Protokoll der Sitzung vom 04.04.2003

Erstens. Die zumindest an zwei Tagen in der Woche am Nachmittag verpflichtende Teilnahme am Unterricht ermöglicht den beteiligten Schulen eine flexible Planung von Förderung, Betreuung und Unterricht, sodass die Schülerinnen und Schüler einen eigenen Lernrhythmus entwickeln können abseits der üblichen 45-Minuten-Strukturierung des normalen Schulunterrichts. Man kann neue Modelle entwickeln, Unterricht am Nachmittag und Förderung am Vormittag machen, und umgekehrt. Das ist sehr wichtig auf dem Weg zu mehr Eigenverantwortung von Schulen, wie es Herr Busemann ja fordert.

Zweitens. In der Tat ist es - wie es in der Begründung ausgeführt wird - vor dem Hintergrund einer immer mehr vom Medienkonsum geprägten Freizeitgestaltung Jugendlicher verständlich, wenn viele, besonders berufstätige Eltern, sagen: Ich finde es richtig und gut, wenn mein Kind am Nachmittag auch in der Schule ist, und zwar wenn es nicht nur betreut und gefördert wird, sondern auch Unterricht erhält. Das ist besser, als wenn es den ganzen Nachmittag RTLund SAT 1Fernsehshows in der Glotze guckt.

Drittens stößt Schule nur am Vormittag aus bildungspolitischer Sicht irgendwann an ihre natürlichen, zeitlichen Grenzen.

(Zustimmung von Hans-Dieter Haase [SPD])

33, 34, 35 Unterrichtsstunden lassen sich in einer Fünf-Tage-Woche vielleicht gerade noch am Vormittag realisieren. Aber, meine Damen und Herren von der CDU-Fraktion und von der FDP-Fraktion, wenn man Ihrer Forderung, das Abitur in zwölf Jahren zu realisieren, folgt, dann werden auch Sie gar nicht darum herum kommen, in den verschiedenen Stufen des Gymnasiums auch am Nachmittag Unterricht anzubieten. Das ist einfach so.

(Beifall bei der SPD)

Von daher sind Ganztagsschulen mit verpflichtenden Anteilen Gebot der Stunde.

Viertens fällt mir dabei ein, dass Ganztagsschulen auch aus frauenpolitischer Sicht wichtig sind, um Job und Familie miteinander zu verbinden. Das gilt ohne Zweifel auch für Väter. Also sind Ganztagsschulen familienpolitisch ebenfalls notwendig.

Vor diesem Hintergrund begrüße ich es außerordentlich, dass der Kultusminister in der letzten Woche im Kultusausschuss die von der vorherigen Landesregierung genehmigten Anträge für Ganztagsschulen bestätigt hat. Daher werden - wie ich der letzten Pressemitteilung des Ministeriums entnehmen konnte - zum 1. August dieses Jahres 244 Ganztagsschulen in Niedersachsen existieren. Das finde ich gut.

(Beifall bei der SPD und Zustimmung bei der CDU)

Ich begrüße es weiterhin, dass diese Modelle entsprechend ihres jeweiligen eigenen Konzepts die Möglichkeit haben, verpflichtende Anteile am Nachmittag fahren zu dürfen. Dies hat der Kultus

minister jedenfalls im Ausschuss zugesagt. Ich würde mich freuen, wenn diese Zusage im Plenum noch einmal bestätigt werden könnte. Ich bedauere es aber sehr, dass alle Anträge, die erst jetzt gestellt und hoffentlich auch genehmigt werden, nur noch Modelle mit freiwilligen Angeboten am Nachmittag sein dürfen. Damit untergräbt man meiner Ansicht nach den Kern von Ganztagsschule. Ich setze aber auf die Einsicht der Kolleginnen und Kollegen der CDU-Fraktion sowie der FDPFraktion und auf den Einfluss ihrer Fachleute, sodass sich in dieser Hinsicht noch etwas ändern kann, damit Sie die gute Arbeit der SPD in dieser Sache fortsetzen - so wie Sie das auch in anderen Punkten, z. B. bei den Verlässlichen Grundschulen, tun. Ich habe mit Freude gelesen, dass sich Herr Busemann damit brüstet, dass jetzt 1 582 von 1 879 Grundschulen verlässlich sind. Dies, meine Damen und Herren - das wissen auch Sie -, hat die SPD in Niedersachsen realisiert. Das wollen wir einmal ganz klar sagen.

(Beifall bei der SPD - Bernd Althus- mann [CDU]: Wir werden wirklich für Unterrichtsversorgung sorgen, im Gegensatz zu Ihnen! Sie sind wegen Ihrer Schulpolitik abgewählt worden, vergessen Sie das nicht!)

Ich entsinne mich noch gut, dass gerade Sie von der CDU-Fraktion sich noch vor einem Jahr hier hingestellt und gegen die VGS polemisiert haben. Jetzt schmücken Sie sich damit. Etwas dreist ist das schon. Aber um der Sache willen ist es richtig.

