Protokoll der Sitzung vom 19.01.2012

(Zustimmung bei den GRÜNEN und bei der LINKEN - Glocke des Präsi- denten)

Meine Damen und Herren, es reicht einfach nicht, nur zu versuchen, Vertrauen zu schaffen. Es reicht auch nicht, nur eine kleine Arbeitsgruppe einzurichten. Vertrauen und Konsens heißt auch Einbeziehung der gesellschaftlichen Organisationen, die sich in diesem Bereich viel Know-how, viel Wissen erarbeitet haben:

(Dr. Gero Clemens Hocker [FDP]: Sie, oder was?)

die großen Umweltverbände, BUND und Greenpeace, die Bürgerinitiativen, in denen Menschen, Bürgerinnen und Bürger über viele Jahre an diesem Thema gearbeitet haben. Wir haben eine Chance, und das haben wir explizit in den ersten Absatz unseres Antrags geschrieben, Herr Bäumer.

(Glocke des Präsidenten)

Wir wollen diese Verhandlungen; wir wollen diese Chance nutzen. Aber wir müssen uns auch darüber klar sein, dass wir einen gesellschaftlichen Prozess erreichen müssen - - -

Letzter Satz, bitte!

- - - und nicht nur einen Formelkompromiss. Auf der Basis, die Sie hier vorgestellt haben, ist das aber nicht möglich, Herr Birkner.

(Zustimmung bei den GRÜNEN)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, es liegt keine weitere Wortmeldung vor. Damit sind wir am Ende der Beratung und kommen zur Ausschussüberweisung.

Zuständig soll der Ausschuss für Umwelt und Klimaschutz sein. Wer so entscheiden möchte, den bitte ich um das Handzeichen. - Ist jemand dagegen? - Damit ist so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 24 und 25 vereinbarungsgemäß gemeinsam auf:

Erste Beratung: Keine Abschiebung ins Elend - Wintererlass für Minderheiten - Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen - Drs. 16/4349

Erste Beratung: Keine Winterabschiebung in den Kosovo - Antrag der Fraktion der SPD - Drs. 16/4359

Wir kommen zur Einbringung. Zunächst wird der Antrag unter Punkt 24 eingebracht, und zwar von Frau Polat für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Frau Polat, Sie haben das Wort.

Vielen Dank. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir brauchen dringend einen Wintererlass gegen die Abschiebung von Menschen in den Kosovo oder in die benachbarten sogenannten sicheren Drittstaaten. Es muss etwas geschehen; denn nach wie vor finden Abschiebungen durch die niedersächsischen Behörden statt, wie auch in den vergangenen Wochen über Weihnachten und im neuen Jahr. Sie nehmen keine Rücksicht auf Familien oder andere schutzbedürftige Gruppen, obwohl Sie genau wissen, dass gerade in den Wintermonaten die Not in der Kälte am größten ist.

Man muss sich die Situation insbesondere von Minderheiten im Kosovo einmal vor Augen führen. Sie waren ja selbst auf einer Delegationsreise dort. Darüber hinaus gibt es eine sehr eindrucksvolle, noch einmal aktualisierte Studie von UNICEF. Danach bleiben Romakindern, die aus Deutschland und anderen europäischen Ländern in den Kosovo abgeschoben werden, dort weiterhin elementare Rechte vorenthalten. Ich gebe hier einige Punkte daraus wieder.

Das Thema Bildung: Drei von vier der betroffenen schulpflichtigen Roma-, Aschkali- und Ägypterkinder gehen nicht zur Schule, weil sie mit ihren Familien in extremer Armut am Rande der Gesellschaft isoliert werden. Die meisten von ihnen - es geht hier insbesondere um die Kinder, die aus Deutschland kommen - sind in Deutschland geboren und aufgewachsen. Von den vorgesehenen Maßnahmen wie Sprachkursen oder Förderklassen wurde keine einzige umgesetzt. Immer wieder ignorieren Schuldirektoren offizielle Regelungen, die das Recht auf Bildung für diese Kinder sicherstellen sollen, und weigern sich, diese Kinder aufzunehmen.

Das Thema Armut: Viele rückgeführte Familien leben weiterhin in heruntergekommenen Wohnungen mit Plastikfolien in den Fensterrahmen sowie ohne Heizung und Wasseranschluss. Ich war selber in Nord-Mitrovica. Dort liegt das bekannte Romalager, das bleiversucht ist. Auch dort ist bisher nicht viel mehr passiert.

