Protokoll der Sitzung vom 15.05.2003

Herr Ministerpräsident, es ist ja löblich, dass Sie Ausbildungsplätze in der Staatskanzlei und in den Ministerien schaffen wollen. Meine Frage ist: Wie sieht es nach der Ausbildung mit der Übernahme aus? Sie wollen schließlich 6 000 Stellen abbauen. - Ich möchte eine Anmerkung zu der Frage machen. Bitte gehen Sie nicht nur auf das Beispiel Bürokauffrau oder Bürokaufmann ein. Ich denke eher an die anderen Ausbildungsplätze, die Sie anvisieren.

Herr Ministerpräsident Christian Wulff spricht für die Landesregierung.

Was den zweiten Teil Ihrer Frage betrifft, so bitte ich um Vergebung, dass wir für viele Ausbildungsberufe in der Staatskanzlei nicht werden ausbilden können. Insofern wird es sich automatisch auf bestimmte Berufsbilder konzentrieren. Ich bin der Meinung, dass das nachvollziehbar ist.

Zu Ihrer ersten Frage, was die Übernahme anbelangt. Ich begrüße die Vereinbarung der Metallindustrie in Nordrhein-Westfalen mit der IG Metall sehr, in der man den Übernahmeanspruch Jugendlicher für einige Jahre ausgesetzt hat. Denn es ist ein wirkliches Hindernis für Ausbildung, dass diejenigen, die ausgebildet werden, für das erste Jahr nach der Ausbildung in weiten Teilen unserer Volkswirtschaft einen Übernahmeanspruch haben. In Zeiten zurückgehender Aufträge, zurückgehender Konjunktur und zurückgehenden Konsums ist es eine wirkliche Kraftanstrengung, Mittelständler zu überzeugen auszubilden. Wenn sie aber wissen, sie müssen anschließend übernehmen, dann werden sie noch weniger Bereitschaft zum Ausbilden zeigen. Deswegen müssen wir die Ausbildung von dem Übernahmeanspruch entkoppeln.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Wir tun nichts Gutes für die jungen Leute, wenn sie dann keine Ausbildung finden, sondern wir tun Gutes, wenn sie eine Ausbildung finden. Es ist besser, drei Jahre ohne Übernahmeanspruch ausgebildet zu werden, als - mit einem Übernahmeanspruch, wenn man denn einen Ausbildungsplatz hätte - arbeitslos zu sein.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Das ist genau die Frage von sozialer Politik, die wir in Deutschland anders beantworten müssen.

Wir werden nicht alle übernehmen, die wir jetzt zusätzlich ausbilden, sondern wir werden sie ausbilden, damit qualifizieren und ihre Lebenschancen individuell erhöhen. Aber einen Beschäftigungsanspruch auf Lebenszeit können wir jungen Leuten nicht geben, weil sich die öffentliche Hand zurücknehmen muss, der Staat sich zurückziehen muss und die Verwaltung reformiert werden muss. Nur bei weniger Staat, bei geringerer Staatsquote kommen wieder die Bereitschaft zu Investitionen, Zuversicht und Zutrauen in die Zukunft. - Wir wer

den sie nicht alle übernehmen. Das war Ihre Frage. Die ist hiermit beantwortet.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Eine weitere Frage stellt der Abgeordnete Gabriel.

Frau Präsidentin! Herr Kollege Wulff, es ist so, wie Sie es gesagt haben. Daher ist es sinnvoll, im Staatsdienst in Kammerberufen auszubilden und nicht in Verwaltungsberufen.

(Bernd Althusmann [CDU]: Die Frage bitte, Herr Kollege!)

Meine Frage richtet sich an den Kollegen Hirche. Herr Minister Hirche, Sie haben hier deutlich gemacht, was Sie von einer Umlagefinanzierung halten, nämlich gar nichts. Meine beiden Fragen lauten wie folgt.

Erstens. Ist Ihnen bekannt, dass in dem Handwerk, das Sie hier so gelobt haben, eine solche Umlagefinanzierung in einem ganzen Bereich existiert, nämlich in der Bauwirtschaft? Die finden es ungerecht, dass einige ausbilden und die Kosten tragen und andere davon profitieren.

