Protokoll der Sitzung vom 07.05.2008

Wir kommen zur Ausschussüberweisung.

Der Ältestenrat hat sich darauf geeinigt, schon heute einen mitberatenden Ausschuss festzulegen. Er schlägt Ihnen vor, die Vorlagen zur federführenden Beratung dem Ausschuss für Rechts- und Verfassungsfragen und zur Mitberatung dem Ausschuss für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit zu überweisen. Wer so entscheiden möchte, den bitte ich um das Handzeichen. - Gibt es Gegenstimmen? - Stimmenthaltungen? - Es ist einstimmig so beschlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf:

Erste Beratung: Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung der beruflichen Grundbildung und zur Änderung anderer schulrechtlicher Bestimmungen - Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU und der FDP - Drs. 16/126

Zur Einbringung hat sich der Kollege Klare von der CDU-Fraktion gemeldet. Herr Klare, Sie haben das Wort.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich bringe heute den Gesetzentwurf zur Neuordnung der beruflichen Grundbildung und zur Änderung anderer schulrechtlicher Bestimmungen für die Regierungskoalition ein.

Ziele des Gesetzes sind es, erstens in Ergänzung des gegliederten Schulsystems die Neuerrichtung von Gesamtschulen maßvoll zu ermöglichen, zweitens eine Nachfolgeregelung für das zum 1. August 2009 auslaufende Berufsgrundbildungsjahr - BGJ - zu schaffen und drittens das Einschulungsalter schrittweise zu senken.

Im Oktober 2007 hat Ministerpräsident Christian Wulff erklärt, dass zu Beginn der neuen Wahlperiode das Errichtungsverbot für zusätzliche Gesamtschulen aufgehoben wird. Er reagierte damals auf Wünsche von Eltern, die ihre Kinder gerne auf eine Gesamtschule schicken möchten. Nach diesem Gesetz können jetzt neue Gesamtschulen errichtet werden. Dabei sind drei Bedingungen zu erfüllen: Erstens muss ein nachhaltiger Elternwille vorhanden sein. Zweitens müssen die Kinder die Möglichkeit haben, Schulen des gegliederten Schulsystems in zumutbarer Entfernung zu besuchen. Drittens muss der Schulträger den Antrag auf Gründung einer Gesamtschule stellen. Mit diesem Gesetz wird das vor fünf Jahren eingeführte Errichtungsverbot für Gesamtschulen aufgehoben.

Niedersachsen ist und bleibt das Land des vielfach differenzierten und gegliederten Schulsystems, das auf die Förderung der vielfältigen Begabungen unserer Kinder ausgerichtet ist. Diese Vielfalt spiegelt sich in unseren Hauptschulen, Realschulen, Gymnasien, den zusammen organisierten Haupt- und Realschulen, den Integrierten Gesamtschulen, den Kooperativen Gesamtschulen und den zehn verschiedenen Sonderschulformen wider. Die

Schulen in freier Trägerschaft ergänzen die Vielfalt unserer Schullandschaft. Mit dem neuen Schulgesetz können zu den bestehenden 60 Gesamtschulen weitere Integrierte und Kooperative Gesamtschulen dazukommen. Das ist ganz genau die Umsetzung unseres Wahlversprechens zu Beginn der Wahlperiode, nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Es wird eine Nachfolgeregelung für das BGJ geschaffen. Durch das Berufsbildungsreformgesetz des Bundes ist es erforderlich geworden, eine Nachfolgeregelung für das Berufsgrundbildungsjahr zu treffen. Ab 1. August 2009 ist die Anrechnung des schulischen Berufsgrundbildungsjahres auf eine anschließende Berufsausbildung nur noch freiwillig. Die berufliche Grundbildung soll jetzt in den Berufsfachschulen erfolgen. Um diese Fachschulen in ihrer Qualität zu verbessern, ist mindestens der Hauptschulabschluss erforderlich. Im Gesetzentwurf geht es im Kern erstens darum, Schüler, die den Hauptschulabschluss nicht haben, in neu zu schaffenden Berufseinstiegsklassen auf den Hauptschulabschluss vorzubereiten. Zweitens wird das Berufsvorbereitungsjahr - BVJ -, das bekannt ist, jetzt in diese Berufseinstiegsschule einbezogen. Zum Dritten wollen wir das Einschulungsalter senken. Unsere Kinder kommen im Durchschnitt im Alter von 6,7 Jahren in die Schule. Damit sind sie auch im Vergleich zu Kindern in anderen europäischen Ländern zu alt. Wir wollen die Schulpflicht schrittweise vorziehen. Der erste Schritt wird mit dem Schuljahr 2010 umgesetzt. Danach sollen zwei weitere Schritte folgen, sodass es dann möglich sein wird, jüngere Kinder einzuschulen.

