Protokoll der Sitzung vom 27.04.2010

Der Antrag von CDU und FDP taugt dagegen höchstens als Beleg für die Zustandsbeschreibung schwarz-gelber Hochschulpolitik in Niedersachsen, die bisher außer einer Fehlentscheidung für Studiengebühren und einiger mal mehr und mal weniger geglückter struktureller Eingriffe in die Hochschullandschaft wenig vorzuweisen hat.

Sehr geehrte Frau Ministerin Wanka, Niedersachsens Hochschulen haben auf den Wechsel an der Hausspitze des Wissenschaftsministerium gewartet und setzen große Hoffnungen in Sie. In diesem Sinne wünschen wir Ihnen vor allem für die Studierenden an unseren Hochschulen ein erfolgreiches Wirken und eine glückliche Hand im neuen Amt. Dieser Zusatz sei mir erlaubt: Möge der Weckruf auf Kabinettsebene auch die Mitglieder der Koalitionsfraktionen im Wissenschaftsausschuss erreichen.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD - Dr. Gabriele Andretta [SPD]: Das wäre schön!)

Meine Damen und Herren, nächster Redner ist Herr Perli von der Fraktion DIE LINKE. Bitte!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach dem Willen der Mehrheitsfraktionen soll die Debatte um den Status quo des Bologna-Prozesses an den niedersächsischen Hochschulen heute ein Ende finden. Es genügt jedoch ein Blick auf die Schlussfolgerungen, die der ehemalige Wissenschaftsminister Stratmann und die Fraktionen von CDU und FDP gezogen haben, um zu wissen,

dass wir uns an dieser Stelle schon sehr bald weiterstreiten werden und weiterstreiten müssen.

(Beifall bei der LINKEN)

Ihr Antrag führt zu keiner Verbesserung. Er ignoriert den dringenden Handlungsbedarf sowie die zahlreichen uneingelösten Versprechen der Bologna-Folgekonferenzen auf europäischer Ebene.

Es ist mittlerweile fast elf Jahre her, seitdem die europäischen Wissenschaftsministerinnen und Wissenschaftsminister den Bologna-Prozess eingeleitet haben. Die Erklärung löste reichlich Wirbel und Unmut an den Hochschulen aus. Ihr Grundgedanke aber, die Schaffung eines einheitlichen europäischen Hochschulraumes für Lehrende und Lernende, ist auf breite Unterstützung gestoßen. Kernaspekte dabei sind die Vergleichbarkeit, die Transparenz und die gegenseitige Anerkennung von Studienstrukturen und -abschlüssen, das lebenslange Lernen sowie die Förderung der Mobilität aller Beteiligten. Zwei Jahre nach der Erklärung von Bologna ergänzten die Minister auf ihrer Folgekonferenz in Prag, dass die soziale Dimension dabei nicht außer Acht gelassen werden dürfe.

Doch was ist seitdem passiert? - Die Proteste an den Hochschulen, die in immer kürzeren Abständen stattfinden und bei Weitem nicht nur Studierendenproteste sind, belegen, dass die Umsetzung der Hochschulreform insgesamt gründlich schiefgelaufen ist und ihre Ziele nicht erreicht worden sind. In Deutschland wurde Bologna nicht nur falsch umgesetzt, sondern auch als Vehikel für alle möglichen Reformen genutzt, die den Hochschulen mehr geschadet als genützt haben. Deshalb gilt es jetzt, den Bologna-Prozess vom Kopf auf die Füße zu stellen, um endlich vernünftige Bedingungen für Studium und Lehre zu realisieren.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich möchte exemplarisch zwei Punkte herausstellen, die auf europäischer Ebene beschlossen, in Niedersachsen aber nicht umgesetzt worden sind.

Erstens die soziale Dimension. Auf der Londoner Folgekonferenz im Jahr 2007 haben die Regierungsvertreter den Anspruch formuliert, dass die Studierendenschaft - ich zitiere jetzt wörtlich - „auf allen Ebenen die Zusammensetzung der Bevölkerung widerspiegelt“. Davon sind wir in Niedersachsen weit entfernt, wenn hier nur jeder siebte Studierende aus einer ärmeren Schicht stammt. 76 % der studierfähigen Schulabgängerinnen und Schulabgänger, die kein Studium beginnen, nennen finanzielle Gründe, die für sie stark oder sehr

stark gegen ein Studium sprechen. Deswegen müssen als Erstes die Studiengebühren weg und das BAföG ausgebaut werden.

