Protokoll der Sitzung vom 16.02.2010

Nun rufe ich die Tagesordnungspunkte 13 und 14 zusammen auf:

Einzige (abschließende) Beratung: Kinder und Jugendliche nicht aufgeben! Eckpunkte eines Niedersächsischen Landeskonzepts zur Kinder- und Jugendpsychiatrie - Antrag der Fraktion der SPD - Drs. 16/188 - Beschlussempfehlung des Ausschusses für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit - Drs. 16/2194

Erste Beratung: Kinder und Eltern nicht mit Problemen alleinlassen - Konzept für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Jugendpsychotherapie weiterentwickeln Antrag der Fraktionen der CDU und der FDP - Drs. 16/2181

Die Beschlussempfehlung zu Tagesordnungspunkt 13 in der Drs. 16/2194 lautet auf Ablehnung. Eine Berichterstattung zu Tagesordnungspunkt 13 ist nicht vorgesehen.

Wir kommen zur Einbringung des Antrages unter Tagesordnungspunkt 14, also zu dem Antrag in der Drs. 16/2181.

Ich eröffne die Beratung. Für die CDU-Fraktion hat sich Frau Kollegin Prüssner zu Wort gemeldet.

(Unruhe)

- Es ist noch ein bisschen laut. Vielleicht können wir noch einen Augenblick warten. - Gehen Sie etwas langsamer, Frau Kollegin. - Herzlichen Dank.

Danke schön, Frau Präsidentin. - Meine Damen und Herren! Das Robert-Koch-Institut hat in den Jahren 2003 bis 2006 im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums eine große Erhebung zur gesundheitlichen Situation von Kindern und Jugendlichen durchgeführt. Ziel war es, eine verlässliche Datenbasis für gesundheitspolitische Planungen und Entscheidungen zu schaffen. Eine erste wichtige Erkenntnis dieser sogenannten KiGGSStudie war, dass es den Kindern und Jugendlichen in Deutschland im Großen und Ganzen ganz gut geht. Aber auffällig war, dass besonders psychische Störungen immer mehr in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rücken. Rund 22 % der untersuchten Kinder und Jugendlichen haben psychische Auffälligkeiten, die zumindest in einem Drittel der Fälle behandlungsbedürftig sind. Am häufigsten fanden sich Angststörungen, Störungen des Sozialverhaltens, depressive Störungen bis hin zum

(Unruhe)

Aufmerksamkeitsdefizit, meine Damen und Herren.

(Heiterkeit und Zustimmung)

In die Erhebungen wurden zwar auch Städte und Gemeinden aus Niedersachsen einbezogen. Da es aber eine bundesweite Erhebung war, ist es schwierig, nur auf Niedersachsen bezogene Aussagen zu treffen.

In unserem CDU/FDP-Antrag bekennen wir uns vor dem Hintergrund dieser Ergebnisse zu dem Grundsatz, dass - ich zitiere -

„kein Kind, kein Jugendlicher in Niedersachsen aufgegeben werden darf. Alle Kinder und Jugendlichen müssen deshalb die Möglichkeit haben, im Falle der psychischen Erkrankung schnell und möglichst wohnortnah notwendige medizinische Leistungen zu erhalten.“

Meine Damen und Herren, im Jahre 2005 hat das niedersächsische Sozialministerium ein Konzept zur Kinder- und Jugendpsychiatrie aufgelegt. Auf der Basis dieses Konzeptes und auf der Grundlage niedersächsischer Daten wurden Eckpunkte erarbeitet, die auch schon in Entscheidungen und maßgebliche Umsetzungen im Bereich der Psychiatrie eingeflossen sind. Dieses Konzept wird regelmäßig fortgeschrieben und aktualisiert.

Seit letzter Woche liegt uns nun die aktualisierte Istanalyse mit den Daten aus den Jahren bis 2008

vor. Daraus wurde ersichtlich, dass sich die Auslastung der vollstationären Planbetten in den letzten Jahren dem Sollwert von 90 % annähert.

Teilstationäre Angebote werden von zwölf Krankenhäusern vorgehalten, allerdings nicht ganz flächendeckend. In manchen Gebieten müssten noch Verbesserungen für teilstationäre Behandlungsmöglichkeiten eingerichtet werden; aber daran wird gearbeitet.

In dem ambulanten Bereich allerdings ist die Versorgungslage sehr verbesserungswürdig. In den Ballungsräumen stehen immer noch mehr Fachärztinnen und Fachärzte zur Verfügung als in den ländlichen Bereichen, sodass die jungen Patienten mit ihren Eltern weite Anfahrtswege und lange Wartezeiten in Kauf nehmen müssen. Das ist gerade in Akutfällen natürlich eine sehr missliche Situation.

