Protokoll der Sitzung vom 10.06.2010

Das Land Niedersachsen wandte bisher für Haftentschädigungen jährlich zwischen 50 000 und 60 000 Euro auf. Das ist ein Zeichen für die hohe Professionalität und Qualität der Arbeit der niedersächsischen Justizbehörden. Die Erhöhung der Pauschale auf 25 Euro ist eine deutliche und vertretbare Lösung. Sie soll auch nicht wieder 21 Jahre Bestand haben. Die damalige Bundesregierung, vertreten durch die Bundesjustizministerin Brigitte Zypries - von der SPD, wie wir alle wissen -, kommentierte den Gesetzentwurf wie folgt: „Die Bundesregierung teilt die Auffassung, dass die vom Bundesrat vorgeschlagene Erhöhung rechtsstaatlich als auch haushalterisch gut vertretbar ist.“

Mit der Anhebung ist es gelungen, im Sinne der Betroffenen einen breiten Konsens herzustellen. Ich betone aber nochmals: Der unrechtmäßige Freiheitsentzug, oftmals verbunden mit seelischen Schäden und gesellschaftlicher Stigmatisierung, lässt sich nur schwer mit einem Geldwert aufwiegen.

Die Intention Ihres Antrags, die Pauschale weiter zu erhöhen, ist unterstützenswert. Aus fachlicher Sicht sind die Aussichten, das Gesetz nach so kurzer Zeit erneut zu ändern, allerdings gering. Ich betone: Einer erneuten Änderung müssten alle Länder zustimmen; der letzten Änderung haben auch alle 16 Bundesländer im Bundesrat zugestimmt.

(Helge Limburg [GRÜNE]: Die Mehr- heit reicht! Es müssen nicht alle zu- stimmen!)

Die erst vor knapp einem Jahr beschlossene Gesetzesänderung zur Entschädigung für Strafverfol

gungsmaßnahmen war ein Schritt in die richtige Richtung. Das Gesetz ist in großem Einvernehmen aller Bundesländer zustande gekommen.

Meine Fraktion wird Ihren Antrag, die Landesregierung aufzufordern, über eine Bundesratsinitiative die gerade beschlossene Haftentschädigungspauschale nochmals zu erhöhen, deshalb ablehnen.

(Hans-Dieter Haase [SPD]: Schade!)

Einig sind wir uns aber in der Überzeugung, dass eine angemessene Anhebung und Anpassung der Pauschale von Zeit zu Zeit erfolgen muss und soll. Aber so, wie Sie es hier dargestellt haben, ist es einfach unredlich, und das lasse ich so nicht stehen.

(Lebhafter Beifall bei der CDU und bei der FDP - Detlef Tanke [SPD]: Was war denn jetzt falsch?)

Meine Damen und Herren, für die Fraktion DIE LINKE hat sich der Kollege Adler gemeldet. Bitte!

(Beifall bei der LINKEN)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es geht um die Frage, wie man das Unrecht vergütet oder ausgleicht, das jemand erlitten hat, der zu Unrecht eingesperrt worden ist. Wie soll man das bemessen? Anhaltspunkte für dieses Schmerzensgeld oder diesen immateriellen Schaden gibt es meines Erachtens in Urteilen der Zivilgerichte, die es zu diesen Fragen im Grunde schon gibt; denn wenn jemand durch eine Privatperson seine Freiheit verliert und eingesperrt wird - oder auch durch den Staat, aber nicht in der Form der Strafjustiz - und dann einen Entschädigungsanspruch hat, muss das entsprechend ausgeglichen werden.

(Helge Limburg [GRÜNE]: Ganz ge- nau!)

Weil die Situation vergleichbar ist, will ich drei Urteile zitieren, die vielleicht zum Nachdenken anregen:

Landgericht Hamburg, Urteil vom 6. März 1987. Es lag eine rechtswidrige Festnahme durch die Polizei vor. Die Folge war eine Freiheitsentziehung von 14 Stunden. Die Entschädigung, die ausgesprochen wurde, betrug 200 DM.

