Protokoll der Sitzung vom 18.08.2010

(Lachen und Widerspruch bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Entscheidend ist der Inhalt der eidesstattlichen Versicherung. Die sollten Sie sich einmal angucken. Es ist doch völlig egal, an wen hier gefaxt worden ist.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, es liegt keine weitere Wortmeldung mehr vor. Ich stelle fest, dass der Punkt d der Aktuellen Stunde erledigt ist.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 e auf:

Abschiebepraxis in Niedersachsen nach dem Prinzip „Hauptsache raus“? - Antrag der Fraktion DIE LINKE - Drs. 16/2723

Frau Zimmermann!

(Unruhe)

- Frau Zimmermann, warten Sie einen kleinen Moment! Sie können schon einmal nach vorne kommen.

(Anhaltende Unruhe)

- Bitte begeben Sie sich etwas zügiger aus dem Plenarsaal, wenn Sie kein Interesse an dieser Debatte haben oder nicht teilnehmen können, damit ich Frau Zimmermann das Wort erteilen kann. - Frau Zimmermann, bitte schön, Sie haben die

Gelegenheit, Ihren Beitrag zur Aktuellen Stunde vorzutragen. Bitte schön!

Herzlichen Dank. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Fall von Slawik C. hat in den letzten Wochen deutschlandweit für Schlagzeilen gesorgt, insbesondere deshalb, weil die Abschiebetragödie mit dem Tod des Mannes in der Abschiebehaft in der JVA in Langenhagen geendet ist. Unsere ausdrückliche Anteilnahme gilt an dieser Stelle der Witwe, dem Sohn und dem Enkelkind. Unsere Sorge gilt denen, die jetzt in Abschiebehaft sitzen.

(Beifall bei der LINKEN - Zustimmung von Helge Limburg [GRÜNE])

Meine Damen und Herren, leider ist es so, das bei näherer Betrachtung und Untersuchung der Hintergründe des Falles deutlich wird, dass das dahinter stehende Behördenhandeln kein Einzelfall, sondern alltägliche Praxis in Niedersachsen ist.

Der Kernvorwurf - das stelle ich voran - besteht darin, dass Ausländerbehörden versuchen, Flüchtlinge ohne Rücksicht auf die tatsächliche Herkunft in irgendein Land abzuschieben, das zur Aufnahme bereit ist. Wie im Fall Slawik C. offensichtlich geschehen, werden von den Behörden des angeblichen Herkunftsstaats zur Ausstellung des Passersatzpapiers Papiere einer anderen Person benutzt, um den Identitätsnachweis zu erbringen. Das Land Niedersachsen spielt dabei fröhlich mit; denn man zahlt dafür und ist dann die Person los.

Aber der Reihe nach:

Am Abend des 2. Juli 2010 wird der 58jährige Slawik C. in seiner Zelle in der Abschiebehaft der JVA Langenhagen erhängt am Elektrokabel eines Wasserkochers aufgefunden. Wenige Tage zuvor, am 28. Juni 2010, war er vor den Augen seiner Familie im Kreishaus des Landkreises Harburg in Winsen verhaftet worden. Nach fast elf Jahren in Jesteburg mit Frau und Sohn lebend, sollte er am 7. Juli nach Armenien abgeschoben werden. Die Familie hatte bei der Einreise angegeben, Aserbaidschaner armenischer Volkszugehörigkeit zu sein. Der Asylantrag wurde im Jahr 2003 abgelehnt. Nun schaltete die Ausländerbehörde Interpol ein, um die Identität der Familie festzustellen, da sie eine falsche Angabe der Familie unterstellte. Interpol wurde im Fall Slawik C. angeblich fündig und lieferte armenische Personalien. Diese waren aber - wie auch vom Bundeskriminalamt letztlich

bestätigt - falsch. Mit falschen Identifikationsdaten wurden somit offensichtlich falsche Papiere für ein falsches Land erstellt. Meine Damen und Herren, das ist der Ausgangspunkt für die sich dann anschließende Tragödie, welche mit dem Tod des Mannes endete.

