Protokoll der Sitzung vom 16.06.2009

Es ist gut, dass wir in unserem demokratischen Staatswesen nicht der Versuchung erliegen, die Erinnerung an bedeutende politische Persönlichkeiten und Leistungen der Nichtwürdigung und dem Vergessen anheimzugeben. Mit der Erinnerung an die 100. Geburtstage der beiden ehemaligen Niedersächsischen Ministerpräsidenten Heinrich Hellwege und Alfred Kubel in diesem Jahr will der Niedersächsische Landtag dafür ein Zeichen setzen, dass die in Diktaturen und autoritären Regimen seit alters her übliche sogenannte damnatio memoriae, d. h. die Vernichtung der Erinnerung, nicht gelten soll. Das ist gut und verdient Anerkennung; denn wenn auch vergangene Politik in Geschichte geronnen ist und sich nicht wiederholt, ist sie damit nicht wirklich vergangen. Hinter offenbar Zeitbedingtem und Tagespolitischem wirkt sie in Strukturen nach, lebt in angenommenen Entscheidungen auch unbewusst weiter und taucht zuweilen in verwandelter Gestalt plötzlich und unvermutet wieder auf.

Alfred Kubel ist so ein Fall. 28 Jahre im niedersächsischen Landeskabinett zu überleben, ist nicht nur unter psychologischen Gesichtspunkten eine sportliche Leistung,

(Heiterkeit)

sondern grundiert politisch tiefer. Am 25. Mai 1909 - einiges überschneidet sich mit dem, was Herr Dinkla und Herr Wulff gesagt haben - in Braunschweig als Arbeitersohn in einer sozialdemokratisch denkenden Familie geboren, wuchs er nach dem Ersten Weltkrieg in Verhältnissen auf, die für den aufgeweckten Jungen wegen des

Schulgeldes keine andere Ausbildung als die einer Mittelschule und einer kaufmännischen Lehre zuließen. Er hat sich als Drogist, Hilfsarbeiter, Handlungsgehilfe und Industriekaufmann durchgeschlagen. Er brachte es schließlich zum Werkmeister, Prokuristen und Handlungsbevollmächtigten in einer Gummifabrik. Seine auch später gerühmte wirtschaftliche Kompetenz hatte eine praktische Basis mit starker grundsätzlicher Orientierung.

Ich möchte im Folgenden nicht über die vielen Einzelaktivitäten seines Lebens sprechen - das ginge zeitlich gar nicht -, sondern versuchen, ein wenig von seinem Denken spürbar werden zu lassen, das ihn so unverwechselbar gemacht hat.

Er trat in den 20er-Jahren nicht der SPD bei. Die war ihm zu betulich. Er wandte sich - unter starkem Einfluss von Otto Bennemann, dem ehemaligen niedersächsischen Innenminister und Braunschweiger Oberbürgermeister - einer sozialistischen Splittergruppe, dem Internationalen Sozialistischen Kampfbund (ISK), zu, der auf der Grundlage der Ideen des Göttinger Philosophen Leonhard Nelson, eines Neukantianers, nach ethischen Prinzipien leben und politisch handeln wollte. An die marxistische Lehre von der Naturnotwendigkeit des historischen Ablaufs glaubten die Nelsonianer nicht. Auch Kubel nicht. Für ihn waren vielmehr die Gedanken der Freiheit und der Gerechtigkeit leitende Handlungsprinzipien für alle Lebensbereiche.

Kubel hat sie in immer wieder neuen gedanklichen Anstrengungen mit philosophischem Anspruch durchdacht. Dabei war er keineswegs ein moralischer Rigorist. Er stellte den Gedanken der Vernunft und die Möglichkeit in den Mittelpunkt seines Denkens, dass man mit logischem und fehlerfreiem Denken und sachlichen Erwägungen die Wahrheit - was das im Einzelfall auch immer sein mochte - finden könne. Er hielt es sogar für möglich, dass Menschen unabhängig von den subjektiven Interessen bereit sein könnten, die Wahrheit zu suchen. Wenn jemand dies nicht tue, sei das weniger eine Frage des Intellekts als des Charakters. Für ihn war gemäß Kant die Vernunft „der wahre Gerichtshof für alle Streitigkeiten im Denken und Verhalten der Menschen“.

