Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch von unserer Seite danke ich recht herzlich für die Mühe bei der Beantwortung unseres umfangreichen Fragenkatalogs. Leider ist es uns aufgrund des Umfangs nicht möglich, in diesem eingeschränkten zeitlichen Rahmen der heutigen Debatte alle relevanten Themen aufzugreifen. Leider muss ich auch mit etwas Negativem anfangen, und zwar mit dem größten Ärgernis, was die Beantwortung unserer Fragen angeht.
Wir haben unter unserem letzten Punkt, dem Punkt 9 - Perspektiven -, sehr konkrete Einzelfragen zum Abbau von Barrieren und zur Umsetzung der UN-Konvention gestellt. Auf die Einzelfragen gehen Sie jedoch nicht ein. Das zieht sich durch fast alle Ihre Antworten auf unsere Fragen. Sie verweisen bei dem genannten Punkt lediglich auf Absprachen zwischen Bund und Ländern, auf die Arbeits- und Sozialministerkonferenz aus dem Jahre 2007 und erklären für unser Bundesland lapidar - ich zitiere aus der Antwort -:
„Die in Niedersachsen vorhandenen Angebote für Menschen mit Behinderungen erfüllen die Grundsätze und Forderungen der UN-Konvention. Vertragsverletzungen liegen nicht vor.“
Mich würde es wundern, wenn Sie nur eine einzige Gruppe oder einen einzigen Verband in Niedersachsen, der sich mit Menschen mit Behinderungen auseinandersetzt, fänden, die oder der diesen Satz, den Sie als Antwort geschrieben haben, unterzeichnen würde. Das ist aus unserer Sicht ent
„Die Angebote und Unterstützungsmaßnahmen zugunsten von Menschen mit Behinderungen lassen sich im Hinblick auf die UN-Konvention noch verbessern.“
Das räumen Sie immerhin ein. Allerdings hätten wir in diesem Abschnitt gerne genauer erfahren, was Sie darunter überhaupt verstehen und welche konkreten Maßnahmen Sie hier vorsehen.
Der zentrale Punkt für die unterschiedliche Bewertung der aktuellen Lebensumstände von Menschen mit Behinderungen im Abgleich zur UNKonvention ist in Folgendem verankert: „Integration anstelle von Inklusion“. - Ist das eigentlich nur ein Übersetzungsfehler oder eine Fehlinterpretation? Es handelt sich hierbei nicht um eine semantische Spitzfindigkeit, sondern um zwei grundverschiedene Bedeutungen. a) Wenn beispielsweise Sonderkindertagesstätten für Kinder mit Behinderungen eingerichtet werden, so lässt sich von pädagogischer Integration im Vorschulalter sprechen; keine Frage. b) Eine Inklusion ist allerdings erst dann erreicht, wenn jedes Kind - mit welcher Behinderung auch immer - die Kita vor Ort besuchen kann, in die es auch ohne eine Behinderung gekommen wäre.
Das ist ein fundamentaler Unterschied, der sich durch alle Bereiche des Alltags zieht. Die Landesregierung jedoch blendet diesen Unterschied aus. Wir Linke stehen hierbei im Unterschied zu CDU und FDP aber klar und fest an der Seite der Menschen mit Behinderungen.
Kernpunkt der Konvention ist das Recht auf ein eigenständiges Leben in Artikel 19. Das Recht beinhaltet insbesondere die Wahl des Aufenthaltsortes und der Wohnform. Erwähnt ist explizit, dass die Menschen - ich zitiere - „nicht verpflichtet sind, in einer besonderen Wohnform zu leben“. Das finden Sie unter Artikel 19 a.
In der Antwort der Landesregierung wird dieser Anspruch der UN-Konvention von einem unscharfen Konjunktiv begleitet. Ich zitiere:
Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft nach § 55 SGB IX, beispielsweise … für eine ‚Wohnassistenz’ gewährt werden.“
Zu unseren konkreten Fragen, wie viele Menschen in Niedersachsen mit einer 24-Stunden-Assistenz in ihren eigenen vier Wänden leben und wie die Entwicklung stationärer und ambulanter Wohnformen in Niedersachsen aussieht, verweist die Landesregierung auf die fehlende Zuständigkeit des Landes und begründet dies damit, dass hierzu keine Zahlen vorliegen. Eine Abfrage bei den Kommunen bzw. den Trägern scheint bei der Landesregierung nicht infrage gekommen zu sein.
