Protokoll der Sitzung vom 25.06.2004

Antwort

des Justizministeriums auf die Frage 21 der Abg. Elke Müller (SPD)

Welchen Stellenwert haben die Veränderung der Streitkultur und die außergerichtliche Streitschlichtung für die Landesregierung?

Die Justizministerin der CDU/FDP-Landesregierung hat in einem in der Zeitschrift Die Zeit publizierten Aufsatz angebliche „Opulenz“ der Justiz beklagt und angekündigt, dass sie die „verkrusteten Strukturen“ der Justiz aufbrechen wolle. Trotz dieser Ankündigung beschreitet die Landesregierung im Zuge der von ihr ohne vorherige Folgekostenabschätzung betriebenen Verwaltungsreform den exakt gegenteiligen Weg. Obwohl von allen Seiten eine Veränderung der Streitkultur und damit eine Stärkung der außergerichtlichen Streitschlichtung für erforderlich gehalten werden, forciert die Landesregierung mit der von ihr geplanten weitgehenden Abschaffung des Widerspruchsverfahrens die Notwendigkeit der Klageerhebung. Gleich

zeitig lässt die Justizministerin einen fertigen Gesetzentwurf zur Stärkung des außergerichtlichen Schiedsverfahrens in den Schubladen des Justizministeriums verstauben, obwohl durch die Tätigkeit der Schiedsleute gerade in nachbarrechtlichen Streitigkeiten eine erhebliche Entlastung der Justiz erreicht werden könnte. Auch ein klares Bekenntnis zum Fortgang des erfolgreichen Modellprojekts „Gerichtsnahe Mediation“ hat die Justizministerin bislang nicht abgegeben. Vor diesem Hintergrund ist zu befürchten, dass sie die mit solchen Projekten zu erreichenden sinnvollen Veränderungen der Streitkultur aufgrund der aus der Abschaffung der Widerspruchsverfahren resultierenden Mehrbelastungen für den Justizhaushalt aufgeben wird.

Ich frage die Landesregierung:

1. Wie bewertet sie die außergerichtliche Streitschlichtung, welche konkreten Verbesserungen der außergerichtlichen Streitschlichtung hält sie für erforderlich, und wie will sie diese Verbesserungen realisieren?

2. Wie vereinbart sie die von ihr geplante weitgehende Abschaffung des Widerspruchsverfahrens mit der von der Justizministerin propagierten Verbesserung der Streitkultur, und wie will sie verhindern, dass es im Zuge der Abschaffung der Widerspruchsverfahren zu einer signifikanten Zunahme der Zahl der gerichtlichen Verfahren und damit - im Sprachgebrauch der Justizministerin - zu einer noch stärkeren „Opulenz“ der niedersächsischen Justiz kommt?

3. Kann die Landesregierung sicherstellen, dass aufgrund der von ihr geplanten weitgehenden Abschaffung des Widerspruchsverfahrens zu erwartenden Mehrbelastungen für den Justizhaushalt nicht an sinnvollen Projekten zur Veränderung der Streitkultur, wie etwa dem Modellprojekt „Gerichtsnahe Mediation“, gespart wird oder diese gar eingestellt werden, wenn nein, warum nicht?

Zu 1: Die Landesregierung misst der außergerichtlichen Streitschlichtung hohe Bedeutung bei. Ihr im Ansehen der Bevölkerung und streitender Parteien einen vergleichbaren Stellenwert zu verschaffen, ist Ziel und Anliegen der Regierung. Denn die verschiedenen Instrumente außergerichtlicher Streitbeilegung können nicht nur zu einer Entlastung der überlasteten Justiz führen, sondern bieten den Konfliktparteien häufig Möglichkeiten, schneller und kostengünstiger zu einer Einigung zu kommen, deren Akzeptanz auf beiden Seiten größer sein kann als die eines streitentscheidenden Urteils, das eine Seite als Verlierer dastehen lässt. Leider sind diese Möglichkeiten und die verschiedenen Verfahren, einen Streit außergerichtlich bei

zulegen, in der Bevölkerung noch nicht hinreichend bekannt und akzeptiert.

Die außergerichtliche Streitschlichtung durch Mediatoren, Schiedsgerichte, Schiedsämter, Schlichtungs- und Gütestellen, im Rahmen des TäterOpfer-Ausgleichs, des obligatorischen Sühneversuchs vor der Erhebung der Privatklage - um nur einige der in Betracht kommenden Möglichkeiten zu benennen - führt gerade dann, wenn sich die Parteien freiwillig dafür entscheiden, in der weit überwiegenden Zahl der Fälle zu einer gütlichen Streitbeilegung. Die außergerichtliche Streitschlichtung als solche bedarf daher keiner oder allenfalls geringfügiger Verbesserungen.