(Zustimmung von Helge Limburg [GRÜNE] und von Pia-Beate Zim- mermann [LINKE])

Amtsgericht Osnabrück, ungerechtfertigte Festnahme durch einen Kaufhausdetektiv, Freiheitsentzug eine Stunde. Die Entschädigung, die das Amtsgericht ausgesprochen hat, betrug 250 DM.

(Zustimmung von Helge Limburg [GRÜNE])

Urteil des Oberlandesgerichts München vom 27. Mai 1993. Drei Tage ungerechtfertigte Zwangshaft. Die Entschädigung betrug 1 500 DM.

Sie werden wahrscheinlich die DM-Beträge durch zwei teilen können, um auf Euro zu kommen. Aber selbst wenn Sie das tun, werden Sie merken, dass 50 Euro Haftentschädigung als Minimum nun wirklich angemessen sind.

Danke schön.

(Beifall bei der LINKEN und Zustim- mung bei der SPD)

Meine Damen und Herren, nächster Redner ist Herr Minister Busemann.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Man soll sich am späten Abend ja nicht mehr aufregen. Aber, Herr Kollege Tonne, so eine miese Rede ist mir hier selten dargeboten worden. Das muss ich ehrlich sagen.

(Beifall bei der CDU - Widerspruch bei der SPD - Detlef Tanke [SPD]: Ges- tern oberlehrerhaft, heute schon wie- der!)

- Regen Sie sich nur auf, Herr Tanke! Die Rede war in der Sache wider besseres Wissen perfide angelegt. Er weiß es besser.

Herr Minister, entschuldigen Sie. Sie wissen, dass ich nichts dazu sagen darf, aber „mies“ fand ich nicht angemessen.

(Zurufe von der SPD)

Das nehme ich zurück. - Es geht auch um die Unterstellungen, die da eingebaut waren.

(Detlef Tanke [SPD]: Welche? Ein Beispiel!)

Ich sage Ihnen Folgendes: Wenn es dazu kommt, dass der Staat, nicht eine Privatperson, jemanden aufgrund fehlerhafter Erkenntnislage zu Unrecht eingesperrt hat, dann ist das eine traurige Angelegenheit, und dann hat der Staat das, was passiert ist, auch entsprechend zu entschädigen. Das ist kein Anspruch unter Zivilpersonen. Was entschädigt der Staat? Er entschädigt den materiellen Anspruch. Das ist auch richtig so. Was ist ein materieller Anspruch? Es ist Verdienstausfall, es sind Sachschäden, es sind Anwaltskosten, es sind Umzugskosten. Alles, was passiert sein mag, bezahlt der Staat zu 100 %.

Herr Minister, es gibt den Wunsch nach einer Zwischenfrage. Lassen Sie die zu?

Nein. Ich erkläre das jetzt, und dann ist Feierabend!

(Beifall bei der CDU - Zurufe von der SPD)

Der Staat entschädigt zu 100 % den materiellen Anspruch. Dann kann es dazu kommen - das ist allgemeiner Schadensausgleich, die Kollegen werden das bestätigen -, dass auch der Vorteilsausgleich mit einzustellen ist. Das mag sich kleinkariert in Richtung Staat anhören. Dann werden z. B. auch die Kosten gegengerechnet, die man ansonsten selber fürs Essen aufgewendet hätte. Das hört sich zwar kleinkariert an, aber das ist allgemeines Schadenersatzrecht. Das habe ich übrigens dem Fernsehsender seinerzeit erklärt. Das ist aber kein Grund, mich als hartherzig in die Ecke zu stellen.

(Detlef Tanke [SPD]: Jetzt mal einen Fehler benennen!)

Eine zweite Anspruchsebene ist der immaterielle Anspruch. Im Zivilbereich würden wir von Schmerzensgeld sprechen. Hier gibt es einen Anspruch auf Ausgleich und Genugtuung. Es ist schon schwierig genug festzustellen: Was ist ein Tag Freiheit im Leben eines Menschen wert? Wonach richtet sich das? Nach sozialem Status? Nach Alter? Nach Einkommensklasse? Wie wollen Sie das bewerten? Es geht hier auch nicht, Herr Kollege Adler, um einen Anspruch im zivilrechtlichen Verfahren zwischen zwei Privatpersonen - da sind

die von Ihnen genannten Urteile ergangen -, sondern um einen Anspruch gegen den Staat.