Gefragt nach der Bewertung der Entwicklung der Wohnformen in Niedersachsen, gibt die Landesregierung an, dass sie von der Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe eine spürbare Zunahme bei ambulanten Wohnformen erwarte. Wie diese spürbare Zunahme ohne Abfrage allerdings festgestellt werden soll, bleibt uns ein Rätsel.
Ähnlich ist es auch bei der Beantwortung der Anfrage von Bündnis 90/Die Grünen. Alles bleibt an der Oberfläche.
Ich komme nun zu einem anderen zentralen Thema: Arbeit und Beschäftigung nach Artikel 27 der UN-Konvention. Menschen mit Behinderungen haben das gleiche Recht auf Arbeit. Unstrittig ist, dass Menschen mit Behinderungen in der Arbeitswelt in aller Regel ausgegrenzt werden. Was in der Antwort der Landesregierung deutlich wird, ist ihre schwerpunktmäßige Ausrichtung auf die Förderung von Werkstätten für Menschen mit Behinderungen. Ich verweise auf die Fragen zu Abschnitt IV. Wir wollen nicht gegen die Werkstätten arbeiten. Sie sind auch für uns bedeutend und haben eine wichtige Funktion, gerade für diejenigen, deren Behinderungsgrad eine „reguläre Arbeit“ nicht zulässt.
- Danke, Frau Vockert. - Zugleich ist es ein Problem, dass ein Teil der Menschen dorthin abgeschoben wird. Hier kommt wieder die wichtige Unterscheidung von Integration und Inklusion zum Tragen. Im Jahre 2004 wurde gar die Mindestbeschäftigungsquote von Menschen mit Behinderungen in Niedersachsen von 6 % auf 5 % abgesenkt, was fast zu einer Halbierung des Ausgleichsfonds geführt hat.
Mit großem Befremden haben wir den massiven Abbau beim Sonderprogramm zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit von Menschen mit Behinderungen zur Kenntnis genommen.
Artikel 24 der UN-Konvention beschreibt den Begriff der Bildung. Das Recht von Menschen mit Behinderungen auf Bildung ist ohne Diskriminierung und auf der Grundlage von Chancengleichheit vorgesehen.
Die Vertragsstaaten, zu denen auch wir gehören, haben sich zur Gewährleistung eines - ich benutze an dieser Stelle die richtige Übersetzung - inklusiven Bildungssystems auf allen Ebenen verpflichtet. Wir hatten danach gefragt, wie viele Kinder mit Behinderungen in Niedersachsen integrative Kindertageseinrichtungen und wie viele Regelschulen besuchen. Die Landesregierung blieb uns ohne weitere Erläuterung die Antwort auf den zweiten Teil schuldig. Wir werden an dieser Stelle eine entsprechende Kleine Anfrage in der Hoffnung nachschieben, dann eine verwertbare Antwort zu bekommen.
Damit wird auch deutlich, dass es eine Evaluierungsfeindlichkeit der Landesregierung gibt. Das haben wir an anderen Stellen, auch hier im Plenum, schon sehr häufig zur Kenntnis nehmen müssen. Ich verweise hierzu nur auf den Armuts- und Reichtumsbericht der Landesregierung.
Für den gewünschten Erkenntnisgewinn aus beiden Großen Anfragen wäre in vielen Fällen, in denen die Landesregierung auf fehlende Daten verwiesen hat, eine Abfrage bei den Kommunen möglich und hilfreich gewesen. Der viel genutzte Verweis auf die Zuständigkeiten des Bundes oder der Kommunen scheint doch eher ein Mittel zu sein, sich aus der politischen Verantwortung zu stehlen.
Vor dem Hintergrund der eingeräumten Nichtkenntnisse der Landesregierung erscheint das eine oder andere Resümee, das besagt, dass keine spezifischen Probleme in Sachen UNKonvention in Niedersachsen vorlägen, doch recht gewagt.
So braucht das große Ziel einer umfassenden Barrierefreiheit eine dezidierte Bestandsaufnahme, in die die spezifischen Gruppen von Menschen mit
Behinderungen einbezogen werden müssen. Dies ist keine unmögliche Aufgabe, wie uns das Berliner Beispiel aus dem öffentlich geförderten Beschäftigungssektor zeigt. Die einzelnen Barrieren können die gravierendsten Einschränkungen bedeuten, wie auch der Bahnhof im niedersächsischen Hude exemplarisch und deutlich zeigt.
