Protokoll der Sitzung vom 21.01.2010

Es gibt eine große Zahl von wissenschaftlichen Untersuchungen über die Ursachen des deutschen Faschismus. Sicher, auch der große Sozialphilosoph Max Horkheimer hat gesagt: „Wer vom Kapitalismus nicht reden will, der sollte vom Faschismus schweigen.“ Trotzdem: Den Expansionsdrang führender Kräfte des deutschen Kapitals als Hauptursache des Faschismus zu benennen, wie es im Antrag der Linken zu lesen ist, wäre vielleicht in einem Schulungskurs der damaligen DKP in den 70er-Jahren des vorigen Jahrhunderts aktuell und denkbar gewesen. Aber eine so schlichte und monokausale Erklärung können und dürfen wir unseren Schulen heute nicht vorschreiben, und wir als Grüne wollen das bestimmt nicht.

(Lebhafter Beifall bei den GRÜNEN, bei der CDU und bei der FDP)

Meine Damen und Herren, an einer Stelle sollten wir die curricularen Vorgaben für den Geschichtsunterricht an den Gymnasien allerdings doch ändern. Dort ist im Zusammenhang mit dem 8. Mai noch immer von der bedingungslosen Kapitulation die Rede. Diese Lesart ist spätestens seit der Weizsäcker-Rede von 1985 nicht mehr Konsens. Konsens ist heute, im Zusammenhang mit dem 8. Mai die Beendigung der Nazidiktatur in den Mittelpunkt zu rücken, und das muss natürlich auch im Kerncurriculum endlich sichtbar werden. Da ist echter Handlungsbedarf. Aber da hat die Linke wohl nicht so genau hingeguckt.

Meine Damen und Herren, wir sollten uns in unseren Entscheidungen hier im Niedersächsischen Landtag immer auch des historischen Hintergrundes bewusst sein und über die richtigen Lehren aus der Geschichte durchaus streiten. Aber eines sollten wir als Demokraten hier im Landtag bestimmt nicht tun: Wir sollten die Nazidiktatur und die schrecklichen Gräueltaten, die dort begangen wurden, nicht für einen billigen politischen Schlagabtausch instrumentalisieren. Wir Grüne werden das nicht tun.

(Patrick-Marc Humke-Focks [LINKE]: Das ist eine Beleidigung! Unglaublich ist das! - Weitere Zurufe von der LIN- KEN)

- Moment! - Das ist unwürdig und nutzt nur dem braunen Sumpf, den wir doch eigentlich alle trockenlegen wollen.

Danke schön.

(Starker Beifall bei den GRÜNEN, bei der CDU und bei der FDP)

Nächste Rednerin ist Frau Seeler von der SPDFraktion. Frau Seeler, bitte schön!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte mich ausdrücklich für die Rede von Herrn Sohn bedanken. Die Zahl der Menschen, die den 8. Mai 1945, den Tag unserer Befreiung vom nationalsozialistischen Terrorregime, bewusst miterlebt haben, wird unaufhaltsam kleiner. Bald wird es keine Zeitzeugen dieses bedeutenden Tages und der vorangegangen Zeit des Kriegs- und Vernichtungshorrors mehr geben und damit niemanden, der aus eigener Erfahrung von dieser Zeit erzählen kann. Aber der Tod der Betroffenen darf nicht zum Verschwinden der Erinnerung selbst führen.

Vor mittlerweile fast 25 Jahren hat der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker in seiner berühmten Rede den 8. Mai 1945 zum Tag der Befreiung deklariert und appelliert, der Wahrheit ins Auge zu schauen. Die Wahrheit ist die deutsche Geschichte zur Zeit der Hitlerdiktatur - einer Zeit, die so unvergleichlich geprägt war von einem unfassbar unmenschlichen Ausmaß an Gewalt und Hass. Der von der Linken eingebrachte Antrag, der die angemessene Würdigung des 8. Mai als Tag der Befreiung in Niedersachsen fordert, beruft sich u. a. auf diese Rede von Weizsäcker, die damals ein Umdenken in Gang setzte, das wichtig, richtig und notwendig war, ein deutsches Schuldbewusstsein zu formen und zu fördern, das das Erinnern zum Kern hat - so lautete der Tenor der Rede -; denn nur wer sich erinnert und wem das Unheil bewusst wird, kann auf Versöhnung hoffen. Das üble Wort von der Vergangenheitsbewältigung hat seither keine Konjunktur mehr im öffentlichpolitischen Diskurs. Das ist Weizsäcker zu verdanken.