Die ISK-Leute haben sich mit dem heraufziehenden Nationalsozialismus nicht nur politisch, sondern ethisch auseinandergesetzt; das sind zwei verschiedene Sachen. Ihr Widerspruch gründete in der frühen Erkenntnis, dass es sich hier um eine menschenfeindliche und aggressive Gefahr han

delte, auf die man sich frühzeitig vorbereiten muss. Kubel gehörte deswegen von Anfang an in Berlin einer Gruppierung an, die illegal Flugblätter verteilte, Bedrängten half und Aufklärung betrieb, u. a. auch während der Olympiade 1936. Disziplinierte Arbeit blieb seine Stärke. Er wurde 1937 verhaftet und ein Jahr später wegen Vorbereitung zum Hochverrat zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Das war die Zeit der Untersuchung.

Er erzählte noch in späten Jahren, dass ihn der Senatsvorsitzende mit Blick auf den jüdischen Leiter der Berliner ISK-Gruppe Julius Philippson mit der Frage bedrängte: „Sehen Sie nun ein, dass die Juden unser Unglück sind?“, und er antwortete: „Ich bin als Deutscher zu stolz, um zuzugeben, dass eine solche Minderheit unser Unglück sein kann.“ Solche präzise Schlagfertigkeit hat jeder erlebt, der es mit ihm zu tun bekam. Das war auch in späteren Jahren durchaus nicht bequem, weder für seine Parteigenossen, noch für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Ministerien noch für die politischen Gegner. Seine Zwischenrufe sind legendär und verdienten es vielleicht, genauer betrachtet zu werden.

Während des Krieges arbeitete er in einer Gummifabrik, machte sogar eine patentierte Erfindung und reiste geschäftlich viel. In der Endphase des Krieges setzte sich Kubel, um dem Volkssturm zu entgehen, nach Adenbüttel bei Braunschweig ab. Nach der Befreiung hat er in Braunschweig mitgemischt, eine sozialistische Partei zu gründen, die sich auf demokratische Weise aus den Resten der Arbeiterbewegung bilden sollte. An der Wiedergründungsarbeit der SPD durch Kurt Schumacher waren seit dem Sommer 1945 auch der ISK und Willy Brandts SAP beteiligt. Insofern landete Alfred Kubel durch seinen Eintritt 1945 bei der SPD. Den Versuch des ehemaligen Braunschweiger SPDMinisters Otto Grotewohl - ich erwähne das, weil die meisten vielleicht gar nicht wissen, dass er aus Braunschweig kam -, einen Zusammenschluss von SPD und KPD zu betreiben, lehnte Kubel ab.

Kubel spielte bei der Neuorganisation der deutschen Verwaltung im Lande Braunschweig im Rahmen der Kompetenzen, die die Engländer zuließen und die Kubel ständig zu erweitern versuchte, eine nachvollziehbare Rolle. Er wurde im Januar 1946 Mitglied des ernannten Landtages in Braunschweig und nach einigen Querelen am 7. Mai Braunschweigischer Ministerpräsident. Aus dieser Zeit stammen übrigens Kubels Überlegungen zur Neugliederung der deutschen Länder, die der Bildung eines großen Nordstaates galten und

die er bis zuletzt nicht aufgegeben hatte. In diesen Tagen wird man noch damit konfrontiert, wenn man in Hannover mit der unvollständigen städtebaulichen Gestalt des sogenannten Regierungsviertels konfrontiert wird.