Zum Schluss möchte ich für uns Linke feststellen: Die Antworten der Landesregierung sind im Abgleich mit den Ansprüchen der UN-Konvention schlicht ernüchternd. Niemand hat erwartet, dass die Defizite für Menschen mit Behinderungen sofort abgestellt werden und ihr zutiefst menschlicher Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben zur allumfassenden Zufriedenheit erfüllt sein wird. Wie sollte das auch per Knopfdruck erreicht werden?
Zu erwarten war und ist aber sehr wohl der sichtbare Wille, die Verwirklichung der in der Konvention verbrieften Rechte tatsächlich in Angriff zu nehmen. Die einzelnen Artikel der Konvention, wie ich das bereits in viele Zitaten aufgezeigt habe, sind eindeutig und rechtsverbindlich. Diese Rechtsverbindlichkeit müssen wir in unsere Köpfe kriegen, um uns dem Ziel der Umsetzung der UNKonvention überhaupt nähern zu können. Dass das nicht von heute auf morgen geht, ist keine Frage. Es geht darum, die entscheidenden Schritte zu tun, die die Menschen mit Behinderungen in jeder Hinsicht in der Gesellschaft ankommen lassen, also die Schritte hin zu einer inklusiven Gesellschaft.
Als Linke haben wir diesbezügliche Änderungsanträge zum Landeshaushalt 2010 eingebracht, die von Ihrer Seite leider nicht angenommen worden sind. Seien Sie sich aber sicher: Wir Linke werden nicht zu diesem Thema schweigen, bis die Rechtsansprüche aus der UN-Konvention auch in Niedersachsen umgesetzt sind.
Wenn das mit dieser Landesregierung nicht geht, dann eben mit der 2013 folgenden. Aber bis zu diesem Politikwechsel werden wir Sie auf Trab halten. Das verspreche ich Ihnen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Für die Niedersächsische Landesregierung ist die Politik für Menschen mit Behinderung ein zentrales Anliegen ihrer Sozialpolitik.
Mir ist wichtig, dass jeder Mensch in seiner besonderen Lebenssituation mit seinen Leistungen, seinen Fähigkeiten und Fertigkeiten in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens anerkannt ist und die Hilfen und die Unterstützung in dem Umfang erhält, die er benötigt.
In vielen Bereichen haben wir bereits große Fortschritte erzielt, aber es wird in der Zukunft ganz entscheidend sein, das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen umzusetzen, aber auch die Eingliederungshilfe weiterzuentwickeln.
Mir sind dabei ganz besonders wichtig die Stärkung von Selbstbestimmung, Eigenverantwortung und Selbsthilfepotenzialen, die Annäherung der Lebensbedingungen von Menschen mit Behinderungen an die allgemeinen Lebensbedingungen, insbesondere das Wohnen in der eigenen Wohnung, das Arbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, der Vorrang ambulanter vor stationärer Leistung, aber auch eine Leistungsgewährung, die sich am individuellen Teilhabebedarf des Menschen mit Behinderung orientiert und nicht mehr auf Leistungsform, Leistungsort und Leistungsanbieter abstellt, also mehr personenbezogen und weniger einrichtungsbezogen ist.
Der betroffene Mensch soll möglichst selbst entscheiden, an welchem Ort die Hilfe stattfindet, wer die Hilfe übernimmt, ob er lieber alle Hilfen, die er braucht, von einer einzigen Einrichtung erhält oder ob er eher Angebote von verschiedenen Seiten annehmen möchte. Wir brauchen deshalb auch bei den Einrichtungs- und Sozialleistungsträgern ein Umdenken.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, der weitaus größte Teil der schwerbehinderten Menschen in Niedersachsen wohnt - genauso wie jeder nicht behinderte Mensch auch - im angemieteten oder im Eigentum befindlichen Wohnraum allein, zu zweit, mit der Familie oder in einer Wohngemeinschaft. Etwas anders verhält es sich bei den Menschen mit Behinderung, deren Einschränkungen so ausgeprägt sind, dass sie Anspruch auf Leistungen der Eingliederungshilfe zum Wohnen haben. Mehr und mehr gehen die örtlichen Sozialhilfeträger aber im Rahmen ihrer Hilfeplanung dazu über, die individuellen Bedarfe sehr genau zu ermitteln, um Alternativen zu einer stationären Unterbringung aufzuzeigen.
Zunehmend können behinderte Frauen und Männer im eigenständig angemieteten Wohnraum die für den Lebensalltag erforderliche Unterstützung durch eine ambulant organisierte Betreuung erhalten.