Die Notwendigkeit einer Würdigung des 8. Mai 1945 im Weizsäckerschen Sinne ist nach Auffassung meiner Fraktion wichtig und findet vielerorts auch statt. In Niedersachsen finden allerdings aufgrund der besonderen geschichtlichen Situation schon vor dem 8. Mai jährlich zwei zentrale Gedenkveranstaltungen statt, nämlich eine Gedenkveranstaltung in Bergen-Belsen am Internationalen Holocausttag, dem 27. Januar, und eine zweite Gedenkfeier findet am 15. April, dem Tag der Befreiung des Konzentrationslagers Bergen-Belsen, statt. Dazu sind nicht nur ehemalige Gefangene des KZ und ihre Angehörigen, die Bürgerinnen und Bürger eingeladen, sondern auch Schulklassen

beteiligen sich an der Veranstaltung und gestalten sie mit. Ob eine dritte Veranstaltung nur drei Wochen später dann noch die nötige Aufmerksamkeit erlangt, ist zweifelhaft. Eine Überlegung wäre allerdings, ob wir hier im Landtag am 8. Mai eine angemessene Form des Gedenkens finden.

Zustimmung meiner Fraktion findet Nr. 3 Ihres Antrages, in dem Sie fordern, dass die Bedeutung dieses Tages in den Schulen besser vermittelt wird. Nicht selten begegnen mir und meinen Parteikolleginnen und -kollegen junge Menschen, die mit dem 8. Mai 1945 wenig bis nichts anfangen können. Das ist erschreckend und muss verändert werden. In allen Klassenstufen der Sekundarstufe mit Projekten, Wettbewerben, Ausstellungen und Ähnlichem dem 8. Mai als Erinnerungs- und Gedenktag mehr Raum zu geben, finde ich deshalb richtig, vorausgesetzt, der Zusammenhang zwischen diesem Datum, dem Ende der Weimarer Republik, der Machtergreifung Hitlers, des Nationalsozialismus und des Krieges wird dabei durchleuchtet und plausibel gemacht.

Auf offene Ohren stößt dieser Antragspunkt bei mir auch da, wo es um die Wiedereinsetzung der Landeszentrale für politische Bildung geht. Der Beschluss der CDU/FDP-geführten Landesregierung, die Landeszentrale aus fadenscheinigen Gründen abzuschaffen, ist und bleibt fatal.

(Beifall bei der SPD, bei den GRÜ- NEN und bei der LINKEN)

Kein anderes Bundesland hat übrigens einen ähnlichen Fehler begangen.

Die Nr. 4 des Antrags der Linken enthält einen Passus, der mir aufgrund seiner ideologischen Einfärbung Kopfschmerzen bereitet. Wer will, dass als Hauptursache für die begangenen Massenverbrechen an der Menschheit der Expansionsdrang führender Kräfte des deutschen Kapitals genannt und vermittelt wird, handelt aus meiner Sicht historisch fahrlässig. Hier wird die Vielschichtigkeit deutscher Schuld am Möglichwerden des Holocaust zugunsten einer rein ideologischen Sichtweise ignoriert. Richtig ist, dass die Verstrickungen von Unternehmen und Unternehmern mit dem NS-System aufgezeigt werden müssen und deren Schuld benannt werden muss. Sie allerdings als Hauptursache für die Massenverbrechen zu benennen, ist nicht korrekt. Richtig und wichtig ist, weiterhin den Jugendlichen zu vermitteln, dass das Widerstandsrecht aus gutem Grunde in unserer Verfassung verankert ist, weil es immer wieder Situationen geben kann, in denen die Demokratie

nur durch massiven Widerstand gerettet werden kann.