Aus dieser Zeit stammen auch einige der grundlegenden Reden, die über sein ethisch motiviertes Politikverständnis Auskunft geben. Kubel glaubte, dass die demokratische Arbeiterbewegung aufgrund ihrer Haltung zum Nationalsozialismus das moralische Recht auf Führung des Landes beanspruchen könne. Dies galt im Übrigen auch gegenüber der Wissenschaft, die er zwar in ihren wissenschaftlichen Leistungen respektierte, aber in ihrem sittlichen Versagen geißelte. „Ich möchte fragen“, so rief der 37-jährige Ministerpräsident im Juni 1946 den versammelten Braunschweiger Wissenschaftlern zu, „wie hoch ist der Grad der Wahrscheinlichkeit dafür, dass in der Wissenschaft Verstand und Charakterreinheit und Charakterstärke, Technik und Ethik, Zivilisation und Kultur in einer schönen Harmonie miteinander vereint vorwärtsgeschritten sind?“ „Ist es nicht die Wissenschaft gewesen, die mit Schuld daran trägt, dass unser Land in Trümmern liegt, dass unsere Menschen in Verzweiflung stehen?“ Vielleicht liege das Unglück darin, dass die Vertreter der Wissenschaft selbst „nicht erkannt haben, dass es nicht genügt, der seelisch unreifen Menschheit immer neue Möglichkeiten in die ungeschickten Hände zu geben“. „Der Anspruch der Wissenschaft zur Teilnahme an der Führung der Menschheit, der ihr aufgrund ihres Wissens von der Menschheit zuerkannt wurde, macht sie schuldiger, als die Masse des Volkes ist“.

Diese Deutlichkeit mag im Einzelfall ungerecht sein, aber ich weiß von ihm, dass er Otto Hahn bohrend danach gefragt hat, ob dieser sich über die Folgen und die sittliche Verantwortung des Wissenschaftlers bei der Entdeckung der Atomspaltung im Klaren gewesen sei. Otto Hahn hat damals ganz ungläubig geschaut. Seine Frau hat genickt.

Kubels Fragestellung hat in ihrer Grundsätzlichkeit im Übrigen nichts an Aktualität eingebüßt, wie wir aus den Debatten über die Stammzellforschung, die Sterbehilfe, die Präimplantationsdiagnostik und die Genmanipulation bei Lebensmitteln erleben.

Kubel ist im ersten niedersächsischen Kabinett, das noch auf Betreiben der Alliierten ein Allparteienkabinett unter Einschluss der KPD war, Wirtschaftsminister geworden. Von 1947 an, in der

ersten, aus dem gewählten Landtag hervorgegangenen Regierung, war er Wirtschafts- und Verkehrsminister, von 1948 an Arbeits-, Aufbau- und Gesundheitsminister und schließlich von 1951 bis 1955 Finanzminister. Selbst so etwas wie die Einführung der flächendeckenden Tuberkuloseuntersuchung stammt von ihm.

Das Wirtschaftsressort war nach dem des Ministerpräsidenten damals wohl das wichtigste. Denn von hier wurden die Mangelwirtschaft verwaltet, der Wiederaufbau betrieben und die dafür notwendigen rechtlichen und materiellen Regelungen entworfen - z. B. so etwas Kompliziertes wie das Trümmerräumungsgesetz mit den Ansprüchen der Eigentümer -; die Ankurbelung der Wirtschaft wurde begonnen, die damals u. a. auch die Demontage der Salzgitter-Stahlwerke und der Werften beinhaltete.

Aus heutiger Sicht kann man sich den unvorstellbar großen politischen Druck kaum noch vorstellen, der auf den damals Handelnden ruhte. Nicht nur die darniederliegende Wirtschaft, auch die die Aufnahmekapazität fast überstrapazierende Zahl der Flüchtlinge, die Beschaffung von Arbeit, die Organisation des gesamten Bildungswesens unter den Bedingungen von Hunger und Kälte usw. lassen manches heute diskutierte Problem ziemlich unbedeutend erscheinen.

Kubel war einer der wenigen sozialdemokratischen Wirtschaftsexperten, die Schumacher auch für weitergehende Ämter vorgesehen hatte.

Dies war eine Zeit, in der grundlegende Debatten über die Wirtschaftsordnung geführt wurden, die auch Verstaatlichungen oder Enteignungen von Schlüsselindustrien oder von Grund und Boden von einer bestimmten Größe an durchaus einschlossen. Für Parteiprogramme einschließlich des der CDU waren das noch 1948 keine Tabuthemen. Der Niedersächsische Landtag hat darüber diskutiert, wenn auch nicht allzu hitzig.

