Protokoll der Sitzung vom 20.03.2012

(Karl-Heinz Klare [CDU]: Das jetzt auch noch!)

Wie viele Leute gehen denn mit Magersucht und Magenkrämpfen ins Gymnasium? Dort können Sie einmal zeigen, ob Ihnen das Kindeswohl wichtig ist.

(Beifall bei den GRÜNEN - Unruhe)

Meine Damen und Herren, ich würde gern den nächsten Redner aufrufen. Aber im Moment ist es zu laut. - Danke schön.

Herr Försterling, Sie haben für die FDP-Fraktion das Wort.

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf machen wir einen wichtigen und richtigen Schritt zur Verwirklichung der Inklusion in niedersächsischen Schulen. Ein langer Diskussionsprozess liegt hinter uns. Es freut mich, dass es uns in den Beratungen ausnahmsweise einmal gelungen ist, die Gemeinsamkeiten zu betonen und sich gemeinsam auf die Formulierung der entscheidenden Passagen zu verständigen.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP und Zustimmung bei der SPD)

Mit dem Gesetzentwurf gehen wir bundesweit einen einmaligen und einen sehr ausgewogenen Weg. Zum einen werden wir zum 1. August 2013 flächendeckend mit der inklusiven Beschulung beginnen. Dort, wo es gewünscht ist, werden wir das im Primarbereich auch schon zum 1. August 2012 tun.

(Patrick-Marc Humke [LINKE] meldet sich zu einer Kurzintervention)

- Ich bin erstaunt und frage mich, was den Kollegen Humke jetzt schon zu einer Kurzintervention reizt.

(Patrick-Marc Humke [LINKE]: „Der ausgewogene Weg“!)

- Hören Sie sich meine Argumentation zum ausgewogenen Weg doch erst einmal weiter an! Vielleicht überlegen Sie es sich ja noch.

Zum anderen setzen wir auf eine sehr weit gehende Wahlfreiheit der Eltern. Die Eltern werden sich entscheiden können, ob sie für ihr Kind die Förderschule oder die Beschulung in einer Regelschule wählen. In der Diskussion in den letzten Wochen und Monaten hat sich gezeigt, dass es in Niedersachsen zahlreiche Eltern gibt, die sich für die inklusive Beschulung sehr stark gemacht haben,

(Zustimmung bei der CDU)

dass es aber auch sehr viele Eltern gibt, die sich für den Erhalt der Förderschule stark gemacht haben, weil sie das für den richtigen Schulort ihrer Kinder halten.

(Beifall bei der FDP und bei der CDU)

Damit unterscheiden wir uns auf der einen Seite von Ländern wie Bremen und Hamburg, die die Inklusion von heute auf morgen für alle umgesetzt haben, und auf der anderen Seite von Bundesländern wie beispielsweise Hessen, das lediglich in zwei Modellregionen mit der Inklusion beginnen will. Genau das ist der sehr ausgewogene Weg, den wir hier in Niedersachsen gehen wollen. Daher war es richtig, dass wir uns die notwendige Zeit genommen haben, um einen Konsens zu erarbeiten. Es ist auch richtig, dass wir jetzt entschlossen genug sind, die Inklusion in Niedersachsen umzusetzen. Es ist diese Umsetzung, die gelingen muss, damit am Ende auch Inklusion gelingt.

Wir haben im Jahre 2011 bereits mit umfangreichen Fortbildungen für die Lehrkräfte im Grundschulbereich begonnen. Dies gilt es jetzt für die Lehrkräfte im weiterführenden Bereich fortzuführen. Wir können bereits auf die hervorragenden Erfahrungen mit den regionalen Integrationskonzepten und den Mobilen Diensten zurückgreifen.

Mit der sonderpädagogischen Grundversorgung, der Doppelzählung, der individuellen Zuweisung von Förderschullehrerstunden und Stunden für pädagogische Mitarbeiter sowie der Schaffung eines zusätzlichen Kontingents von 100 Vollzeitlehrereinheiten für den Ausgleich besonderer Belastungen schaffen wir ein Umfeld, in dem Inklusion gelingen kann.