Zweitens. Was sagen Sie zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts? Das Bundesverfassungsgericht hat erklärt, dass es die Aufgabe der gesellschaftlichen Gruppe der Arbeitgeber ist, ein ausreichendes und auswahlfähiges Angebot an betrieblichen Ausbildungsplätzen zur Verfügung zu stellen, und wenn das nicht geschieht, dann hat der Staat die Aufgabe, eine Berufsbildungsabgabe zu erheben. Ich frage das, weil Sie das so kritisieren. Was sagen Sie zu diesem Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Dezember 1980?

Für die Landesregierung antwortet der Minister Hirche.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Gabriel, es wäre traurig, wenn mir diese Regelung in der Bauwirtschaft mit der Sozialkasse

in Wiesbaden nicht bekannt wäre. Es ist allerdings - das dürfte Ihnen bekannt sein - intern heftig umstritten, ob das der richtige Weg war, den man Anfang der 80er-Jahre oder sogar früher

(Sigmar Gabriel [SPD]: In den 70er- Jahren!)

- also in den 70er-Jahren – gegangen ist, als die Bauwirtschaft die Kampagne machte „Junge, sei schlau, geh zum Bau“. Damals hat man versucht, das aufzufangen.

Ich glaube – das erweist sich auch bis heute –, dass die Krise der Bauwirtschaft, die sich natürlich auch auf den Ausbildungsbereich niederschlägt, mit dieser Regelung nicht behoben wird. Aber ich respektiere es, das war zu dem Zeitpunkt ein Abkommen zwischen den Tarifpartnern. Jeder Bereich muss sehen, wie er das selber regelt.

Mir ist auch bekannt, dass es ein entsprechendes Urteil bzw. eine Urteilsbegründung des Bundesverfassungsgerichts – wie ich höre, aus dem Jahre 1980 – gibt,

(Sigmar Gabriel [SPD]: Zu exakt die- ser Frage!)

obwohl ich das Urteil im Einzelnen nicht kenne; das will ich gerne einräumen. Es ist durchaus zulässig, zu sagen – dabei denke ich auch daran, wie etwa Ihre Bundestagsfraktion und andere auf Urteile oder Begründungen des Bundesverfassungsgerichts reagiert haben –, dass das nicht die eigene Auffassung ist. Das unterliegt noch Artikel 5 Meinungsfreiheit. Es ist auch zulässig zu sagen, dass im Unterschied zu Richtern Politiker, die ja die ökonomischen Folgen von bestimmten Regelungen anders erfahren als Richter und manchmal auch Bedienstete des öffentlichen Sektors, das in diesem Zusammenhang möglicherweise anders beurteilen.

Deswegen bleibe ich bei meiner Einschätzung und würde auch jederzeit dem Bundesverfassungsgericht in der Sache widersprechen, was das Bundesverfassungsgericht aber nicht daran hindern würde, mich angesichts der Tatsache, dass ich nicht Jurist bin, jederzeit für, wie es so schön heißt, nicht satisfaktionsfähig zu halten.

(Beifall bei der FDP und bei der CDU)

Eine weitere Zusatzfrage stellt der Kollege Oppermann.

Ich habe eine Frage an den Herrn Wirtschaftsminister. Herr Hirche, Ihr Kollege Dr. Walter Döring hat im Januar auf dem Ordentlichen Landesparteitag der FDP in Baden-Württemberg ausgeführt:

„Ich fordere die Vertreter des Handwerks dazu auf, sich nicht als Bremser auf dem Weg zur Selbstständigkeit zu betätigen. Der Meisterbrief soll nicht abgeschafft werden, aber als unabdingbare Voraussetzung für die Selbstständigkeit wird er nicht in allen Bereichen und nicht auf alle Zeit zu halten sein.“

Später sagte er:

„Ja zum Meisterbrief als freiwilliges Zertifikat und als ganz besonderes Gütesiegel, aber nicht zur Verhinderung zur Schaffung von Arbeitsplätzen.“

Nun hat Herr Wulff eben gesagt, es sei unabdingbare Voraussetzung für die Schaffung von - -

(Bernd Althusmann [CDU]: Kommen Sie zur Frage!)