Kubels zentrale Rolle in diesen Ordnungsdebatten verdient nicht nur aus historischer Sicht Aufmerksamkeit. Ein Mann, der sich so stark von dem Gebot der Vernunft in die Pflicht nehmen ließ, musste sich in dem unübersichtlichen Feld der wirtschaftspolitischen Zukunftsvorstellungen ausdrücklich positionieren.

In die damalige Diskussion über die Wirtschaftsordnung, die ja, wie wir wissen, später „soziale Marktwirtschaft“ genannt wurde, hatte er durchaus etwas einzubringen. In einem Grundsatzreferat zur

Frage von Freiheit und Planwirtschaft im April 1948 machte er darauf aufmerksam, dass er Wirtschaft nur vom Gesichtspunkt der Freiheit her denken könne. Er sagte: „Ich lehne grundsätzlich jede These ab, die die Frage so stellt: Wie viel Freiheit darf ich in der Wirtschaft zulassen? Diese Frage ist im Grundsatz falsch.“ Denn „im Anfang ist die Freiheit“, und die Frage könne nur lauten: „Wie weit darf ich Freiheit einschränken, und nach welchen Grundsätzen darf ich sie einschränken? … Als Demokrat muss mir das Ideal der Freiheit obenan stehen.“ Kubel verstand unter Freiheit „das Recht des einzelnen Staatsbürgers, sein Leben so weit wie möglich nach eigenem Willen zu gestalten“.

Er wolle, sagte er, die Freiheit haben - das ist schon zitiert worden, weil es so plastisch ist -, Würstchen zu verkaufen oder eine Konservenfabrik mit vielen Arbeitern zu betreiben - dies, wie gesagt, mit dem Risiko, pleitezugehen. Auf dieser Grundlage ist er sogar bereit, der Freiheit des Wirtschaftens große Möglichkeiten einzuräumen, größere als damals selbst gewagt wurde, einschließlich übrigens der Aufhebung der Zulassungen für Rechtsanwälte, Ärzte, Apotheker oder der Ladenschlusszeiten. Er meinte, wenn er das machen würde, würde man ihn wohl erschlagen. Er steht mit solchen Positionen im Übrigen in der Tradition des liberalen Sozialismus eines Franz Oppenheimer.

Für Kubel taucht die Frage der Einschränkung der Freiheit an zwei Grenzen auf: klassisch nach Kant, wenn die Freiheit des anderen eingeschränkt wird - so ist es auch bei uns im Grundgesetz geregelt -, oder wenn mit meinem Freiheitsgebrauch schwere Ungerechtigkeiten für andere verbunden sind. Nach Kubels Überzeugung stehe also nur im Konfliktfall die Gerechtigkeit über der Freiheit. Am Beispiel der Kriminalität sei dies augenfällig.

In der Wirtschaft macht Kubel allerdings die Beobachtung, dass in der freien Marktwirtschaft unter den Wirtschaftenden selbst keineswegs Freiheit herrsche, weil es Produktionszweige gebe, die praktisch konkurrenzlos seien. Das Wirtschaften mit Gütern, die nicht beliebig vermehrbar seien, gehöre dazu. Um den Urzweck der Wirtschaft, nämlich die beste Versorgung aller, zu garantieren, müsse bei begrenzten Gütern aus diesem Grunde geplant werden. Die Frage sei nicht, ob, sondern wer plane. Und wenn es sich um Monopolisten handele, könne man nicht davon ausgehen, dass diese uneigennützig handelten; denn die Menschen seien nun einmal keine Engel.

Es gehe bei der Frage der Planung also nicht um Vorschriften, wie zu wirtschaften sei, sondern wie man es garantieren könne, dass überhaupt frei gewirtschaftet werden kann. Sein Verständnis von Planwirtschaft war also genau das Gegenteil von Zwangswirtschaft, die man aus dem sowjetischen Bereich kannte.