Meine Damen und Herren, in unserem CDU/FDPAntrag bitten wir nun die Landesregierung - da stimmen wir in einigen Punkten mit dem SPDAntrag überein -, die stationäre Versorgungsstruktur im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie weiterzuentwickeln und dabei den Schwerpunkt, aber auch den Aufbau und die Schaffung dezentraler, teilstationärer und eben ambulanter Angebote zu legen. Beim letzteren, dem ambulanten Bereich, müssen regelmäßige lösungsorientierte Gespräche mit der KVN, der Psychotherapeutenkammer und den Kostenträgern geführt werden, da der gesamte ambulante Bereich nicht in der Zuständigkeit des Ministeriums liegt, sondern im Bereich der KVN.

Meine Damen und Herren, in Deutschland existiert seit bereits über 40 Jahren das eigenständige Fachgebiet der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Dieses unterscheidet sich von der Erwachsenenpsychiatrie in Wissenschaft, Weiterbildung und Versorgungsstrukturen sehr deutlich. Weil Kinder- und Jugendpsychiater einerseits und Erwachsenenpsychiater andererseits verschiedene Berufsgruppen sind, kann ein Gesamtkonzept, wie es in dem SPD-Antrag gefordert wird, nicht erstellt werden. Auch deshalb lehnen wir Ihren Antrag ab.

(Beifall bei der CDU)

Er trifft aber auch auf Ablehnung, weil viele von den im SPD-Antrag genannten Punkten durch das Kinder- und Jugendpsychiatriekonzept aus dem Jahr 2005 schon umgesetzt sind.

Lassen Sie mich zum Schluss noch einmal auf die Ergebnisse der Robert-Koch-Studie zurückkom

men. Diese KiGGS-Studie zeigt uns noch mehr als reine Zahlen und Statistiken. Die Auswertungen haben nämlich auch bestätigt, dass der Sozialstatus erheblichen Einfluss auf die individuelle Gesundheit der Kinder und Jugendlichen hat. Während - wie ich vorhin schon sagte - im Durchschnitt bei 22 % der untersuchten Kinder und Jugendlichen psychische Auffälligkeiten gefunden wurden, betrug der Anteil bei einem hohen sozialökonomischen Status 16 %, bei niedrigem Status aber über 31 %. Auch Kinder mit Zuwanderungshintergrund sind dabei überdurchschnittlich betroffen. Insgesamt gilt also: Armut und soziale Ausgrenzung gehen mit schlechteren Chancen für eine gesunde körperliche und psychische Entwicklung der Kinder einher.

Für die Versorgungspraxis der Kinder- und Jugendpsychiatrie heißt das: Die ganzheitliche Diagnostik von Kind und Familie sowie die umfassende Behandlung und Rehabilitation der betroffenen jungen Menschen bedürfen, was die verschiedenen Hilfsangebote angeht, einer intensiven Kooperation und Koordination. Die häufig sehr komplexen Probleme der jungen Patienten machen also eine Kombination aus medizinischen, psychologischen und sozialen Diensten erforderlich. Fakt ist, dass wir alles tun müssen, um den kranken Seelen unserer Kinder zu helfen; denn eine Gesellschaft, die zukunftsfähig sein will, ist auf die gesunde Entwicklung ihrer Kinder dringend angewiesen.

Ich beantrage sofortige Abstimmung über den Antrag von CDU und FDP.

Danke schön.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Herzlichen Dank, Frau Kollegin Prüssner. - Für die SPD-Fraktion hat sich Herr Kollege Brunotte zu Wort gemeldet. Die Aufmerksamkeit gehört Ihnen.

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kinder- und Jugendpsychiatrie ist - genauso wie Psychiatrie im Allgemeinen - für viele Menschen leider noch immer ein Tabuthema, ein Randthema. Es ist ein Thema, über das viel zu selten ein gesellschaftlicher Dialog stattfindet. Das Land Niedersachsen ist in der Pflicht, den Rahmen für ein Gesamtkonzept zu setzen und sich im Rahmen seiner Verantwortung als Aufsichtsbehörde mit der Kinder- und Jugendpsychiatrie zu be

fassen. Schließlich darf kein Kind oder Jugendlicher aufgegeben werden.