(Beifall bei der LINKEN - Zustimmung von Dr. Gabriele Andretta [SPD])

Zweitens die Forderung der Mobilität. Das ist ein zentraler Gedanke von Bologna. Nicht nur die Gedanken und Ideen sollen frei sein, sondern auch die Menschen. Doch stattdessen finden wir überall Mobilitätshürden. Die Probleme bei einem Wechsel zwischen zwei Hochschulen in Niedersachsen sind bekannt. Aber das sind nicht die einzigen. Es gibt Wissenschaftler, die beispielsweise zwei Jahre in Frankreich, dann ein halbes Jahr in Finnland und daraufhin drei Jahre in Rumänien arbeiten. Von wem sie später einmal Rente bekommen, wissen sie aber nicht. Hier muss dringend nachgebessert werden.

(Beifall bei der LINKEN)

Noch viel gravierender ist die Situation für die Studierenden und Beschäftigten aus Nicht-EU-Ländern. Schließlich sind auch Armenien und Aserbaidschan Teilnehmer am Bologna-Prozess. Doch als Nicht-EU-Staaten sind sie Teilnehmer zweiter Klasse. Das betrifft vor allem das Aufenthaltsrecht sowie die Hürden bei der Erteilung von Visa und der Begleitung durch Lebenspartner und Familienangehörige, aber auch das Arbeitsrecht. Die Hochschulminister haben versprochen, dass sie sich für Fortschritte einsetzen. Aus Niedersachsen habe ich dazu keine Initiative vernommen.

Meine Damen und Herren, zwei weitere Themen brennen den Studierenden besonders auf den Nägeln: das Zehn-Semester-Zwangskorsett für konsekutive BA/MA-Studiengänge und der beschränkte Masterzugang. Beide Regelungen sind rein deutsche Erfindungen und haben nichts mit Bologna zu tun.

(Beifall bei der LINKEN - Zustimmung von Dr. Gabriele Andretta [SPD])

Die deutschen Hochschulminister wollen mit diesen obrigkeitsstaatlichen Vorgaben aus Kostengründen für eine Mehrheit der Studierenden eine drastische Reduzierung der Regelstudienzeiten und der Studieninhalte durchsetzen. Dies kommt einer geistigen Enteignung gleich. Hier liegt eine wesentliche Ursache dafür, dass es in Deutschland keine Bologna-Diskussion gibt, in der nicht von der Verschulung des Studiums, vom Bildungsstress und vom „Bulimie-Lernen“ die Rede ist.

Ich erinnere daran, dass wir bereits vor anderthalb Jahren einen Gesetzentwurf vorgelegt haben, der den freien Zugang zu konsekutiven Masterstudiengängen für alle Bachelorabsolventen gewähren wollte. Dass diese Forderung aktueller ist denn je, verdeutlicht auch der HAZ-Bericht vom letzten Samstag über den Bologna-Thementag an der Uni Hannover. Die gemeinsame Forderung von Präsidium, Dozenten und Studenten steht in der Überschrift. Sie lautet: „Mindestnoten für den Master abschaffen“. Frau Andretta, weil Sie mich darauf angesprochen haben, stelle ich fest, dass Frau Schavan mir gefolgt ist. Perli wirkt!

(Heiterkeit - Karl-Heinz Klare [CDU]: Perli ist Perli!)

Aber Sie müssen, wenn Sie A sagen, auch B sagen. Natürlich ist es richtig, dass wir dann ein Kapazitätsproblem bekommen. Aber Sie stehen immer hier und kritisieren, dass es zu wenig Geld für die Hochschulen gibt. Ich habe hier schon einmal erzählt, dass heute, wenn wir denselben Anteil am Bruttoinlandsprodukt wie noch 1975 pro tausend Studierende ausgäben, bundesweit 36 Milliarden Euro mehr für Hochschulen zur Verfügung stünden. Damit wären natürlich auch die Kapazitäten zu finanzieren, die wir für den Master dringend ausbauen müssen, damit jeder Bachelorstudent auch das Recht hat, in den konsekutiven Master zu wechseln.

(Beifall bei der LINKEN)

Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss: Wir werden diese Themen weiter diskutieren müssen. In diesem Sinne freue ich mich jetzt schon auf den Bildungsstreik am 9. Juni und die landesweite Demonstration am 12. Juni.