Nun haben für Kubel nicht nur die Unternehmer, sondern auch die Arbeitnehmer Freiheitsrechte. Auch ihre Freiheit müsse gesichert werden. Die Ausbeutung am Lohn oder die Drohung mit Arbeitsplatzverlust seien Freiheitseinschränkung. Auch um diesen Missbrauch auszuschließen, müssten Rahmenbedingungen geschaffen werden. In diesem Zusammenhang würde er es sogar lieber sehen, die Arbeitgeber würden freiwillig angemessene Löhne zahlen, als durch Tarifverträge und Streiks dazu gezwungen zu werden. Für Alfred Kubel sind daher damals schon Gedanken der Mitbestimmung und vielfache Formen der Gewinnbeteiligung selbstverständliche Instrumente zur Beförderung von Gerechtigkeit in Freiheit.

Es ist ziemlich aufregend zu lesen, dass MüllerArmack, der theoretische Vater der sozialen Marktwirtschaft, gar nicht so weit weg ist von dem, was Alfred Kubel über die Leistungsfähigkeit des freien Marktes sagte. Müller-Armack schrieb 1945: „Die Marktwirtschaft ist nur ein überaus zweckmäßiges Organisationsmittel, aber auch nicht mehr, und es wäre ein verhängnisvoller Irrtum, der Automatik des Marktes die Aufgabe zuzumuten, eine letztgültige soziale Ordnung zu schaffen und die Notwendigkeiten des staatlichen und kulturellen Lebens von sich aus zu berücksichtigen.“

Beide wären in heutiger Zeit interessante Gesprächspartner, in der die Praktiken eines international operierenden Finanzkapitalismus mit den ethischen Grundvorstellungen von Gerechtigkeit, Fairness und Verantwortung in Konflikt geraten sind.

Sätze wie die des früheren Chefvolkswirtes der Europäischen Zentralbank, Otmar Issing - in der vorigen Woche in der HAZ veröffentlicht -, kann ich mir durchaus von Alfred Kubel formuliert vorstellen. Issing sagt: „Auf jeden Fall darf es nicht nur den Bonus im Fall des Erfolgs geben. Bei Misserfolg müssen die Verantwortlichen die Konsequenzen ebenfalls spüren. Wenn Unternehmen zu groß werden, wenn sie z. B. den Markt beherrschen, dann müssen sie kontrolliert werden. Private Monopolmacht ohne öffentliche Kontrolle kann nicht hingenommen werden.“

Die Tätigkeit als Wirtschaftsminister in der Wiederaufbauphase war wohl Alfred Kubels kreativste Zeit. Untrennbar mit seinem Namen verbunden und wohl die nachhaltigste Entscheidung seines Wirkens war die Gründung und Förderung der Hannover-Messe. Er war auch noch nach seiner Zeit als Ministerpräsident bis 1978 der Aufsichtsratsvorsitzende. Und seine einzige ministerlose Zeit von 1955 bis 1957 verbrachte er großenteils im Dienste der Messe zur Ausstellerakquirierung auf Geschäftsreisen.

Seine durch und durch glaubwürdige und durchdachte marktwirtschaftliche Position und sein unverwüstlicher Pragmatismus verschafften ihm in Wirtschaftskreisen Ansehen und Anerkennung.

Seine späteren Reden wirken etwas weniger pathetisch, aber sein unbedingter Wille, sich rationalen Argumenten zu stellen und auch zu fordern, bleibt immer Leitschnur. Zu seinen ehernen Grundsätzen zählte die Überzeugung, dass man mit öffentlichen Geldern möglichst sparsam umzugehen habe, dass dies aber nicht davon abhalten dürfe, für das Gemeinwohl richtige Investitionen zu tätigen.

Als er 1959 nach der Landtagswahl auf Druck der FDP, die das Wirtschaftsministerium unbedingt haben wollte, Landwirtschaftsminister wurde, traute ihm kaum jemand erfolgreiche Arbeit zu. So ähnlich war es schon, als er Finanzminister wurde. Seinen übernommenen fachkundigen Staatssekretär Deetjen überraschte er mit der Mitteilung, er, Deetjen, habe die Aufgabe, von seinen, Kubels, 100 Ideen die 99 falschen herauszusuchen.