Im Übrigen beweist die internationale Untersuchung zum Leseverhalten, IGLU, die wir schon vorgestern thematisiert haben, dass die Arbeit an den niedersächsischen Grundschulen offensichtlich gut ist und nichts mit „Kuschelpädagogik“ zu tun hat. Ich finde, dass gerade die Gesamtschulen und die Verlässlichen Grundschulen in Niedersachsen zeigen, dass heterogene Lerngruppen durchaus erfolgreich sein können. Das sollten Sie bei Ihrer weiteren Schulpolitik stärker berücksichtigen.

Zurück zum Thema Ganztagsschulen: Die Schülerinnen und Schüler erhalten an Ganztagsschulen ein höheres Maß an Förderung. Durch die Zusammenarbeit mit außerschulischen Einrichtungen werden Defizite abgebaut. Besondere Stärken der Schülerinnen und Schüler können weiterentwickelt werden. Natürlich sorgen sich die Eltern und sagen: Mein Kind macht zur Zeit Sport im Verein oder Musikförderung. Das ist möglicherweise ge

fährdet, wenn es am Nachmittag auch noch zur Schule gehen muss. - Das ist aber ein falscher Gedanke, weil gerade in der Zusammenarbeit mit diesen außerschulischen Einrichtungen - Kunstund Musikschulen, Sportvereine und auch der Wirtschaft - die Möglichkeit besteht, Kinder besonders zu fördern. Genau das Gegenteil dieser Befürchtung trifft zu. Denn durch diese Zusammenarbeit können sich nicht nur die Schülerinnen und Schüler, die schon durch ihre Elternhäuser Zugang zu diesen weiteren Fördermöglichkeiten haben, entwickeln, sondern gerade für die, die diesen Zugang nicht haben, deren Eltern sich das nicht leisten können, entstehen viele neue Chancen zur Entwicklung von Talenten, Fähigkeiten und Kompetenzen in musischer, kultureller und auch sportlicher Sicht.

(Zustimmung bei den GRÜNEN)

Insofern können Ganztagsschulen ganz besondere Talentfördereinrichtungen sein. Wir werden damit neue Bildungspotenziale erschließen. Daher ist das ein Weg in die richtige Richtung.

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, in Ganztagsschulen haben Kinder mehr Zeit zum Lernen. Durch ihren Ausbau kann man Bildungsbarrieren abbauen. Man kann die soziale Ausgrenzung verhindern und die individuellen Fähigkeiten unserer Kinder besser fördern. Die Eltern können durch Ganztagsschulen Beruf und Familie besser miteinander vereinbaren. Deshalb ist es das Gebot der Stunde, das Ganztagsschulangebot in Niedersachsen mit Hilfe der Bundesregierung auszubauen. Deshalb fordern wir diese gelb-schwarze Landesregierung auf, in den kommenden fünf Jahren ein flächendeckendes Netz von 500 Ganztagsschulstandorten entstehen zu lassen.

(Beifall bei der SPD)

Dies wäre in der Tat eine der richtigen Antworten auf PISA, aber nicht das, was Sie jetzt mit Ihrem Schulgesetz vorlegen, nicht dieser Rückfall in die 50er-Jahre, wie Sie es mit der viel zu frühen Aufteilung der Schülerinnen und Schüler in Niedersachsen auf die verschiedenen Bildungswege vorhaben.

Im Übrigen, Herr Busemann, nehmen wir gern Ihre Hinweise auf, dass wir nicht mehr mit dem Begriff „Selektion“ arbeiten wollen. Da haben wir auch die Kritik unseres Kultusausschussvorsitzenden erfah

ren. Der Begriff ist in der Tat negativ belegt. Das ist richtig.

(Beifall bei der CDU)

Aber es ist doch so, dass Sie mit Ihrem Schulgesetz die Schülerinnen und Schüler nach der fünften Klasse in Schubladen einsortieren. Ihre angebliche Durchlässigkeit ist eine, die nur von oben nach unten geht. Das ist Fakt.

(Beifall bei der SPD)

Da feiert das letzte Jahrhundert fröhliche Urstände. Außerdem bewirkt es eine Beschränkung des Elternwillens im Hinblick auf die Auswahl der weiterführenden Schule. Das haben die Eltern gemerkt. Schauen Sie sich einmal die Erklärung des Landeselternrates dazu an. Darin wird Ihnen das Schulgesetz um die Ohren gehauen.

(Wilhelm Hogrefe [CDU]: Warten Sie erst einmal ab!)