Das Thema mangelnde Unterstützung: Zwar hat die kosovarische Regierung erstmals einen Reintegrationsfonds aufgelegt. Er ist mit ungefähr 3,4 Millionen Euro ausgestattet. Die Bürgermeister und Schuldirektoren wurden angewiesen, Rückkehrerfamilien zu unterstützen. Doch die Umsetzung der vorgesehenen Reintegrationsmaßnahmen auf der Ebene der Gemeinden ist weiterhin völlig unzureichend. Das System und die bestehenden Verfahren, um Hilfe zu erhalten, sind sehr langsam und umständlich. Nur ein kleiner Teil der vorgesehenen Mittel erreicht bislang einige wenige Familien.

Das Gleiche gilt natürlich auch für die Passersatzbeschaffung. Immer wieder haben wir das Problem, dass keine gültigen Pässe vorliegen. Und wir wissen, dass gerade Behörden, wenn sie überhaupt noch existieren, es insbesondere den Roma bei der Identitätsklärung durch Ausstellung von Passersatzpapieren schwer machen.

UNICEF empfiehlt zur Verbesserung der Situation deshalb, eine Rückführung von Kindern aus Roma-, Aschkali- und Ägypterfamilien aus Deutschland in den Kosovo nur vorzunehmen, wenn die Auswirkungen auf das Wohl des Kindes im Einzelfall überprüft wurden. Zwangsweise Rückführungen sollten unterbleiben. Stattdessen sollten, so UNICEF, Bundesregierung und Bundesländer kosovarischen Kindern, die in Deutschland geboren und integriert sind, ein dauerhaftes Bleiberecht geben.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der LINKEN und Zustimmung bei der SPD)

Dafür treten wir natürlich auch ein. Aber an dieser Stelle geht es uns um diese wichtige kurzfristige Maßnahme eines Wintererlasses.

Mangels entscheidender Verbesserungen ist somit auch die Position des Menschenrechtskommissars des Europarates, Thomas Hammarberg, den wir hier schon öfter zitiert haben, hochaktuell. Er sagte, die deutsche Bundesregierung sollte Zwangsrückführungen in den Kosovo vermeiden. Die dortige Infrastruktur und die dort vorhandenen Res

sourcen seien für eine nachhaltige Integration der rückgeführten Flüchtlinge nicht ausreichend. Viele Familien mit Kindern - darunter vor allem Sinti und Roma, Aschkali und Ägypter - befänden sich in einer sehr schwierigen Lage, insbesondere aufgrund von Diskriminierung, Marginalisierung und Angst um ihre Sicherheit.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, in Niedersachsen leben ca. 2 000 Roma, 250 Aschkali und 50 Ägypter, die eine Duldung haben. Von Januar bis Ende Oktober 2011 wurden aus Niedersachsen für ca. 172 Roma und 34 Angehörige anderer Minderheiten Abschiebungsaufträge an die zuständige Zentrale Ausländerbehörde in Bielefeld erteilt. Ihnen droht tagtäglich die Abschiebung. Einige Abschiebungen konnten verhindert werden, auch aufgrund von Eilanträgen durch die Anwälte.

Die Landesregierung könnte, wenn sie dem Beispiel der grün mitregierten Länder NordrheinWestfalen, Baden-Württemberg und RheinlandPfalz folgen würde, zumindest eine Abschiebung in den Wintermonaten vermeiden. Das wird übrigens auch von den beiden großen Kirchen unterstützt.

Ministerpräsident McAllister hat zum neuen Jahr mit wohlklingenden Worten einen Kurswechsel hin zu einer humaneren Flüchtlingspolitik angekündigt. Bisher legen die flüchtlingspolitischen Geschehnisse in unserem Land allerdings den Verdacht nahe, dass es hier bei leeren Worthülsen bleibt.

(Glocke des Präsidenten)

Innenminister Schünemann hat die in der Härtefallkommission engagierten Kirchen und Wohlfahrtsverbände durch seine Halsstarrigkeit in den letzten Jahren schon mehrmals an den Rand ihrer Toleranzgrenzen und auch darüber hinaus gebracht. Mit Abschiebungen wie der der Familie Nguyen oder aktuell von Frau Ademaj aus Emden sorgt Herr Schünemann auch in der Bevölkerung für Empörung und Entsetzen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Manöver des Ministerpräsidenten ist wirklich durchschaubar. Herr McAllister hat auf dem Empfang im Kloster Loccum zwar einen Kurswechsel angekündigt. Die Beispiele, die ich hier genannt habe, lassen daran aber Zweifel aufkommen. Eine alleinerziehende Frau von ihren minderjährigen Kindern zu trennen und abzuschieben, passt mit einer solchen Ankündigung in Bezug auf die Flüchtlingspolitik nicht zusammen. Das nimmt Ihnen wirklich keiner ab!

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der LINKEN und Zustimmung bei der SPD - Glocke des Präsidenten)

Angesichts solcher Widersprüche ist es kein Wunder, dass die CDU an allen Ecken mit Glaubwürdigkeitsproblemen zu kämpfen hat.