Verbesserungswürdig sind die Akzeptanz und der Bekanntheitsgrad der verschiedenen Möglichkeiten zur außergerichtlichen Streitbeilegung. Solche Verfahren der Erhebung von Klagen vor dem Gericht obligatorisch vorzuschalten, also ihre erfolglose Durchführung zur Voraussetzung der Klageerhebung zu machen, stellt nur eine Möglichkeit dar. Erste Erfahrungen in anderen Ländern, die entsprechende Schlichtungsgesetze erlassen haben, deuten aber darauf hin, dass der Prozentsatz erfolgreicher außergerichtlicher Streitbeilegungen signifikant geringer ist, wenn die Parteien durch Gesetz in solche Verfahren gezwungen werden. Unter anderem solche Bedenken haben dazu geführt, dass der vom Justizministerium erarbeitete Entwurf eines Niedersächsischen Schlichtungsgesetzes sowohl von der SPD-geführten Vorgängerregierung als auch der derzeitigen Regierung zunächst zurückgestellt worden ist, um die Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitforschung, die im Sommer dieses Jahres vorliegen werden, und sich daraus ergebende Konsequenzen zunächst abzuwarten.

Den Bekanntheitsgrad und die Akzeptanz der außergerichtlichen Streitbeilegungsverfahren und damit letztlich die freiwillige Teilnahme an ihnen zu fördern, ist nicht nur erklärtes, sondern auch derzeit verfolgtes Anliegen der Landesregierung. Zu diesem Zweck veranstaltet das Justizministerium beispielsweise am 9. September 2004 in Hannover einen Kongress zum Thema Konfliktmanagement. Neben renommierten Wissenschaftlern und an Schlichtung interessierten Praktikern wird insbesondere allen Anbietern außergerichtlicher Streitbeilegungsverfahren ein Forum geboten, sich über die vielfältigen Möglichkeiten der Konfliktschlichtung auszutauschen. Denn der Akzeptanz der außergerichtlichen Streitbeilegung als solcher, aber

auch der Erfolgsaussicht der einzelnen Schlichtungsverfahren ist besser gedient, wenn den Rechtsuchenden die Möglichkeiten und Vorteile dieser Verfahren bekannt gemacht werden und sie daraufhin freiwillig diesen Weg wählen.

Zu 2: Die Abschaffung des Widerspruchsverfahrens - von der nach dem Gesetzentwurf der Landesregierung übrigens weite Bereiche ausgenommen sind - schließt die Verbesserung der „Streitkultur“ im verwaltungsrechtlichen Bereich nicht aus. Selbst in Verfahren über die Erteilung von Baugenehmigungen, in denen der Widerspruch auch zukünftig noch möglich sein soll, werden die Möglichkeiten, im Rahmen außergerichtlicher Streitbeilegungsverfahren eine von allen Beteiligten akzeptierte Einigung herbeizuführen, von den Bürgern und Behörden bisher nur unzureichend genutzt, was es zu verbessern gilt.

Gleichwohl ist nicht ausgeschlossen, dass es durch die teilweise Abschaffung der Widerspruchsverfahren zu einer stärkeren Belastung der Justiz kommen kann. Ob es jedoch angesichts der Ausnahmeregelungen und mit Blick auf die mit dem Gerichtsverfahren verbundenen Kosten tatsächlich zu einer signifikanten Zunahme der Zahl gerichtlicher Verfahren kommt und wie hoch eine solche gegebenenfalls ausfällt, lässt sich nicht abschätzen. Allerdings dürfte die erwartete Entlastung der Verwaltung größer sein als eine damit korrelierende Belastung der Justiz.

Zu 3: Eine eventuelle Mehrbelastung des Justizhaushaltes im Zusammenhang mit der Abschaffung der Widerspruchsverfahren wird nicht zu Einsparungen hinsichtlich der laufenden Förderung der außergerichtlichen Streitbeilegung führen. Dies gilt auch für das Projekt „Gerichtsnahe Mediation in Niedersachsen“.