Seine Tätigkeit als Landwirtschaftsminister ist verbunden mit dem Leine-Aller-Plan, der Domänenaufsiedlung und dem sogenannten Stufeninvestitionsplan für die Landwirtschaft. Angesichts der Entwicklung der EWG damals und der notwendigen Rationalisierung in der landwirtschaftlichen Produktion, um wettbewerbsfähig zu bleiben oder zu werden, wollte der Marktwirtschaftler Kubel „die Wanderung des Bodens zum besseren Wirt“ ermöglichen, nicht aber unrentable und nicht entwicklungsfähige Höfe aufrechterhalten. Dies brachte verständlicherweise manche Klage hervor, hat sich aber langfristig als richtig erwiesen. Der Stufeninvestitionsplan war in der EWG übrigens Vorbild.

Typisch für seine Denkweise war auch die Haltung zum Milchpfennig - ein aktuelles Thema. In diesem Streit war er gegen eine direkte Subvention, weil sie an der Produktionsstruktur keine Verbesserun

gen vornahm. Hier gab es damals paradigmatische Auseinandersetzungen mit der CDU und dem Koalitionspartner FDP. So ganz unterschieden war der damalige Konflikt strukturell gar nicht von der Lage der Milchbauern heute. Den nachhaltigsten Eindruck als Ressortchef hat aber Alfred Kubel wohl als Finanzminister hinterlassen, der er von 1951 bis 1955 in einer Koalition mit der FDP und dem BHE und 1965 bis 1970 in der Großen Koalition war.

Wie ein Cantus firmus, also ein beständiger Gesang, zieht sich durch alle Jahre die Finanznot des Landes; dies geht ja bis heute so. Schon im Juli 1951 verkündete Kubel, dass das Land im September seinen finanziellen Verpflichtungen nicht mehr nachkommen könne. Auf ihn gehen deswegen solche Sparinstrumente wie globale Minderausgaben und Haushaltssperren zurück, der Schrecken eines jeden Ministeriums. Er stellte die Haushaltsführung konsequent, was heute selbstverständlich erscheint, auf den Ausgleich von Einnahmen und Ausgaben um. Aber dies alles löste natürlich die prinzipielle Enge der Finanzausstattung des Landes nicht. „In einer Zeit und einem politischen Klima, in dem eine staatliche Konjunktursteuerung noch nahezu undenkbar war, verlangte Kubel dezidiert, nicht zu vergessen, dass es im Hinblick auf konjunkturelle Schwankungen des Arbeitsmarktes ‚die Aufgabe der öffentlichen Hand ist, in Zeiten einer wirtschaftlichen Baisse mit ihrer Auftragskraft einzuspringen’“. (W. Renzsch) Solche Gedanken waren eine direkte Anwendung seiner an Keynes orientierten wirtschaftspolitischen Auffassungen. Solche Debatten kennen wir ja aus den aktuellen Konjunkturprogrammen auch.

Kubel verstand sich nicht als „Hauptbuchhalter Niedersachsens“, sondern verlangte von der Politik vor allem „die Sicherung des gesamtwirtschaftlichen Wachstums sowie die Sicherung der Vollbeschäftigung und der Geldwertstabilität“. Dies war in den 60er-Jahren Allgemeingut geworden und fand im Stabilitätsgesetz der Großen Koalition in Bonn von 1967 seinen Niederschlag. In Niedersachsen hat er sich konfliktreich um die Gründung der NORD/LB bemüht, letztlich erfolgreich.

Auf Alfred Kubel geht die Entscheidung zurück, die Etataufstellung des Landes an eine allgemeine Aufgabenbeschreibung und langfristige Finanzplanung zu binden. Schließlich ist daraus die Mipla geworden, auf die heute niemand mehr verzichten mag. Damit hatte die Politik der blinden Entscheidungen über ziemlich willkürliche, gerade aktuelle Aufgaben und Ausgaben ein Ende. Das war natür

lich gegen manchen Abgeordneten gerichtet. Jetzt wusste man, was passiert, wenn nichts passiert. Wie wichtig dieses Instrument ist, wissen Sie alle.