Letzter Satz, bitte!

Gerade in der Flüchtlingspolitik erwartet man jetzt von Ihnen Humanität, die diese Bezeichnung auch wirklich verdient. Ein Wintererlass ist genau das. Warten Sie damit nicht, bis es zu spät ist!

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Lebhafter Beifall bei den GRÜNEN und bei der LINKEN und Zustimmung bei der SPD)

Den Antrag der SPD-Fraktion bringt Frau Dr. Lesemann ein. Sie haben jetzt das Wort.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen, meine Herren! Nach wie vor sind die Lebensbedingungen vor allem im Kosovo für Angehörige der Roma unerträglich. Diskriminierung durch die Mehrheitsbevölkerung, extrem hohe Arbeitslosigkeit, Armut, keine medizinische Versorgung - es gibt dort für Roma keine Möglichkeit, in Sicherheit und Würde zu leben.

Dennoch will die Bundesregierung in den nächsten Jahren über 10 000 Flüchtlinge in die Staaten des ehemaligen Jugoslawien - insbesondere in den Kosovo, aber auch nach Serbien und Mazedonien - abschieben.

Viele dieser Menschen sind bereits in den 90erJahren vor Krieg und Verfolgung geflohen oder waren Opfer der Vertreibungen aus dem Kosovo nach dem Kosovokrieg im Jahre 1999. Andere sind erst in den vergangenen Jahren aus Serbien und Mazedonien geflüchtet, wo Roma massiv von gesellschaftlicher Ausgrenzung und Diskriminierung betroffen sind.

Viele derjenigen, die von Abschiebung betroffen sind, sind in Deutschland geboren oder haben ihre Kindheit und Jugend hier in Niedersachsen verbracht. Ihre Heimat ist hier und nicht in einem

Land, das sie nur vom Hörensagen kennen und das zutiefst mit Erzählungen von Gewalt, Vertreibung und Krieg verbunden ist. Meine Damen und Herren, deshalb müssen sie auch hierbleiben können.

(Beifall bei der SPD und bei der LIN- KEN und Zustimmung bei den GRÜ- NEN)

Seit 2010 sollen jährlich ungefähr 2 500 Menschen aus Deutschland in den Kosovo gebracht werden. Grundlage dafür ist ein gegenseitig beschlossenes Rücknahmeabkommen. Die Abgeschobenen werden ins Ungewisse geschickt. Sie landen im Desaster. Frau Polat hat bereits einige Beispiele gebracht, wie das dann aussieht. Gerade die Roma unter den Abgeschobenen haben im Kosovo vor allem Diskriminierung und Armut zu erwarten. Die Rückkehr ist für viele eine Katastrophe.

Wir haben uns hier bereits mehrfach für einen Abschiebestopp von Roma ausgesprochen. Auch jetzt fehlen Hinweise darauf, dass sich die Lebensbedingungen für diese Gruppe im vergangenen Jahr maßgeblich verbessert haben. Delegationen von Nichtregierungsorganisationen und auch Betroffene berichten immer wieder, dass die Lage der ausgewiesenen und abgeschobenen Minderheitsangehörigen in den Balkanstaaten von antiziganistischem Rassismus und Bedrohung der jeweiligen Mehrheitsgesellschaft, von extrem hoher Arbeitslosigkeit, sozialer Ausgrenzung, einem unzureichenden Zugang zu medizinischer Versorgung sowie menschenwürdigem Wohnraum und Bildung geprägt ist. Vor allem Kinder und Jugendliche, die einen großen Teil ihres Lebens hier in Deutschland verbracht haben, leiden unter dieser Situation.

Für den Kosovo bestätigt ein Bericht der UNICEF vom August 2011 keine Verbesserung der Lebensumstände. Für viele Familien haben sich die Lebensumstände sogar verschlechtert. Ein Bericht der EU-Kommission vom Oktober 2011 stellt weiterhin Probleme bei der Bereitstellung von Wohnraum für Minderheitsangehörige fest bei gleichzeitig fehlenden Erwerbsmöglichkeiten und erschütternden Lebensbedingungen.

Meine Damen und Herren, ich möchte Ihnen noch einen weiteren Aspekt nennen, der die Abschiebung von Romaflüchtlingen aus Deutschland in einem kritischen Licht stehen lässt. Es ist der ursächliche Zusammenhang zwischen Antiziganismus und gesellschaftlicher Ausgrenzung in den Herkunftsstaaten. Es ist aber auch die historische

Verantwortung der Bundesrepublik Deutschland für die Verbrechen an den Sinti und Roma im Nationalsozialismus.

(Beifall bei der SPD, bei den GRÜ- NEN und bei der LINKEN)