Für Ihre Aufmerksamkeit danke ich Ihnen recht herzlich.

(Beifall bei der LINKEN)

Meine Damen und Herren, nächster Redner ist Herr Dreyer von der CDU-Fraktion.

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Was ich eben von Herrn Perli hier gehört habe, kann man natürlich nur als Fortbildungsstreik bezeichnen. So resistent, wie Sie sich hier gezeigt haben, geht es auf keine Kuhhaut mehr.

(Beifall bei der CDU)

Zunächst einmal danke ich dem scheidenden Wissenschaftsminister Lutz Stratmann ganz herzlich, auch für die Betreuung unseres Arbeitskreises.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Der neuen Wissenschaftsministerin sage ich für unseren Arbeitskreis ein herzliches Glückauf. Wir freuen uns auf die Zusammenarbeit. Dass Sie heute schon so intensiv in die Debatte eingestiegen sind, hat gezeigt, dass Sie im Thema stecken. Aus eigener familiärer Erfahrung kann ich sagen: Mein Bruder hat im Land Brandenburg Erfahrungen mit der Universität gesammelt und sich immer positiv über Ihre Wissenschaftsarbeit dort geäußert. Dies lässt für Niedersachsen hoffen.

(Beifall bei der CDU)

Meine Damen und Herren, wir führen hier heute die Schlussberatung verschiedener Anträge durch, die sich mit dem Status quo und der Weiterentwicklung des Bologna-Prozesses auseinandersetzen. Dies ist sicherlich ein komplexes Thema, weshalb ich hier zur Vereinfachung die wesentlichen Punkte des Prozesses kurz herausarbeiten möchte:

Deutschland hat sich gemeinsam mit 45 anderen Staaten in Europa verpflichtet, bis 2010 die Ziele der Bologna-Erklärung aus dem Jahr 1999 umzusetzen. Ziel war es, bis zum Jahr 2010 einen einheitlichen europäischen Hochschulraum zu schaffen. In diesem einheitlichen europäischen Hochschulraum sollen Studierende, Lehrende und das Verwaltungspersonal der Hochschulen einfacher mobil sein können, und die Hochschulsysteme sollen gemeinsame strukturelle Merkmale und Vergleichbarkeiten aufweisen. Damit war natürlich auch das Ziel verbunden, die europäischen Hochschulen im globalen Wettbewerb der Bildungssysteme attraktiver zu gestalten.

Zur Erreichung dieser Ziele ist eine Reihe von Instrumenten vorgesehen gewesen, die in den Ministerkonferenzen seit der Bologna-Erklärung immer wieder ergänzt wurden. Zu nennen sind: die Einführung eines Systems leicht verständlicher Abschlüsse - Bachelor und Master -, die Definition eines Rahmens vergleichbarer und kompatibler Hochschulabschlüsse auf nationaler und europäischer Ebene - Stichwort „Qualifikationsrahmen“ -, die Förderung der Mobilität durch geeignete Maßnahmen, die Verbesserung der Anerkennung von Abschlüssen und Studienleistungen, die europäische Zusammenarbeit im Bereich der Qualitätssicherung, die Förderung der europäischen Dimen

sion in der Hochschulausbildung, die Einbettung - das ist ganz wichtig - in das Konzept des lebenslangen Lernens durch Schaffung von flexiblen Lernangeboten im Hochschulbereich oder durch Verfahren für die Anerkennung früherer, auch außerhalb der Hochschule erworbenen Erkenntnissen. Die Steigerung der Attraktivität im europäischen Hochschulraum hatte ich schon genannt. Wichtig ist auch, dass die Berufsqualifizierung aller Stufen stärker in den Fokus gerückt wird. Das heißt, die Hochschulen müssen für eine breite Wissensgrundlage sorgen, aber auch - das ist ganz wichtig, meine Damen und Herren - auf den Arbeitsmarkt vorbereiten. Die besten wissenschaftlichen Talente müssen exzellent auf eine wissenschaftliche Karriere vorbereitet werden. Kurzum: Das vorhandene Wissenspotenzial muss, kann und soll besser ausgeschöpft werden.