Anlage 17

Antwort

des Justizministeriums auf die Frage 22 des Abg. Michael Albers (SPD)

Abschaffung des Widerspruchsverfahrens Auswirkungen auf Justizhaushalt und Verfahrensdauer

Die CDU/FDP-Landesregierung will im Zuge der von ihr ohne Folgekostenanalyse beschlossenen Abschaffung der Bezirksregierungen das Widerspruchsverfahren in Niedersachsen nahezu vollständig abschaffen. Dabei wird offenbar in Kauf genommen, dass die Bürgerinnen

und Bürger, die sich gegen einen Verwaltungsbescheid wenden wollen, bereits aus Gründen der Verhinderung der Bestandskraft des Verwaltungsaktes eine Klage erheben müssen. Ein erheblicher Anstieg der Zahl der Klageverfahren wird - wie die Erfahrungen aus anderen Bundesländern zeigen - die Folge sein. Vor diesem Hintergrund liegt die Vermutung nahe, dass in diesem Bereich lediglich eine Kostenverlagerung vom Innen- auf den Justizhaushalt die Folge sein wird. Aufgrund unterschiedlicher Besoldungsstrukturen könnte - selbst wenn die Zahl der Klagen hinter der der Widersprüche zurückbleiben sollte - unter dem Strich sogar eine Kostensteigerung für den Landeshaushalt die Folge sein.

Ich frage die Landesregierung:

1. Rechnet sie damit, dass bei Wegfall des Widerspruchsverfahrens in jedem Falle anstelle eines Widerspruchs eine Klage eingereicht werden wird, wenn nein, warum nicht?

2. Wie beziffert sie die infolge der weitgehenden Abschaffung des Widerspruchsverfahrens zu erwartende Mehrbelastung der Justiz hinsichtlich Fallaufkommen, Stellenbedarf und Mehrkosten, und welche konkreten Maßnahmen wird sie einleiten, um dem bereits Anfang 2005 zu erwartenden erhöhten Fallaufkommen bei den Gerichten zu begegnen?

3. Wie lange dauerten in den Jahren 2000 bis 2003 im Durchschnitt die verwaltungsgerichtlichen Verfahren in Niedersachsen, und mit welchen Veränderungen in der Verfahrensdauer rechnet die Landesregierung infolge der weitgehenden Abschaffung des Widerspruchsverfahrens?

Im Namen der Landesregierung beantworte ich die Fragen wie folgt:

Zu 1: Die Landesregierung rechnet nicht damit, dass in jedem Fall anstelle eines Widerspruchs eine Klage erhoben wird. Bereits jetzt ist es so, dass nicht jede ablehnende Verwaltungsentscheidung mit einem Widerspruch bzw. eine ablehnende Widerspruchsentscheidung mit einer Klage angefochten wird. Es entspricht deshalb der Erfahrung, dass dies auch nicht nach Abschaffung des Widerspruchsverfahrens erfolgt. Die im Verwaltungsverfahren unterlegenen Bürger werden eine Klage nur nach Abwägung des Interesses sowie der Erfolgsaussichten und des Prozessrisikos erheben. Diese Abwägung wird bei den verschiedenen Verfahrenstypen unterschiedlich ausfallen. Eine feste Klagequote lässt sich daher nicht ermitteln. Statistisch belegt werden kann jedoch, dass selbst in existenziellen Fragen wie der Gewährung des Asylrechts nicht alle ablehnenden Verwaltungsentscheidungen mit einer Klage angegriffen werden.

Zu 2: Die Landesregierung hat in ihrer Sitzung am 15. Juni 2004 noch grundlegende Ausnahmen von der Abschaffung des Widerspruchsverfahrens festgelegt. Aus diesem und aus den bei Frage 1 genannten Gründen lässt sich die Mehrbelastung der Justiz derzeit nicht konkret beziffern. Das Justizministerium wird jedoch in enger Abstimmung mit der „Job-Börse“ eine gezielte Verstärkung der Verwaltungsgerichte durch von der Verwaltungsreform betroffenes und geeignetes Personal vornehmen.

Zu 3: Die durchschnittliche Verfahrensdauer der Gerichte ist für die Jahre 1990 bis 2001 in Anlage A.I.3 zur Großen Anfrage der CDU-Fraktion „Situation der Justiz in Niedersachsen“ (Drucksache 14/4045) ausgewiesen. Bei den Verwaltungsgerichten ist sie von 13,7 Monaten im Jahre 2000 über 14,1 Monate im Jahre 2001 und 12,9 Monate im Jahre 2002 auf 12,4 Monate im Jahre 2003 gesunken. Die durchschnittliche Dauer der Rechtsmittelverfahren beim Niedersächsischen Oberverwaltungsgericht ist von 9,3 Monaten im Jahre 2000 über 6,9 Monate im Jahr 2001 und 8,7 Monate im Jahr 2002 auf 6,5 Monate im Jahre 2003 gesunken.