Meine Damen und Herren, die CDU-Fraktion wird das auch noch verschärfen. Nicht nur in der Grundschule wird ein enormer Druck auf Eltern, auf Kinder und auf Lehrkräfte einsetzen. Das, was ich jetzt im rundblick gelesen habe, setzt dem Ganzen noch die Krone auf: Bei der Abschaffung der Orientierungsstufe sollen die noch verbleibenden Jahrgänge der Orientierungsstufe mit einem neuen Organisationserlass versehen werden. Das haben Sie, Herr Busemann, angekündigt. Kernpunkt soll die Rückkehr zur dreigeteilten Fachleistungsdifferenzierung sein, die gegenüber der früheren noch verschärft werden soll. Außerdem soll vom kommenden Schuljahr an ab Mitte der fünften Klasse in den Fächern Mathematik, Englisch und erstmals auch Deutsch differenziert werden. Das heißt noch mehr Druck für die Schülerinnen und Schüler. Das heißt, schon ab dem kommenden Schuljahr werden die niedersächsischen Schülerinnen und Schüler in der fünften Klasse einen Spießrutenlauf absolvieren und in einer totalen Drucksituation leben müssen. Das, meine Damen und Herren, wird auch an den bestehenden Orientierungsstufen ein Chaos geben.

(Widerspruch bei der CDU)

Ich halte das für fatal, ich halte das für unverantwortlich, und ich halte das für eine Katastrophe.

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, wir wollen natürlich erreichen, dass mit den Ganztagsschulen, die wir gemeinsam entwickeln wollen, auch sichergestellt wird, dass die Modelle, die die Schulen uns vorlegen, weiter verfolgt werden. Wir wollen sicherstellen, dass die Schülerinnen und Schüler in Niedersachsen eine Perspektive erhalten. Unsere Position lautet: Wir wollen viel Förderung für alle Schülerinnen und Schüler. Wir wollen eine möglichst lange gemeinsame Schulzeit, und wir wollen Ganztagsangebote. Denn dort, meine Damen und Herren, stehen die Interessen der Schülerinnen und Schüler im Mittelpunkt und damit sind für Familien Beruf und Familie vereinbar. Folgen Sie uns auf diesem richtigen Weg in die Zukunft! - Schönen Dank.

(Lebhafter Beifall bei der SPD)

Frau Vockert!

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Wulf, bevor ich auf den Antrag eingehen werde, möchte ich einiges Grundsätzliche festhalten. Der bildungspolitische Konsens, der - davon gehe ich aus - hoffentlich durch alle Fraktionen in diesem Hause geht, besteht tatsächlich darin, dass wir alle wollen, dass es weitere Ganztagsangebote gibt.

(Widerspruch von Walter Meinhold [SPD])

Das ist schon einmal gut. So weit der Konsens.

Sie haben auf gesellschaftliche Veränderungsprozesse hingewiesen. Wir alle wissen um die steigende Anzahl der allein Erziehenden. Wir alle wissen um die geänderten Generationenverhältnisse und um den Wunsch, Familie und Beruf miteinander zu verbinden. Dies erfordert - darin sind wir mit Ihnen einer Meinung - vermehrt Angebote für Schulkinder, die über den Vormittag hinausreichen.

Wenn Sie, meine Damen und Herren von der SPDFraktion, aber nun gleich im ersten Satz Ihres Antrages hervorheben, dass Ganztagsschulen die richtige Antwort auf die Ergebnisse der PISAStudie sein sollen, dann haben Sie, Herr Wulf, diese Aussage in Ihrer Begründung interessanterweise gleich wieder relativiert. Darin sagen Sie

nämlich, dass ganztägige Schulangebote sicherlich nicht das allein ausschlaggebende Argument für bessere Schulleistungen seien.

(Dr. Gabriele Andretta [SPD]: Das stimmt auch!)

Aber gerade wegen dieses Satzes will ich Ihnen, meine Damen und Herren von der SPD-Fraktion, Folgendes ins Stammbuch schreiben: Wenn Sie glauben, mit der Ganztagsschule irgendeine Art von Dilemma lösen zu können, dann irren Sie sich gewaltig. Da haben Sie schulpolitische Glücksvorstellungen. Ich kann es wirklich nicht anders bezeichnen.

(Beifall bei der CDU)

Da werfen Sie zum Teil auch mit administrativen Blendraketen um sich.

(Wolfgang Wulf [SPD]: Nicht so mi- litaristisch!)

Wenn Sie tatsächlich hier so weitermachen, verbessern Sie nicht die schulische Leistungen der Schülerinnen und Schüler, meine Damen und Herren. Wenn Sie wie wir die Leistungen der Schülerinnen und Schüler in Niedersachsen verbessern und es damit ermöglichen wollen, dass unsere Schülerinnen und Schüler bei den nächsten PISAStudien zu den Siegern gehören, dann akzeptieren Sie es und unterstützen Sie uns dabei, dass wir an erster Stelle dafür Sorge tragen, dass die Unterrichtsversorgung am Vormittag tatsächlich zu 100 % erbracht wird.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Ich bin schon sehr gespannt darauf, wie Sie, Herr Wulf, bei den kommenden Haushaltsberatungen darauf eingehen werden und a) die Unterrichtsversorgung - haushaltsrechtlich abgesichert - finanziell gewährleisten und b) auch noch zusätzliche Anträge zur flächendeckenden Einführung Ihrer so genannten Ganztagschulen stellen wollen.