(Beifall bei der FDP und bei der CDU)

Ich weiß, dass sich viele Eltern und viele Lehrkräfte weitere und zusätzliche Ressourcen wünschen. Ich kann Ihnen versichern, dass wir als FDPFraktion uns dafür stark machen, weitergehende Ressourcen zur Verfügung zu stellen, wenn sie vorhanden sind.

In den letzten Wochen war insbesondere die Klassengröße immer wieder in der Diskussion. Mit der Doppelzählung bei der Klassenbildung gehen wir einen ersten Schritt. Sobald der Klassenteiler durch die Doppelzählung überschritten wird, verkleinern sich die Lerngruppen sehr stark und sehr schnell. Häufig sind wir dann von 30 schnell bei 21 oder 22 Schülerinnen und Schülern. Eine künftige Herausforderung wird es sein, dort noch nachzusteuern, wo es trotz Doppelzählung eine Klassengröße von 27 oder 28 Schülerinnen und Schülern gibt. Wir müssen einen Weg finden, um auch dort kleinere Lerngruppen zu verwirklichen.

Lassen Sie mich zum Schluss noch einmal um Zustimmung bei den Grünen und bei der Linken werben, trotz der Einlassung von Frau Korter eben. Im Wesentlichen haben Sie sich in den Beratungen auf zwei Kritikpunkte konzentriert: zum einen auf die Einschränkung des Elternwahlrechts und zum anderen auf die Beibehaltung der Förderschulen in den Bereichen Lernen, Sprache und emotionale und soziale Entwicklung.

Die Einschränkung des Elternwahlrechts kann nach dem jetzigen Gesetzentwurf in zwei Fällen erfolgen. Sie kann erfolgen, wenn das Kindeswohl gefährdet ist. In Deutschland eine Kindeswohlgefährdung gerichtsfest zu attestieren, ist eine sehr hohe Hürde. Frau Korter hat den entsprechenden Paragrafen eben nicht zitiert. Deswegen will ich es machen:

„Eine Schülerin oder ein Schüler kann auf Vorschlag der Schule durch die Landesschulbehörde an die Schule einer anderen, für sie oder ihn geeigneten Schulform überwiesen werden, wenn sie oder er auch unter Beachtung der Anforderungen an eine inklusive Schule … nur an der anderen Schule hinreichend gefördert werden kann und ihr oder sein Kindeswohl den Schulwechsel erfordert.“

(Karl-Heinz Klare [CDU]: Genau das ist es!)

Das ist eine sehr hohe Hürde, weil erst nachgewiesen werden muss, dass sämtliche Bemühungen in der inklusiven Schule gescheitert sind. Das müssen nicht nur Fälle sein, in denen Schule versagt haben. Das kann - das wird von vielen Eltern von Kindern mit Behinderung geschildert, wenn es in die Pubertät geht - beispielsweise auch die soziale Isolation in einer Schule sein. Wenn das eintritt, dann kann das, auch wenn man mit noch so

vielen Förderschullehrerstunden hineingeht, zu einer Kindeswohlgefährdung führen.

(Zuruf von Ina Korter [GRÜNE])

Wenn sich Eltern trotz intensiver Beratung weigern, ihr Kind an einer anderen Schule unterrichten zu lassen, muss es eine Möglichkeit geben, als Ultima Ratio in diesem äußersten Fall einzuschreiten. Das haben auch alle Teilnehmer in der Anhörung deutlich gemacht.

(Beifall bei der FDP und bei der CDU)

Die Beibehaltung von Förderschulen in den Bereichen Lernen, Sprache und emotionale und soziale Entwicklung kann doch nicht der Grund sein, dass Sie sich in der Abstimmung über diesen Gesetzentwurf enthalten. Dass das Elternwahlrecht zwischen der Förderschule und der Regelschule von Ihnen als Grund für Ihre Enthaltung herangezogen wird, kann ich wirklich nicht nachvollziehen.

(Ina Korter [GRÜNE]: Das haben wir nie gesagt!)

Meine sehr geehrten Damen und Herren, ja, es gibt Unterschiede zwischen den Fraktionen, wie man sich den Weg der Inklusion vorstellt. Aber hier geht es um einen ersten, wichtigen Schritt in der Bewältigung einer gesamtgesellschaftlichen Herausforderung. Diesen ersten Schritt sollten wir daher mit einer großen Mehrheit gemeinsam tun.

Frau Korter, Sie haben die Unterschiede deutlich gemacht. Aber bekennen Sie sich auch zu unserer gemeinsamen Verantwortung! Lassen Sie uns den gemeinsamen Willen zum Ausdruck bringen, Inklusion in Niedersachsen zu verwirklichen! Stellen Sie sich nicht ins gesellschaftliche Abseits, sondern gehen Sie diesen ersten Schritt mit uns gemeinsam!

(Lebhafter Beifall bei der FDP und bei der CDU)

Meine Damen und Herren, mir liegt der Wunsch auf eine Kurzintervention des Kollegen Humke der Fraktion DIE LINKE vor. Sie haben 90 Sekunden.

Vielen Dank. - Herr Präsident! Herr Försterling, Sie haben von einem ausgewogenen Weg gesprochen. Frau Heiligenstadt sprach von dem goldenen Mittelweg, der gefunden worden sei. Wir stellen nicht in Abrede, dass dieser Gesetzentwurf ein Fortschritt gegenüber dem bisher geltenden Ge

setz ist. Dazu wird Frau Reichwaldt etwas mehr sagen.

Leider ist eine Kurzintervention nur dann möglich, Frau Heiligenstadt, wenn man Bezug auf diejenigen nimmt, Herr Försterling, die diesen Unsinn hier von sich gegeben haben. Sie stellen die Wahlentscheidung der Eltern über alles. Sie sorgen für Bremsklötze. In dem ersten Schritt hätte die sofortige Abschaffung der Förderschulen für Lernbehinderte, seelisch-emotional Behinderte und sprachlich behinderte Kinder integriert werden müssen. Damit wären 70 % der sogenannten Förderschüler in den allgemeinbildenden Schulen inkludiert.

Diese Chance haben Sie mit diesem Gesetzentwurf vertan. Nicht nur, dass Sie ganz demokratisch eine Abschulung für alle zulassen, und Sie stellen eben auch nicht die Ziele der UN-Behindertenrechtskonvention über alles. Nein, Sie stellen andere Interessen über alles.

(Hans-Werner Schwarz [FDP]: Die In- teressen der Kinder!)

Sie vergessen dabei zudem, dass Sie die Kommunen als Schulträger vollkommen im Regen stehen lassen. Auch dazu haben Sie nichts gesagt.

(Glocke des Präsidenten)

- Mein letzter Satz: Erklären Sie in Ihren Kommunen, wie Sie die Inklusion und die baulichen Maßnahmen tatsächlich umsetzen wollen! Dafür gibt es keine Lösungsansätze. Es geht also bei Weitem nicht weit genug. Es wird sehr viel Arbeit werden, tatsächlich für die Umsetzung der Ziele der UNBehindertenrechtskonvention zu sorgen; denn das beginnt auch in den Köpfen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN)

Herr Försterling möchte erwidern. Bitte!

Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Humke, ich will ganz kurz auf das eingehen, was Sie gesagt haben. Ihre Aussage, dass man sofort 70 % der Schülerinnen und Schüler in Inklusion hätte, würde man die Förderschulen Lernen, Sprache und emotionale und soziale Entwicklung auflösen, hat mich etwas erstaunt.

Herr Humke, das unterscheidet uns grundsätzlich: Die einen sehen Statistiken, die anderen sehen die

Kinder. Bei uns stehen die Kinder im Mittelpunkt der Politik.