Wenn im Nachhinein darauf verwiesen wird, dass Aserbaidschan keine Papiere ausgestellt hat, dann verweise ich darauf, dass keine Fälle von aserbaidschanischen Staatsangehörigen armenischer Volkszugehörigkeit bekannt sind, bei denen Papiere ausgestellt worden sind. Der Staat Aserbaidschan will schlicht diese Minderheit bei sich nicht haben. Erinnert sei an den militärischen Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan vor wenigen Jahren.

Meine Damen und Herren, die Kette der - ich behaupte - bewusst gewollten Verfehlungen geht aber weiter. Die Inhaftierung hätte zu keinem Zeitpunkt erfolgen dürfen. In der Begründung für die Haft berufen sich die Behörden auf einen lange zurückliegenden Verstoß gegen die sogenannte Residenzpflicht und einen Besuch in Holland. Das findet sich aber nicht im Haftantrag wieder und hat für den Haftbeschluss gar keine Rolle gespielt.

Es bleibt festzustellen: Slawik C. hätte nicht in Abschiebehaft sitzen dürfen.

(Beifall bei der LINKEN und Zustim- mung bei den GRÜNEN)

Das war schlicht rechtswidrig.

In der Haft gab es offensichtliche Verfehlungen mit verheerenden Folgen: Er schlug um sich, verletzte sich bewusst an Kopf und Armen und bekam Psychopharmaka zur Beruhigung. Warum erkannte das Personal nicht, dass Hinweise auf einen Suizid vorlagen? Ist das Personal fachlich überfordert, oder ist es unterbesetzt? Warum weiß keiner, was in der betreffenden Nacht geschehen ist?

(Hans-Christian Biallas [CDU]: Sie doch auch nicht!)

Schließlich und endlich stellt sich noch die Frage: Warum sollte Slawik C. ohne seine Frau abgeschoben werden? Wo bleibt das grundgesetzlich verankerte Schutzgut von Ehe und Familie?

(Beifall bei der LINKEN und Zustim- mung bei den GRÜNEN und von Silva Seeler [SPD])

In diesem Fall hat sich niedersächsische Abschiebepraxis exemplarisch widergespiegelt. Es wird

nach dem Prinzip verfahren: Hauptsache raus, auch wenn das Leben gefährdet ist. Dass das zuständige Ministerium erst nach vier Wochen erstmalig zu dem Vorgang Stellung nimmt, da man angeblich bis zu diesem Zeitpunkt auf die Akten warten musste, macht auf fatale Art und Weise deutlich, welches Desinteresse die Regierung bei der Aufklärung der Umstände des Falles an den Tag legt.

(Beifall bei der LINKEN und Zustim- mung bei den GRÜNEN)

Die Taktik des Vertuschens und des Verschweigens hat sich bis zum heutigen Tage fortgesetzt. Es ist dann auch nicht verwunderlich, dass die Landesregierung bis heute kein Wort der Entschuldigung und des Bedauerns über den Tod des Mannes gefunden hat.

Es sind weiterhin viele Fragen offen. Wir fordern deshalb endlich eine offensive Aufklärung von der Landesregierung. Dieser Fall hat mit seinen verheerenden Folgen deutlich gemacht: Niedersachsen braucht eine andere, eine auf Menschlichkeit ausgerichtete Flüchtlings- und Migrationspolitik.

(Beifall bei der LINKEN)

Es muss endlich Schluss mit Abschiebehaft sein. Es muss Schluss mit der sogenannten Residenzpflicht sein. Es muss Schluss mit dem Prinzip „Hauptsache raus“ sein.

(Beifall bei der LINKEN und bei den GRÜNEN)

Nun hat Frau Polat von Bündnis 90/Die Grünen das Wort. Bitte sehr!