- Ich muss doch meine Frage vorbereiten. Die Frage steht doch schon im Raum, und sie ist offenkundig unangenehm. Deshalb wollen Sie mich jetzt stören. - Nun hat aber Herr Wulff gesagt, der Zwang zum Meisterbrief sei unabdingbare Voraussetzung für die Schaffung neuer Arbeitsplätze, wenn sich jemand unternehmerisch im Handwerk betätigen wolle.

Herr Hirche, ich frage Sie: Neigen Sie nun eher den strukturkonservativen Positionen des Ministerpräsidenten oder eher den liberalen Positionen Ihres Kollegen aus Baden-Württemberg zu?

Für die Landesregierung antwortet Minister Hirche.

(Sigmar Gabriel [SPD]: Kommt drauf an!)

Herr Oppermann, zunächst einmal will ich sagen: Ich bitte die Kollegen aus der CDU-Fraktion um Verständnis dafür, dass ich nichts dagegen habe, wenn von der Opposition hier im Landtag längere Zitate liberaler Politiker vorgetragen werden.

(Beifall bei der FDP - Sigmar Gabriel [SPD]: Wenn Sie das schon nicht vortragen, müssen wir das machen!)

Ich rege an, diese Art von ergänzender Arbeitsteilung vielleicht auch noch in Ihr Strategieprogramm aufzunehmen.

(Beifall bei der FDP und bei der CDU)

Ich will Ihnen gern bestätigen, dass es in einer liberalen Familie auch dann, wenn man den gleichen Vornamen hat, nicht verpflichtend ist, immer die gleichen Auffassungen zu vertreten. Deshalb dürfte es Sie auch nicht überraschen, wenn ich an dieser Stelle sage:

(Sigmar Gabriel [SPD]: Nein, das überrascht uns nicht!)

Mich leitet nicht eine so genannte liberale oder strukturkonservative Einstellung - ich habe gelegentlich auch Probleme mit der Verwendung des Adjektivs „liberal“ im Zusammenhang mit bestimmten Positionen -, sondern die Frage: Welche Wirkungen hat etwas in unserer Gesellschaft? Ich meine, dass durch den großen Befähigungsnachweis ein Stückchen Qualitätssicherung in einem Wirtschaftsbereich erreicht wird.

(Beifall bei der FDP und bei der CDU)

Angesichts der Tatsache, dass wir über 130 000 Meister, also Menschen mit großem Befähigungsnachweis, haben, die nicht bereit sind, sich selbstständig zu machen, ist meines Erachtens das Argument, auch von Freunden aus meiner Partei, widerlegt, der große Befähigungsnachweis sei in diesem Zusammenhang ein Hindernis für das Selbstständigmachen. Das hat eher damit zu tun, dass diese Menschen, die die Qualifikation haben und sich selbstständig machen könnten, das kaufmännische Risiko scheuen.

Meine Damen und Herren, ich halte es deswegen für richtig, dass auch von Gesellen, die länger in

ihrem Beruf tätig sind - damit meine ich den Vorschlag mit den zehn Jahren -, mindestens eine kaufmännische Prüfung verlangt wird, damit wir nicht anschließend, wenn die Betreffenden glauben, sich ohne kaufmännische Kenntnisse selbstständig machen zu können - mit geringeren Overheadkosten und mit Dumpingangeboten gegenüber bestehenden Handwerksbetrieben -, nach einer Insolvenz zuerst des bestehenden Betriebes, der sich wegen des neuen Dumpingbetriebes nicht hat über Wasser halten können, und dann des Dumpingbetriebes, der sich mit diesen Preisen nicht am Markt halten konnte, Existenzgründerprogramme einsetzen müssen, um all diese Leute wieder aufzufangen.

(Beifall bei der FDP und bei der CDU)