Mit unserem Antrag zeigen wir deutliche Perspektiven auf und äußern eine klare Erwartung des Parlaments an die Landesregierung. Diese wird aufgefordert, endlich ein Gesamtkonzept für die Kinder- und Jugendpsychiatrie in Niedersachsen vorzulegen. Wir stehen mit unserer Forderung für eine ortsnahe schnelle Versorgung, für eine Beseitigung von regionalen Unter- und Mangelversorgungen und regionalen Ungleichgewichten, für ein ausgewogenes Verhältnis von stationären und ambulanten Maßnahmen und auch für eine qualifizierte Sozialberichterstattung als Basis für ein Gesamtkonzept.

Frau Prüssner, Sie müssen Ihren Antrag noch etwas überarbeiten; denn Sie haben gesagt, dass es einen Zusammenhang zwischen Armut und psychischen Erkrankungen gibt. Angesichts dessen brauchen wir auch eine qualifizierte Sozialberichterstattung, um auch insoweit Maßnahmen ergreifen zu können.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Meine sehr geehrten Damen und Herren von CDU und FDP, Sie können uns zeigen, ob Sie ernsthaft die Rahmenbedingungen für die Kinder- und Jugendpsychiatrie verbessern wollen. Sie können zeigen, ob Sie die Hinweise der interessierten Fachöffentlichkeit ernst nehmen wollen. Ich habe da meine Zweifel. Ich will Ihnen unsere Argumentationskette anhand von fünf Bereichen darstellen.

Unser Antrag wurde am 27. Mai 2008, also vor fast zwei Jahren eingebracht, und es folgte eine Odyssee durch den Sozialausschuss: von der Tagesordnung abgesetzt; kann aktuell gerade nicht beraten werden; es fehlt noch eine Unterlage aus dem Ministerium. Es wurden ordentliche Nebelkerzen geworfen, um bloß nicht den Antrag mit seinen konkreten Hinweisen auf Fehlentwicklungen beraten zu müssen. Dann kam der geistige Höhepunkt der Beratungen: CDU und FDP kündigen einen eigenen Antrag an - dazu später mehr -, und das Thema wird wieder einmal verschoben.

Der 24. Tätigkeitsbericht des Ausschusses für Angelegenheiten der psychiatrischen Krankenversorgung in Niedersachsen aus dem Jahre 2008 legt den Finger - man kann nur sagen: einmal wieder - in die Wunde: hoher Aufnahmedruck, auch mit Schwerkranken, Unterbringungsbeschlüsse, akute Gefährdungsmomente und massive Verhal

tensprobleme von Jugendlichen führen zu Wartelisten und teilweise schwer zumutbaren Verzögerungen. Und: Im Wesentlichen wird auf den Bericht des Vorjahres verwiesen.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, man findet, wenn man die Tätigkeitsberichte durchliest, eine ganze Kette von Hinweisen, aber nie in der Form, dass eine Lösung aufgezeigt wird; vielmehr wird immer nur das Problem skizziert.

Was sagt die Fachöffentlichkeit? Es gibt einen Sammelband von Dr. Hermann Elgeti zum Thema Psychiatrie in Niedersachsen. Dort sagt der Kollege Klaus-Heinz Behnsen:

„Wegen fehlender oder komplett ausgelasteter Krisenstationen müssen immer noch Jugendliche auf Erwachsenenstationen der Psychiatrie aufgenommen werden.“

Er kritisiert weiter, dass ein nicht unerheblicher Nachholbedarf an teilstationärer Versorgung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie und an Krisenbetten bestehe.

Das Buch ist im Jahre 2010 erschienen und vor wenigen Wochen, ich hoffe, allen Mitgliedern des Sozialausschusses zugegangen.

Dr. Friedrich Specht sagt zur teil- und vollstationären Versorgung, dass die bevölkerungsbezogene Platzzahl unter dem Bundesdurchschnitt liegt. - Das sind keine guten Aussagen für die Öffentlichkeit.

Es gibt einen Weiteren, der sich zum Thema Krankenhauswesen geäußert hat, und das ist der Landesrechnungshof. Der Niedersächsische Landesrechnungshof stellt in einem aktuellen Prüfbericht der Landesregierung ein peinliches Zeugnis aus:

„Niedersachsen verfügt über kein Psychiatriekonzept, aus dem die zukünftigen Ziele und Schwerpunkte in diesem Bereich erkennbar sind.“

(Heinz Rolfes [CDU]: Das ist kein Prüfbericht!)

Es wird weiter kritisiert:

„Es gibt seit vielen Jahren Ankündigungen des Sozialministeriums und zuletzt eine entsprechende Aussage in der Koalitionsvereinbarung. Aber ein Konzept soll erst in Kürze vorgelegt werden.“