Meine Damen und Herren, mit diesem vergleichbar kleinen Gesetzentwurf werden trotzdem wichtige Zukunftsentscheidungen im Sinne unserer Kinder und Jugendlichen, im Sinne unserer Eltern und auch im Sinne der Ausbildungsbetriebe getroffen. Nach den jetzigen Planungen wird das Gesetz im Juli-Plenum verabschiedet. Die Regelungen für die Errichtung von zusätzlichen Gesamtschulen und die Nachfolgeregelungen für das Berufsgrundbildungsjahr werden zum Schuljahr 2009/2010 umgesetzt. Die frühere Einschulung soll vom 1. August 2010 an möglich sein. Ich wünsche gute Beratungen.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Das Wort hat jetzt Frau Korter von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

(David McAllister [CDU]: Wieder mit persönlichen Verletzungen?)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben bereits heute Vormittag über den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU und der FDP gestritten, der unmissverständlich deutlich macht, dass es den Regierungsfraktionen vor allem um ihren politischen Willen, aber weniger um den Willen der Eltern in Niedersachsen geht.

(Hans-Werner Schwarz [FDP]: Es geht auch um den Willen der Kinder!)

Ihr Gesetzentwurf ist dazu da, Gesamtschulen auf dem Papier zuzulassen, in der Realität jedoch - vor allem auf dem Lande - zu verhindern.

(David McAllister [CDU]: Stimmt nicht!)

Ich fasse das kurz zusammen, weil ich schon heute Vormittag in der Aktuellen Stunde Näheres zu den Gesamtschulen ausgeführt habe.

Gesamtschulen sollen vereinzelt das gegliederte Schulsystem ergänzen, nicht ersetzen, heißt es bei Ihnen. Sie dürfen es außerdem nicht gefährden. Die Mindestzügigkeit wird von vier auf fünf heraufgesetzt, bei den Integrierten Gesamtschulen gleich auf fünf und bei den Kooperativen Gesamtschulen de facto durch die Vorschrift von zwei Gymnasialzügen auch auf fünf. Alle Schulen des gegliederten Schulsystems müssen erreichbar sein, also auch immer eine Hauptschule. Das zu garantieren, ist schon jetzt in einigen Kommunen nicht mehr so leicht zu halten. Das wissen Sie.

Sie wollen die Gesamtschulen zur Ausschöpfung der maximalen Zügigkeit zwingen, damit sie als Mammutschulen unattraktiv werden. Also: Ein Gesetz mit List und Tücke, damit ja keine Kommune auf die Idee kommt, eine Gesamtschule einzurichten.

(Karl-Heinz Klare [CDU]: Falsch!)

Ich kann nur sagen, meine Damen und Herren von CDU und FDP, Ihr Gesetzentwurf ist gegenüber den Eltern, die dringend auf einen Gesamtschulplatz für ihre Kinder warten, eine Unverschämtheit.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der LINKEN)

Während in unseren Nachbarbundesländern Hamburg, Schleswig-Holstein und Bremen auch mit CDU-Beteiligung schon längst neue gemeinsame Schulformen aufgebaut werden, versucht die Regierung Wulff, sich schulpolitisch weiterhin mit unvergleichbarem Starrsinn durchzuwurschteln.