Anlage 18

Antwort

des Justizministeriums auf die Frage 23 der Abg. Susanne Grote (SPD)

Abschaffung des Widerspruchsverfahrens Mehrkosten für den Bürger?

Die CDU/FDP-Landesregierung will im Zuge der von ihr ohne Folgekostenanalyse beschlossenen Abschaffung der Bezirksregierungen das Widerspruchsverfahren in Niedersachsen nahezu vollständig abschaffen. Dabei wird offenbar in Kauf genommen, dass die Bürgerinnen und Bürger, die sich gegen einen Verwaltungsbescheid wenden wollen, bereits aus Gründen der Verhinderung der Bestandskraft des Verwaltungsaktes eine Klage erheben müssen mit allen damit verbundenen Kosten.

Ich frage die Landesregierung:

1. Welche Möglichkeiten bestehen für den Bürger, um nach Abschaffung des Widerspruchsverfahrens den Eintritt der Bestandskraft eines Verwaltungsaktes zu verhindern?

2. Wie viel Zeit hat ein Bürger, um sich für die Erhebung einer Klage zu entscheiden?

3. Besteht zum Zeitpunkt des geplanten InKraft-Tretens der Abschaffung des Widerspruchsverfahrens noch die Möglichkeit, eine verwaltungsgerichtliche Klage gerichtsgebüh

renfrei zurückzunehmen, und welchen Einfluss hat eine Klagerücknahme auf die Anwaltsgebühren?

Die Annahme, die Landesregierung habe die Auflösung der Bezirksregierungen ohne Folgekostenanalyse beschlossen, trifft nicht zu. Auf die dem von der Landesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung der Verwaltung in Niedersachsen beigefügte umfassende Gesetzesfolgenabschätzung wird verwiesen (LT- Drucksache 15/1121 S. 33 ff.).

Dies vorausgeschickt, beantworte ich namens der Landesregierung die Anfrage wie folgt:

Zu 1: Der Eintritt der Bestandskraft von Verwaltungsakten, die keiner Nachprüfung in einem Vorverfahren nach § 68 Abs. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) bedürfen, wird durch Erhebung der Klage verhindert.

Zu 2: Die Klage ist nach § 74 Abs. 1 Satz 2 VwGO grundsätzlich innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe des Verwaltungsakts zu erheben. Die Monatsfrist beginnt nur zu laufen, wenn der Beteiligte über die Möglichkeit der Klage, das Gericht, bei dem die Klage zu erheben ist, den Sitz und die einzuhaltende Frist schriftlich belehrt worden ist (§ 58 Abs. 1 VwGO). Ist die Belehrung unterblieben oder unrichtig erteilt, so ist die Erhebung der Klage nur innerhalb eines Jahres seit Zustellung, Eröffnung oder Verkündung des Verwaltungsakts zulässig (§ 58 Abs. 2 VwGO).

Zu 3: Erstens. Am 1. Juli 2004 tritt das Gesetz zur Modernisierung des Kostenrechts vom 5. Mai 2004 (BGBl. I S. 718) in Kraft. Das durch Artikel 1 dieses Gesetzes neu gefasste Gerichtskostengesetz sieht - anders als das bis zum 30. Juni 2004 geltende Recht - einen Wegfall von Gerichtsgebühren im Fall einer frühzeitigen Klagerücknahme nicht mehr vor. Jedoch ermäßigt sich der Satz der Gebühr für das Verfahren im Allgemeinen von 3,0 auf 1,0 (Nummer 5111 des Kostenverzeichnisses zum Ge- richtskostengesetz n. F.). Die Ermäßigung tritt ein bei Zurücknahme der Klage vor dem Schluss der mündlichen Verhandlung. Findet keine mündliche Verhandlung statt, so muss die Zurücknahme vor Ablauf des Tages erfolgen, an dem das Urteil oder der Gerichtsbescheid der Geschäftsstelle übermittelt wird.

Zweitens. Auf Gebühren der Rechtsanwälte, die im Zeitpunkt der Zurücknahme der Klage bereits ent

standen sind, hat die Rücknahme keine Auswirkungen.

Anlage 19

Antwort