. Ich hoffe, dass es Ihnen nicht so geht wie der SPD, dass es nach vielen Vorlagen wieder in der Schublage verschwindet.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Seien Sie doch einfach mutig im Interesse der Gesundheitsversorgung der Kinder und Jugendlichen in Niedersachsen! Wir brauchen das Gesundheitsdienstgesetz mit klaren inhaltlichen Vorgaben, um ein Abrutschen der kommunalen Gesundheitsvorsorge in die Beliebigkeit zu verhindern.

Meine Damen und Herren, die Anfrage und auch die Antworten darauf lassen viele wichtige Themen der Gesundheitsversorgung aus. Viele neue Krankheitsbilder bei Jugendlichen - Adipositas, Allergien, ADS, psychische Erkrankungen - kommen mit keiner Silbe darin vor. Die anderen haben Sie ja auch skizziert. Medikamentenmissbrauch: Wie wird was von Ärzten verschrieben? Welche Verantwortung haben Ärzte gegenüber Familien mit Kindern auch im Bereich der gesundheitlichen Aufklärung?

Wichtig wäre es auch, innerhalb der Gesundheitsberichterstattung und der Schuleingangsuntersuchungen mehr auf lebenslagenorientierte Parameter abzustellen. Dann könnten wir endlich zielgruppengenaue Programme schneidern und problemzentrierter arbeiten. Ich meine, das ist gerade in Zeiten knapper Kassen notwendig.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Stattdessen fahren Sie im zweiten Teil wieder den alten seuchenhygienischen Ansatz, und Impfschutz allerorten wird gepredigt, obwohl wir eigentlich wissen, wie weit wir mit dem Predigen gekommen sind und dass wir viele Gruppen heute damit nicht erreichen, insbesondere sozial schwache Familien, Familien mit Kindern und Migrantenfamilien.

Es bleibt für mich festzuhalten: Das Thema Impfschutz ist in der Anfrage völlig überdimensioniert und reagiert trotzdem nicht auf die Herausforderungen. Wir waren schon einmal sehr viel weiter, auch zu SPD-Regierungszeiten.

Jetzt noch zu den drei genannten Gesundheitszielen, also Reduzierung des Tabakkonsums, Steigerung der Inanspruchnahme der Vorsorgeuntersuchungen und Verminderung der Zahl von Kinderunfällen. Sie sind gut, sie sind richtig, und sie sind wichtig. Aber sie machen sehr deutlich - das haben Sie auch gesagt -, dass wir erst am Anfang stehen. An andere Ziele haben Sie sich offensichtlich mit der Anfrage und der Antwort noch nicht herangetraut, weil vielleicht die Datenbasis fehlt oder der politische Wille, in dem Bereich etwas mehr anzupacken. Kampagnenfähigkeit alleine reicht nicht aus.

Zu den Schuleingangsuntersuchungen: Sie werden offenbar von Ihrem Kultusminister immer noch infrage gestellt, denn in der Antwort der Landesregierung heißt es, die Landesregierung prüfe, wie dieser Auftrag in Zukunft geregelt werden könne trotz anders lautender Worte der Ministerin. Für uns Grüne sind Schuleingangsuntersuchungen unverzichtbar.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Sie bieten die einzige Grundlage für umfassende Querschnittsanalysen der gesundheitlichen Lage und der Entwicklung von Kindern.