Wenn man die Frage nach den Vorteilen von Bologna stellt, dann können darauf verschiedene Antworten gegeben werden. Zunächst einmal allgemein zum Stichwort „lebenslanges Lernen“: Studierende erhalten bereits nach dem ersten Studienabschnitt einen qualifizierenden Berufsabschluss. Danach sammeln sie Berufserfahrung. Mit der gesammelten Berufserfahrung kann dann ein Master im Rahmen einer Fortbildung angeschlossen werden.

Dies, meine Damen und Herren, erfordert natürlich eine bessere Verzahnung von Theorie und Praxis. Wir konnten feststellen, dass das bei den Fachhochschulen weniger ein Problem ist als bei den Universitäten. Dort muss noch etwas nachjustiert werden. Für die Hochschulen ist der Vorteil, dass der Lernende mit seinem Arbeitsaufwand und den Kompetenzen, die er im Laufe des Studiums erwirbt, im Vordergrund steht und nicht die Orientierung an Semesterwochenstunden und dem Aufwand des Lehrenden.

Für die Studierenden ist der Vorteil, dass die Studiengänge inhaltlich erneuert werden und eine stärkere Ausrichtung auf die zu erwerbenden Kompetenzen erfolgt. Die Studierbarkeit der Studiengänge - auch der zeitliche Rahmen - wird systematisch überprüft; und der Bachelor als berufsqualifizierender Abschluss eröffnet eine Vielzahl von beruflichen Wegen. Natürlich besteht später auch die Möglichkeit der Spezialisierung und Weiterqualifizierung im Masterstudiengang.

Meine Damen und Herren, zu wenig angesprochen worden sind hier die Vorteile für die Wirtschaft. In der Wirtschaft sollen im europäischen Raum ver

ständliche und vergleichbare Abschlüsse vorgelegt werden. Es geht um eine größere Vielfalt an Qualifikationsstufen und um die Förderung der europäischen Zusammenarbeit in der Qualitätssicherung.

Wenn wir jetzt fragen, wie wir diese Chancen in Deutschland genutzt haben, dann stellen wir fest, dass wir durch diese größte Hochschulreform seit Jahrzehnten die Qualität der Studienangebote verbessert haben. Wir haben die Beschäftigungsfähigkeit der Studienabsolventen erhöht und die Studiendauer bis zum ersten berufsqualifizierenden Abschluss verkürzt.

Kurz zu Ihren Kritikpunkten: Hier wurde erwähnt, die Zehn-Semester-Frist sei zu kurz, vor allem wenn dabei nur zweisemestrige Masterstudiengänge konzipiert würden. Meine Damen und Herren, ich möchte in Erinnerung rufen, dass dieses System auf dem einstimmigen Beschluss der Kultusministerkonferenz über die Zehn-Semester-Frist beruht. Diese Frist ist auch Bestandteil des Hochschulrahmengesetzes. Es geht dabei nicht darum, Grundlagen für ein komplettes Berufsleben zu vermitteln, meine Damen und Herren, sondern es geht darum, am Ende eines Studiums die Weiterbildungsfähigkeit sicherzustellen. Das ist das Entscheidende; darauf kommt es an.

Es obliegt also den Hochschulen, die Anforderungen an exemplarisches Lernen, Lehren und Studieren umzusetzen. Möglicherweise haben sich die Hochschulen damit noch nicht intensiv genug befasst. Aber es ist erforderlich, dass wir auch in diesem Bereich der Hochschulautonomie Raum lassen.

Meine Damen und Herren, ich möchte auf die Erklärung der europäischen Bildungsminister vom 10. März 2010 anlässlich der Bologna-Folgekonferenz in Budapest und Wien zum Europäischen Hochschulraum hinweisen. Man ist sich darin einig, „dass die Aktionslinien des Europäischen Hochschulraums, wie die Reform von Abschlüssen und Lehrplänen, Qualitätssicherung, Anerkennung, Mobilität und die soziale Dimension unterschiedlich gut umgesetzt wurden.“ Ich bitte um Beachtung der Fortführung des Zitats:

„Die jüngsten Proteste in einigen Ländern, die sich teilweise auch gegen Entwicklungen und Maßnahmen richteten, die nicht im Zusammenhang mit dem Bologna-Prozess stehen, haben uns daran erinnert, dass einige der Ziele und Reformen von Bologna

nicht richtig umgesetzt und vermittelt wurden.“

Wir müssen uns also zwei Dinge merken: Erstens. Die Bildungsproteste, die hier angesprochen worden sind, hatten größtenteils rein gar nichts mit dem Bologna-Prozess zu tun.