Wir stimmen also in vielem, aber nicht in allem mit dem Antrag der Linken überein. Ich meine, es wäre gut, wenn wir entweder im Ausschuss oder, wenn das nicht gelingt, als Fraktion einen Änderungsantrag dazu stellen würden.

Ich danke Ihnen.

(Starker Beifall bei der SPD und bei der LINKEN - Dr. Manfred Sohn [LIN- KE]: Sehr gut!)

Nächster Redner ist Herr Försterling für die FDPFraktion. Bitte sehr!

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zweifellos ist der 8. Mai 1945 ein ganz zentraler Tag in der niedersächsischen und in der deutschen und europäischen Geschichte. Ich weiß jedoch nicht, ob es sinnvoll ist, dass wir uns als Niedersächsischer Landtag mit einem solchen Entschließungsantrag anmaßen sollten, eine Wertigkeit in Gedenktage und in zentrale Daten hineinzubringen, wie es gleich der erste Satz dieses Entschließungsantrages deutlich will. Ich meine, alle Tage, die hier in der Debatte schon genannt worden sind, sind von zentraler Bedeutung - in der Vergangenheit, aber auch in der Gegenwart. Ziel sollte es in der Tat sein, solche Anlässe und solche Daten zu nutzen, zu gedenken, zu erinnern und auch zu mahnen - für Generationen, die diese Tage nicht miterlebt haben, damit daraus die entsprechenden Schlüsse gezogen werden können.

Unser Hauptanliegen muss es doch sein, dass wir den jungen Generationen in der Schule deutlich machen, dass jeder Tag, den wir in Freiheit leben können, ein ganz besonderer Tag für uns sein sollte: dass wir morgens aufstehen können, dass wir zwischen unterschiedlichen Radiosendern auswählen können, dass die Schüler in die Schule gehen können, dass die Menschen zur Arbeit gehen können, dass sie ihr Leben in Freiheit gestalten können. Ich meine, das ist eine zentrale Bedeutung, die wir in einem demokratischen Staat unseren jungen Generationen immer wieder deutlich machen müssen. Dabei muss jede Vergangenheit eine Rolle spielen, in der Menschen leben mussten, denen es nicht so ergangen ist. Unseren Kindern und Jugendlichen muss immer wieder verdeutlicht werden, dass es zahlreiche Momente

in der deutschen Geschichte gegeben hat, in denen das Leben anders als heute war. Deswegen ist es für mich eine zentrale Aufgabe, nicht mit solchen Retourkutschen mithilfe von Entschließungsanträgen, wie es Frau Korter gesagt hat,

(Zuruf von der LINKEN: Was ja falsch ist!)

zu versuchen, eine entsprechende Geschichtsbeeinflussung oder Geschichtsinterpretation vorzunehmen.

Wir sollten uns immer wieder bewusst machen, was Richard von Weizsäcker seinerzeit gesagt hat. Das sollten eigentlich die zentralen und mahnenden Worte für alle Dinge sein, die in der Vergangenheit geschehen sind:

„Es geht nicht darum, Vergangenheit zu bewältigen. Das kann man gar nicht. Sie lässt sich ja nicht nachträglich ändern oder ungeschehen machen. Wer aber vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart. Wer sich der Unmenschlichkeit nicht erinnern will, der wird wieder anfällig für neue Ansteckungsgefahren.“

Das muss unser Ziel als Demokraten sein, unseren Schülern, unseren kommenden Generationen zu vermitteln, dass sie sich vor solchen Ansteckungsgefahren in Acht nehmen und die Demokratie weiter hochhalten.

(Lebhafter Beifall bei der FDP und bei der CDU)

Für die CDU-Fraktion spricht Frau Hartmann. Frau Hartmann, Sie haben das Wort.

(Zuruf von der LINKEN: Die Jungfern- rede!)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der 8. Mai 1945 ist bis heute tief verbunden mit der deutschen Geschichte. Fest verankert in unserem Bewusstsein hat sich die Erkenntnis, nie wieder zuzulassen, was damals geschehen ist. Der 8. Mai 1945 steht für die Beendigung unermesslichen Leids, für das Ende des Zweiten Weltkriegs, der von deutschem Boden ausging, und für die Beendigung von Massenmord und die Beendigung des NS-Willkürregimes. Wenn der 8. Mai 1945 der Tag

der Befreiung unter den eben genannten Gesichtspunkten war, so wirft das die Frage auf, ob sich diesem Sieg Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte für alle Menschen in Deutschland und darüber hinaus in Europa anschlossen.