Nun sagt der Staat: Wir haben fehlerhaft gehandelt und wollen deshalb für diese Situation einen Anspruch beschreiben, den der Betroffene nicht durch alle Instanzen einklagen muss. Wir regeln das mit einem Tagessatz. - Darüber kann man so oder so denken. Der Tagessatz war seit den 70erJahren recht bescheiden angelegt. In den Jahren 2008 und 2009 kam die Frage auf, ob wir ihn anheben können.

Es war die Linie sowohl des Landes Niedersachsen - vertreten in dem Fall durch mich - als auch die Linie fast aller anderen Länder in der Justizministerkonferenz: Wir wollen das anheben. - Bitte sehr, es ist ein Bundesgesetz! Ich danke für die Überhöhung, dass Sie meinen, ich hätte sozusagen den Bundestag vergewaltigt und ihm meine repressive Haltung aufgedrückt, dass er die Strafrechtsentschädigung auf 25 Euro bemisst. - Herr Tanke, Sie sind anscheinend gar nicht im Thema.

(Detlef Tanke [SPD]: Nennen Sie mal auch nur eine Fehlinformation! - Ge- genruf von der CDU: Flegel! - Weitere Zurufe)

Frau Zypries hat einen Gesetzesvorschlag gemacht, und 15 der 16 Bundesländer haben sich ihm angeschlossen - mit Ausnahme des Landes Berlin. Das war ein großer Konsens. Das ist vor einem Jahr in einer Großen Koalition unter einer SPD-Justizministerin Bundesgesetz geworden. Was wollen Sie dem Niedersächsischen Justizminister da anheften? Deswegen sage ich: Über 25 Euro können Sie so oder so denken. Das ist rechtsstaatlich abgesichert. Das ist der Betrag, der ausgekehrt wird.

Im Antrag wird von „fiskalischen Interessen“ gesprochen. Wissen Sie was? - Die Beträge sind so was von gering! So arm das Land Niedersachsen auch ist, an der Kante müssen wir nicht Geld verdienen oder einsparen. Das waren nicht die Gründe.

25 Euro war ein bundesweiter Konsens, dem alle Länder, mit Ausnahme von Berlin, zugestimmt haben. Damit hatte es sich. Ich sehe auch nicht ein - Ihr Antrag ist im Oktober gestellt worden, wenige Wochen, nachdem das Gesetz in Kraft getreten ist -, dass wir jetzt, ein paar Monate später, ein neues Verfahren anstrengen. Wir machen uns auf der Bundesratsebene ja lächerlich!

Danke schön.

(Lebhafter Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Meine Damen und Herren, jetzt gibt es den Wunsch der beiden Fraktionen, die sich noch nicht geäußert haben, sich doch zu äußern. Außerdem gibt es Wünsche nach zusätzlicher Redezeit. Diese Wünsche werde ich jetzt der Reihe nach abarbeiten. Zunächst spricht Herr Professor Zielke für die FDP-Fraktion.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Einst sah der Obrigkeitsstaat seine Bürger als Plebs oder auch als Subjekte, jedenfalls nie auf Augenhöhe. Der Obrigkeitsstaat macht auch keine Fehler, und wenn er doch Fehler macht, dann versucht er, sie kleinzureden, abzulenken und die Schuld anderen zuzuschieben.

Um konkret zu werden: Bei aller Unterschiedlichkeit der Einzelfälle - wenn jemand unschuldig inhaftiert wird, sei es in Untersuchungshaft oder in Strafhaft, wenn jemandem also irrtümlich die Freiheit genommen worden ist, dann ist das immer ein Fehler, an dem der Staat Anteil hat.

Der starke demokratische Staat hat keine Probleme, mit eigenen Fehlern vernünftig und fair im Sinne der Betroffenen umzugehen. Der Umgang mit Entschädigungen für unschuldig erlittene Haft ist auch ein Indiz dafür, wo unser Staat auf der Skala zwischen Obrigkeitsstaat und Bürgerstaat anzusiedeln ist.