Die Mipla entspringt aber nicht nur dem technischen Verständnis von Klarheit und Wahrheit, sondern auch dem prinzipiellen Anspruch, für die langfristige Entwicklung des Landes realistische Perspektiven zu entwickeln. Wenn die Forderung des Grundgesetzes ernst genommen werden soll, überall die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse zu wahren oder zu schaffen, dann muss es möglich gemacht werden, dafür auch die finanziellen Mittel zu akquirieren. Bei der finanziellen Vorausschau des Jahres 1966 bis 1971 ergab sich ein Defizit von etwa 7 Milliarden DM, eine damals unvorstellbare Summe. Das Ergebnis war das Wagnis, für das Landtagswahljahr 1967 keine Ausweitungen staatlicher Leistungen und Ausgabenversprechungen mehr vorzusehen - und sie haben es gemacht! Gleichzeitig lief natürlich immer ein Feilschen um Zuweisungen vom Bund.

Kubel hat sich in beiden Phasen seiner Finanzministerzeit für eine grundlegende Finanzreform eingesetzt, die vom Prinzip des Steueraufkommens zum Prinzip des Finanzbedarfs, ausgerichtet an der Bevölkerungszahl, ausgehen sollte. Zu der Konsequenz dieses Denkens hätte natürlich eine Neugliederung des Bundes gehört, die von der Schaffung leistungsstarker Länder ausgegangen wäre. Dies ist bis heute nicht geschehen. Er hatte die Finanzausgleichsverhandlungen zwischen den Ländern als deprimierende Erfahrung in Erinnerung. Als schließlich im Jahre 1969 eine Finanzreform im Bundestag beschlossen wurde, die mindestens einen Teil des Steueraufkommens bedarfsgerechter verteilte, musste Kubel in mehrmaligen Verhandlungen im Bundesrat und im Vermittlungsausschuss selbst für Kompromisse sorgen.

Gelöst sind die Probleme bis heute nicht wirklich, wie wir aus den aktuellen Entscheidungen über die Föderalismusreform wissen. Ob angesichts der enormen finanziellen Sprengkraft, die in den aktuellen Bewältigungsversuchen der Finanz- und Wirtschaftskrise liegt, die sogenannte Schuldenbremse eine tragfähige Lösung ist, wird sich erst am Ende des nächsten Jahrzehnts erweisen. Die handelnden Politiker täten gut daran, bei den dann anstehenden Beratungen Alfred Kubels Wirken „nach zu denken“.

Der durchgängige Zug des kubelschen politischen Denkens, nämlich möglichst viel Rationalität, d. h. Voraussicht, Berechnung, Zielsetzung und finan

zielle Kalkulierbarkeit, in die politischen Entscheidungsprozesse zu bringen, findet seinen besten Ausdruck in der Installierung einer Stabsstelle in der Staatskanzlei, die mit der Formulierung eines Landesentwicklungsprogramms beauftragt wurde. Der erste Entwurf lag 1973 vor und hatte das ehrgeizige Ziel, bis zum Ende des Jahrzehnts die Wirtschaftskraft Niedersachsens so zu stärken, dass das Land nicht mehr zu den finanzschwachen Ländern zählte. Das soll also vor 30 Jahren gewesen sein.

Daraus ist, wie wir alle wissen, nicht vollständig etwas geworden. Vor allem die Ausgaben im Bildungsbereich haben sich in dem Jahrzehnt, in dem Kubel niedersächsischer Finanzminister und Ministerpräsident war, mehr als verdoppelt. Das waren Ausgaben, die, auch im Nachhinein gesehen, über die aktuelle Finanzkraft Niedersachsens hinausgingen und besondere, phantasievolle Finanzierungsmodelle wie die Hochschulbaugesellschaft hervorbrachten. Diese Gesellschaft, über die zunächst außerhalb des Landeshaushalts die Hochschulbauten abgewickelt wurden, hat den Grundstein für die heutige bauliche Gestalt der niedersächsischen Hochschullandschaft gelegt. Es waren damals Zukunftsinvestitionen, die bis heute wirksam sind und Niedersachsens Rang in der Wissenschaft sichern.