Richard von Weizsäcker sagte am 8. Mai 1985 auch:

„Der 8. Mai ist für uns Deutsche kein Tag zum Feiern. … Der eine kehrte heim, der andere wurde heimatlos. Dieser wurde befreit, für jenen begann die Gefangenschaft. … Wir haben wahrlich keinen Grund, uns am heutigen Tag an Siegesfesten zu beteiligen … Der 8. Mai ist ein Tag der Erinnerung.“

Die Menschen in Westdeutschland erhielten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Chance auf Freiheit und Demokratie. In Ostdeutschland folgte auf die Beendigung des Naziregimes eben nicht die ersehnte Freiheit. In der sowjetischen Besatzungszone folgte eine Welle neuer Menschenrechtsverletzungen, Massenvergewaltigungen, Verschleppungen in sibirische Arbeitslager, Vertreibung und die Durchsetzung der Diktatur Stalins.

Wir vergessen dabei nicht, dass die durch die Alliierten befreiten Konzentrationslager Buchenwald und Sachsenhausen von den Sowjets sogleich wieder für Speziallager genutzt wurden. Statt der ersehnten Freiheit erlebten die Menschen in der sowjetischen Besatzungszone die Entstehung eines neuen, anderen Unrechtstaates.

Deswegen geht Ihr Antrag fehl, wenn Sie meinen, diese beiden historischen Daten gegeneinander aufwiegen zu können. In Ihrer Begründung klingt das an.

(Dr. Manfred Sohn [LINKE]: Wo denn?)

Beides ist fest, wenn auch in notwendiger Unterscheidung ein Teil unserer deutschen Geschichte. In der Geschichte gibt es nicht das Entweder-oder, es gibt immer nur das Sowohl-als-auch, die Schattenseiten und die Sonnenseiten. Geschichte kann man immer nur als Ganzes annehmen.

Lehren aus der Vergangenheit kann man nur ziehen, wenn man die Erinnerung wach hält und eine Erinnerungskultur lebt, die auf Wahrhaftigkeit beruht, weil die tragende Säule der Demokratie die Wahrheit ist. Die Aufarbeitung der eigenen Geschichte ist immer ein Entwicklungsprozess, das ständige Auseinandersetzen mit dem, was ge

schehen ist, und der Frage der Verantwortung, die über all dem steht. Die Aufarbeitung der Nazizeit ist nicht von heute auf morgen geschehen. Es hat Jahrzehnte gebraucht, die Aufklärung des Unrechts von damals zu bewältigen.

Anders, als es in Ihrem Antrag anklingt, hat es diese Auseinandersetzung mit den Tätern gegeben. Sie setzt sich, wie wir aktuell im NS-Kriegsverbrecherprozess in München sehen, bis heute fort, und das ist gut so.

Die NS-Zeit ist fester Bestandteil des Unterrichts. Wir erleben Schulklassen, die sich engagiert zu diesem Thema einbringen und Gedenktage mitgestalten.

Sie zitieren in Ihrem Antrag die historische Rede des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker aus dem Jahr 1985. Sie ist deshalb historisch, weil er damals erstmals und unmissverständlich den 8. Mai 1945 als Tag der Befreiung definierte. Deshalb steht diese Rede auch für den Entwicklungsprozess der geschichtlichen Bewertung des Zweiten Weltkrieges und seines Endes, weil 40 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ein deutscher Bundespräsident sagte, was heute unter Demokraten selbstverständlich ist.

Gerade weil Sie Richard von Weizsäcker zitieren, liefern Sie natürlich damit auch die Bestätigung für die Notwendigkeit der geschichtlichen Aufarbeitung der DDR, auf die Sie verweisen.

(Dr. Manfred Sohn [LINKE]: Wo denn?)

- Sie müssen einmal Ihren eigenen Antrag lesen. In der Begründung gehen Sie darauf ein.