Ihre Schulpolitik ist nicht mehr nur ignorant, sie ist eigentlich skandalös. Sie haben das Abi nach Klasse 12 eingeführt ohne die geringste Ahnung davon, welche Belastungen Sie damit den Schülerinnen und Schülern antun und welche Auswirkungen dies auf die Nachhaltigkeit von Lernen hat. Lustloses Pauken von Test zu Test, statt Freude am forschenden und entdeckenden Lernen - das ist die Quittung.

Außer einem ergebnislosen Runden Tisch haben Sie aber keinen einzigen Lösungsvorschlag für die von Ihnen verursachten Probleme vorgelegt. Diesen Lösungsvorschlag mussten wir Ihnen machen. Dann meckern Sie auch noch darüber.

Über das Chaos bei der Unterrichtsversorgung und die angeblich so plötzlich aufgetauchten Arbeitszeitkonten, von denen Sie ja nie etwas gewusst haben wollen, haben wir heute ja schon gesprochen. Zur Absenkung des Einschulungsalters fällt Ihnen nichts anderes ein als ein Vorziehen des Stichtags für die Schulpflicht für alle,

(Karl-Heinz Klare [CDU]: Wie wollen Sie es denn sonst organisieren?)

als ob alle Kinder zu einem bestimmten Stichtag gleich weit sind. Viel sinnvoller wäre es, flächendeckend das System einer flexiblen Eingangsstufe einzurichten, damit jedes Kind individuell eingeschult, gefördert und angenommen werden kann.

(David McAllister [CDU]: Das eine schließt doch das andere nicht aus!)

Bei Ihren Vorschlägen zur Neuordnung der beruflichen Bildung nach dem Wegfall des anrechnungspflichtigen BGJ im Jahr 2009 zeigt sich erst recht das ganze Ausmaß Ihrer völlig konzeptionslosen Schulpolitik. Erst nehmen Sie den Hauptschülerinnen in den Klassen 8 und 9 Unterricht weg, weil sie an 60 Tagen Praxistage absolvieren müssen, die angeblich zu Klebeeffekten in den Praktikumsbetrieben führen.

(Karl-Heinz Klare [CDU]: Das ist doch nicht ersetzend! Das stimmt doch gar nicht!)

Zweiwöchige Betriebspraktika sind sehr sinnvoll; keine Frage. Ihre vielen Praxistage finden aber zu

einem großen Teil in den Berufsbildenden Schulen statt. Von Klebeeffekt also keine Rede. Natürlich geht das alles auf Kosten des allgemeinbildenden Unterrichts. Dann stellen Sie am Ende der Hauptschulzeit Defizite bei zahlreichen Schulabgängern fest. Was machen Sie nun? - Sie schicken die Schüler ohne und mit schwachem Abschluss in die Berufseinstiegsklasse, damit sie dort Mathe, Deutsch und Englisch nachholen können. - Ein tolles Prinzip! Überzeugend ist das für mich nicht.

Wenn Schülerinnen und Schüler die Hauptschule ohne Abschluss verlassen haben und in einer Berufsvorbereitungsklasse oder in einer Berufseinstiegsklasse nicht klarkommen, können sie einfach abgeschult werden - ohne Widerspruchsrechte der Eltern oder der Schüler. Das ist neu für mich. Wenn man ein Jahr lang eine vollzeitschulische Schulform absolviert hat und keinen Hauptschulabschluss erreicht hat, dann erklären Sie die Schulpflicht einfach für beendet, und der betreffende Schüler wird ausgeschult und zur Agentur für Arbeit geschickt und soll in Zukunft Hartz IV oder Arbeitslosengeld II beziehen. So einfach kann man es sich mit dem Bildungsauftrag auch machen!

Wir werden bei den Gesetzesberatungen den Finger genau in die Wunde legen und Ihnen in gewohnter Qualität und Ausführlichkeit unsere Positionen, Gegenargumente und Vorschläge vorlegen und genau beraten. Darauf können Sie sich verlassen.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Ich erteile nun Frau Reichwaldt von der Fraktion DIE LINKE das Wort.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der vorliegende Entwurf der Regierungskoalition unter dem Titel „Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung der beruflichen Grundbildung und zur Änderung anderer schulrechtlicher Bestimmungen“ hat als Schwerpunkt, neue Gesamtschulen in Niedersachsen zu verhindern. Das sind dann die Änderungen der „anderen schulrechtlichen Bestimmungen“.