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch ich möchte im Namen meiner gesamten Fraktion von dieser Stelle aus der Familie des Verstorbenen unser Mitgefühl und Beileid aussprechen. Es ist für alle - auch für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der betroffenen Behörden, wie ich hier betonen möchte - sehr schrecklich, wenn sich ein Mensch - in diesem Falle geschah das unter Aufsicht der Behörden - das Leben nimmt.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Herr Slawik C. ist 58 Jahre alt geworden. Er starb am 2. Juli und hinterlässt in Jesteburg im Landkreis Harburg seine Ehefrau, einen Sohn und des

sen Ehefrau sowie ein Enkelkind. Die Familie lebt seit über zehn Jahren hier bei uns in Niedersachsen. Ich möchte noch einmal ausdrücklich betonen: Kein Tod ist so schwer zu akzeptieren, kein Fortgang ohne Abschied so schwer zu begreifen wie der selbst gewählte Tod. Das gilt insbesondere für die Familienangehörigen.

In diesem Fall kommt aber ein besonderer Aspekt hinzu. Der Verstorbene erhängte sich in der Abschiebehaft, im Verantwortungsbereich niedersächsischer Behörden und damit unter der Fachaufsicht dieser Landesregierung.

(Beifall von Helge Limburg [GRÜNE])

Es ist deshalb die absolute Pflicht und Aufgabe dieser Landesregierung und dieses Parlaments, die Ungereimtheiten dieses Falles aufzuklären, die möglicherweise ursächlichen Fehler im System zu erkennen und die Alarmsignale endlich ernst zu nehmen.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der LINKEN)

Es ist für mich wirklich absolut erschreckend, wie Sie von der CDU, Herr Biallas, den Fall noch während der laufenden Unterrichtung im Ausschuss für erledigt erklärt haben. Die Fragen meines Kollegen Limburg und meine eigenen Fragen wurden teilweise falsch, auf Nachfrage teilweise korrigierend oder gar nicht beantwortet.

Es gibt drei Komplexe, die bei Herrn Slawik C. eine entscheidende Rolle gespielt haben, die dringend aufgeklärt, aber auch hinterfragt werden müssen.

Als Erstes sind die Passbeschaffung und das Personenfeststellungsverfahren zu nennen. Im Zentrum der einschlägigen Diskussion steht wie so oft die Identitätsfrage: Armenier oder Aserbaidschaner? Das ist nichts Ungewöhnliches. Die Mitglieder der Familie sind - das wurde bereits gesagt - Flüchtlinge aus der Krisenregion Bergkarabach, aus einem der am meisten umkämpften Gebiete zwischen Aserbaidschan und Armenien. In diesem Konflikt starben schätzungsweise 20 000 Armenier und 25 000 Aserbaidschaner. Fast eine Million Aserbaidschaner und 300 000 Armenier wurden zu Flüchtlingen. Menschen werden in solchen Regionen aufgrund ihrer Herkunft aus den Ländern, in denen sie geboren sind, verfolgt. Herr Slawik C. war ein solcher Flüchtling, ein Flüchtling armenischer Herkunft, aber aserbaidschanischer Staatsangehörigkeit. Wenn die Republik Aserbaidschan auf Nachfrage der Behörden erklärt, er sei kein

Aserbaidschaner, dann ist das nichts Ungewöhnliches.

Es ist nicht bekannt, dass die Republik jemals einem aserbaidschanischen Staatsangehörigen amtlich armenischer Volkszugehörigkeit einen Ausweis im Ausland ausgestellt hätte. Hingegen sind Fälle amtlicher Registersäuberung durchaus bekannt geworden, in denen die armenische Volkszugehörigkeit von Amts wegen abgemeldet wurde. Bei Herrn Slawik C. schien das überhaupt keine Rolle für die deutschen Behörden zu spielen. Hier wurde der Fokus vielmehr auf angebliche und im Übrigen nicht bewiesene Falschangaben gelegt.

Es wurden zwei Personenfeststellungsverfahren angestrengt, um Herrn Slawik C. zum Armenier zu machen. Nachdem das erste Verfahren schon negativ verlaufen war, wurde im Mai 2009 durch das BKA festgestellt - ich zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten -: