Protokoll der Sitzung vom 28.01.2005

Es war auch dubios, weil die Bediensteten nach der Feststellung, dass es sich um einen Fehlalarm handelte,

(Bernd Althusmann [CDU]: Wir sind schuld!)

die Gefangenen beim Hofgang eigentlich keines Blickes würdigten, zumindest haben sie sie nicht nachgezählt. Das lief nach dem Motto „Einer ist weg, und keiner hat es gemerkt“.

(Heike Bockmann [SPD]: Skandal! - Bernd Althusmann [CDU]: Wir sind schuld, die CDU-Fraktion ist schuld! - Gegenruf von Wolfgang Jüttner [SPD]: Das ist so! Mehrheit ist Mehr- heit!)

Dubios war das auch deswegen, weil sich der Flüchtling nach einem langen Weg über die Dächer mit einem 13 m langen Seil auf die Straße abseilen konnte. Hat er das Seil eigentlich unentdeckt zum Hofgang mitgebracht, und keiner hat es gefunden? Oder lag es vielleicht schon vorher auf dem Dach, und war es von ihm dort deponiert worden? Dächer werden nicht kontrolliert.

Als die Flucht dann entdeckt wurde - übrigens durch den Hinweis eines anderen Gefangenen -, wurde erst einmal intern in der Anstalt gesucht. Das ist in Ordnung. Dann wurde um 10.30 Uhr die Polizei informiert. Aber das Seil, das noch vom Dach hinunterhing und die Stelle markiert, an der der Gefangene die Anstalt verlassen hat, wurde erst irgendwann im Laufe des Nachmittags entdeckt.

(Heike Bockmann [SPD]: Schlampe- rei!)

Wie reagiert nun die Justizministerin auf diesen Vorfall? - Sie verweist als Erstes - das kennen wir schon; das ist die übliche Litanei - auf angebliche bauliche Schwachstellen und Sanierungsmängel und verordnet - wie immer - als Erstes einige Rollen Stacheldraht. Und sie erkennt die Beamten als die allein Schuldigen und versetzt sie auf einen anderen Dienstposten. Das, Frau Ministerin, ist nicht genug, um die Sicherheit der Bürger in Zukunft zu verbessern.

(Beifall bei der SPD)

Wann wird Ihnen endlich klar, dass Sicherheit im Vollzug nicht nur durch einige Rollen Stacheldraht gewährleistet wird, sondern in erster Linie durch Menschen und Personal?

Warum war dieser nun Flüchtige eigentlich nicht in der Anstalt Celle untergebracht? Er war seit 2003 wegen Mordes verurteilt, hat aber Ende 2004 immer noch in Hannover eingesessen. Er saß noch in der Einweisungsabteilung bzw. wartete darauf, diese durchlaufen zu können, weil es dort nach Ihrer eigenen Aussage eine lange Warteliste gibt. Ist Ihnen eigentlich schon mal der Gedanke gekommen, dass man vielleicht das Personal in der Einweisungsabteilung aufstocken könnte?

(Zustimmung bei der SPD)

Das wäre für die von Ihnen ständig propagierte Sicherheit wahrscheinlich dringend notwendig.

Und was ist mit den Bediensteten, die sich falsch verhalten haben? Nützt es eigentlich der Sicherheit, wenn Sie sie nur auf einen anderen Dienstposten versetzen? Wäre es nicht viel sinnvoller, anstaltsinterne Weiterbildungsmaßnahmen und Fortbildungen zur Auffrischung der Sicherheitsvorschriften zu veranlassen?

(Beifall bei der SPD)

Oder sind vielleicht auch solche Maßnahmen wegen Personalmangels nicht mehr leistbar?

Wir werden uns im Ausschuss sicherlich sehr intensiv damit beschäftigen müssen.

Ich möchte noch einige Bemerkungen zu Ihrer Aussage in der Bild-Zeitung vom 29. Dezember machen. Da erklären Sie, seit Ihrem Amtsantritt - das ist nun fast genau zwei Jahre her - seien nur

drei Häftlinge aus dem geschlossenen Vollzug ausgebrochen. Das, Frau Ministerin, ist weniger als die halbe Wahrheit. Das gehört in die Abteilung „tricksen, täuschen und vertuschen“.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Am 4. August 2003 - schon zu Ihrer Regierungszeit - sind aus Celle zwei Gefangene verschwunden. Am 3. September 2004 ist aus Aurich einer und jetzt aus Hannover einer verschwunden. Das sind schon vier.

Aber was ist eigentlich mit dem Gefangenen aus Uelzen, der am 9. November 2004 beim Transport vom Landgericht zurück in die Anstalt flüchten konnte? Wie war es mit dem U-Gefangenen am 24. November, der trotz Handfesseln und Bewachung aus dem Gericht in Goslar flüchten konnte? Wie war es eigentlich mit dem Gefangenen am 20. Dezember vorigen Jahres, der vom Amtsgericht in Brake entkam? Der hat nämlich in der Mittagspause die Tür seiner Arrestzelle eingetreten. Aber keiner hat das gehört. Wie man das so leise macht, muss mir erst mal jemand erklären.

Und wie war es mit dem U-Gefangenen, der am 26. August 2004 aus dem Amtsgericht Wolfenbüttel entkam? Der entkam aus dem Toilettenfenster.

Dann gab es noch einen weiteren, der am 17. Dezember 2003 aus dem Amtsgericht in Brake entkam. Am 28. August 2003 entwischte Ihnen einer vom Amtgericht in Delmenhorst. Man hatte ihn sinnvollerweise mit Handschellen an eine Leitung in der Amtsmeisterei gefesselt. Es ist ihm gelungen, sich aus den Handschellen zu befreien, ohne dass ein Mensch in dieser Amtsmeisterei das überhaupt gemerkt hätte. Weg war er!

(Heike Bockmann [SPD]: Das ist ja wie im Krimi!)

Also, Frau Ministerin: Es sind bis zu diesem Zeitpunkt mindestens zehn, über die wir reden. Sie sind alle aus Ihrem Verantwortungsbereich geflüchtet. Ich denke, Sie sind sich bewusst, dass auch eine Flucht aus dem Gericht zu Ihrem Verantwortungsbereich gehört. In diesem Bereich - bei den Gerichten und bei Transporten - ist die Sicherheit löcherig wie ein Schweizer Käse.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Was tun Sie eigentlich gegen diese Sicherheitslücken? Dazu haben wir bis heute noch kein einziges Wort gehört. Das versuchen Sie schlicht und einfach auszublenden oder zu verdrängen.

Eines aber, Frau Ministerin, ist klar: Für die Sicherheit der Bevölkerung macht es keinen Unterschied, ob jemand über die Mauer oder über die Dächer geht oder ob jemand beim Transport oder vom Gericht wegläuft. Das kommt auf das Gleiche heraus.

Ich kann Ihnen nur sagen: Die von Ihnen ständig beschworene Sicherheit im Vollzug wird von Ihnen nicht eingehalten. Das nennen wir Wortbruch.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Für die CDU-Fraktion hat nun der Abgeordnete Nacke das Wort.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! „Es bleibt eine Niederlage“, so beschrieb der Leiter der JVA Hannover am 12. Januar 2005 in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung die Vorgänge rund um die Entweichung des verurteilten Mörders Erdogan Bagdaa. Ein besseres Fazit hätte wohl keiner von uns ziehen können. Was war geschehen?

Heiligabend kletterte nach den Erkenntnissen des Ministeriums der Häftling Bagdaa an einem nur locker mit Dübeln an der Wand befestigten Blitzableiter 10 m in die Höhe. Anschließend überquerte er das Dach, um sich an einer Außenmauer des Gebäudes an einem Blitzableiter und einem Seil wieder abzulassen und zu flüchten.

Meine Damen und Herren, bei dieser Flucht handelt es sich um eine nicht für möglich gehaltene körperliche Leistung. Ohne einem von Ihnen zu nahe treten zu wollen: Von uns hätte das keiner geschafft.

(Unruhe - Glocke des Präsidenten)

Es ist eine Niederlage, eine bittere Niederlage; denn ein Mörder, der hinter Gitter gehört, läuft frei herum. Ich denke, ich spreche für das ganze Haus, wenn ich sage, dass wir alle den Zielfahndern der Polizei die Daumen drücken, damit der flüchtige

Straftäter gefasst und wieder inhaftiert wird - möglicherweise für den Rest seines Lebens.

(Beifall bei der CDU - Heike Bock- mann [SPD]: Das reicht aber nicht!)

Meine Damen und Herren, natürlich wirft die Entweichung eines Mörders Fragen auf; das muss sie auch. Schließlich führt sie uns drastisch vor Augen, welch wichtiger Teil der inneren Sicherheit in unserem Land von den Bediensteten in den Haftanstalten erledigt wird. Unsere Sicherheit vor verurteilten Häftlingen liegt in den Händen dieser Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Natürlich müssen wir uns fragen, was wir tun können, damit es nicht noch einmal zu einer solchen Flucht kommen kann. Bei jeder Entweichung müssen wir uns fragen: Haben wir die erforderlichen Mittel für Sicherungsmaßnahmen und das erforderliche Personal zur Verfügung gestellt? Diese Fragen muss das Justizministerium beantworten. Diese Fragen müssen von uns im Unterausschuss „Justizvollzug und Straffälligenhilfe“ gestellt werden, und zwar von den Mitgliedern der Regierungsfraktionen, aber auch von der Opposition.

Ich möchte mich an dieser Stelle bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Justizministerium und bei der Ministerin persönlich bedanken, die umfassend in der letzten Sitzung des Unterausschusses auf unsere Fragen geantwortet haben. Nach meiner Erinnerung ist keine Frage offen geblieben.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP - Bernd Althusmann [CDU]: War Frau Müller da nicht da?)

Meine Damen und Herren, wenig hilfreich ist es dagegen bei einem solch sensiblen Thema, wenn seitens der Opposition versucht wird, die Bevölkerung zu verunsichern.

(Zuruf von der CDU: So ist es!)

Ich zitiere in diesem Zusammenhang die Neue Presse aus Hannover vom 28. Dezember 2004. Vier Tage nach der Entweichung wird dort Frau Kollegin Merk zu der Gefährlichkeit des geflohenen Häftlings befragt. In indirekter Rede werden Sie, Frau Merk, mit der Aussage zitiert, die Einschätzung, Erdogan Bagdaa stelle keine Gefahr für die Allgemeinheit dar, sei falsch. Wörtlich heißt es weiter - ich zitiere -:

„Bei einem verurteilten Mörder kann und muss man mit allem rechnen. Der Mann versteckt sich und ist wahrscheinlich noch nicht außer Landes. Selbst mit gefälschten Papieren fiele er schnell auf.“

Frau Kollegin Merk, woher wissen Sie das eigentlich?

(Heidrun Merk [SPD]: Weil es da ganz bestimmte konkrete Erfahrungen gibt!)

Frau Kollegin Merk, wie können Sie als ehemalige Justizministerin öffentlich Miss Marple spielen?

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Ich hielte das schon bei jedem Mitglied des Parlaments für peinlich. Bei einer ehemaligen Justizministerin halte ich es für unverantwortlich.