Was beinhaltet dieser Entwurf dazu? - Die Hürden für die Gründung neuer Gesamtschulen werden so hoch gesetzt, dass ihre Gründung vielerorts un

möglich wird. Je Jahrgang muss Aussicht auf mindestens 135 Schüler sein. Fünf Züge statt vier werden als Bedingung für eine neue Gesamtschule gesetzt, obwohl bekannt ist, dass kleinere Einheiten pädagogisch sinnvoller wären. Die Gründung ist nur möglich, wenn alle Schulformen des gegliederten Systems in zumutbarer Entfernung erreichbar sind. Diese Forderung ist absurd, wenn z. B. eine Hauptschule aufgrund der Entwicklung der Anmeldezahlen kaum noch haltbar ist. Ich zitiere dazu gerne aus der Hannoverschen Neuen Presse von heute Herrn Staatssekretär Uhlig aus dem Kultusministerium. Er sagte:

„In Hannover wird es relativ schnell keine Hauptschule mehr geben, weil es keinen Bedarf dafür gibt.“

Das alles verhindert die Gründung von Gesamtschulen, anstatt sie zu ermöglichen. Rechtlich sind die Hürden, die Sie der Gründung neuer Gesamtschulen in den Weg stellen, unserer Meinung nach auf Dauer nicht haltbar. 4 000 Gesamtschulplätze fehlen nach Schätzung der Gesamtschulinitiativen in Niedersachsen. Sie sprechen von einem Rechtsanspruch auf das gegliederte Schulsystem und zwingen mit Ihrer Politik diejenigen, die eine Gesamtschule besuchen wollen, in die Hauptschule, in die Realschule und in das Gymnasium. Wo bleibt dort der Elternwille?

Rechtlich sind Integrierte Gesamtschulen als ersetzende Schulformen möglich und vorhanden. Es gibt das Urteil des Niedersächsischen Staatsgerichtshofs vom 8. Mai 1996, wonach es mit der Niedersächsischen Verfassung vereinbar ist, dass neben der Integrierten Gesamtschule der Bestand des gegliederten Schulsystems nicht garantiert ist. Die Niedersächsische Verfassung enthält keine Bestimmungen, aus denen sich eine Garantie bestimmter Schulformen herleiten ließe.

Es gibt in Niedersachsen von Anfang an Integrierte Gesamtschulen, die an den jeweiligen Standorten ersetzende, nicht aber ergänzende Schulform sind. Die Frage nach der Rechtmäßigkeit der von Ihnen in diesem Entwurf vorgegebenen Einschränkungen stellt sich hier genauso wie bei dem bisherigen Gründungsverbot insgesamt. Sie verwehren mit Ihrem Gesetzentwurf den Schülerinnen und Schülern in Niedersachsen das Recht auf einen Gesamtschulplatz. Ändern Sie Ihren Gesetzentwurf dementsprechend! Heben Sie das Gründungsverbot für Gesamtschulen bedingungslos auf!

(Beifall bei der LINKEN)

Ihr Gesetzentwurf enthält auch Nachfolgeregelungen für das Berufsgrundbildungsjahr und die Senkung des Regeleinschulungsalters. Ich finde es schon interessant, unter welchem Titel hier die Neuregelung für Gesamtschulen versteckt wurde. Wir halten eine solche Zusammenführung verschiedener wichtiger Themen in einer Gesetzesänderung nicht für angemessen. Die Neuregelung des Berufsgrundbildungsjahres ist aufgrund bundesrechtlicher Vorgaben notwendig. Ab 1. August 2008 wird es keine neuen Klassen geben. Ab 1. August 2009 kann das Berufsgrundbildungsjahr nur noch freiwillig auf die Ausbildung angerechnet werden.