Protokoll der Sitzung vom 09.09.2010

(Beifall bei der SPD, bei den GRÜ- NEN und bei der LINKEN)

Stattdessen wurden die Äußerungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte wegge

wischt, und es wurde erklärt, sie seien für uns nicht bindend. Ich sage Ihnen: Ich erwarte von einem Justizminister mehr Sensibilität, wenn uns aufgrund der aktuellen Regelung der Sicherungsverwahrung Verletzungen von Menschenrechten durch den Europäischen Gerichtshof bescheinigt werden.

(Beifall bei der SPD, bei den GRÜ- NEN und bei der LINKEN - Hans- Henning Adler [LINKE]: Demut! De- mut ist gefragt!)

Ich fand auch die Äußerungen in Pressemitteilungen nicht allzu hilfreich, wenn dort Urteile von Oberlandesgerichten als „bedenklich“ bezeichnet werden. Ich finde, das führt zu nichts anderem als zu einer Beunruhigung der Öffentlichkeit. Das ist bei diesem Thema jedoch nicht förderlich. Die Neue Presse hat am 16. Juli 2010 dann auch, wie ich finde, zutreffend kommentiert:

„Dass allerdings bereits am Tag der Freilassung Justizminister Bernd Busemann die Öffentlichkeit warnt, lässt vermuten, dass da ein Politiker ein hochsensibles Thema zur eigenen Profilierung nutzt.“

Und das geht nicht!

(Beifall bei der SPD)

Herr Dr. Biester, ich habe Ihre Äußerungen sehr interessiert zur Kenntnis genommen. In weiten Teilen stimmen wir auch überein. Allerdings ist das, was Sie hier ausgeführt haben, nicht Bestandteil des Antrags, über den wir heute diskutieren.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Sie haben in den Ausschussberatungen eine Anhörung verweigert und verkündet, man wolle den Antrag lieber wieder schnell in die Plenarberatungen einbringen. Wir haben kein Wort zum Eckpunktepapier des Bundesjustizministeriums gehört. Wir haben kein Wort zu der, wie ich finde, unseligen Debatte über den Internetpranger für Sexualstraftäter gehört. Kein Wort zu der Frage, wie man sich die Neuordnung der Sicherungsverwahrung konkret vorstellt. Übrigens gibt es auch keinen Ansatz für den Umgang mit Altfällen. Schließlich im Ausschuss auch kein Wort zu der Frage, wie der Dreiklang aus Sicherheitsbedürfnis, Menschenwürde und Rechtsstaatlichkeit aussehen soll. Stattdessen einfach nur der Antrag: Handelt, und das bitte schnell!

Ich sage Ihnen: Es hätte dem Landtag und auch dem Rechtsausschuss besser zu Gesicht gestanden, wenn er selbst eine Lösung vorgeschlagen und diese dem Justizminister mit auf den Weg gegeben hätte.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Meine Fraktion hätte im Rahmen einer Expertenanhörung gern über die Frage diskutiert, wie wir ehemaligen Opfern von Straftätern eine qualitativ hochwertige Unterstützung an die Seite stellen und ihren Ängsten begegnen können. Wir hätten gern darüber diskutiert, welche fallbezogenen angemessenen Maßnahmen der Überwachung und Aufsicht ergriffen werden können und wie beispielsweise personelle und technische Verstärkungen vorgenommen werden müssen. Und wir hätten gern darüber diskutiert, wie wir durch sozialpädagogische und therapeutische Begleitung praktische und wirkungsvolle Hilfe beim Finden von Wohnung und Arbeit leisten können, um damit künftige Straftaten zu verhindern.

Letztlich hätten wir auch darüber diskutieren können, ob das Instrument der nachträglichen Sicherungsverwahrung tatsächlich einen Beitrag zu mehr Sicherheit leistet, wie wir mit Therapieunwilligkeit umgehen und ob wir nicht eine menschenrechtskonforme Lösung finden können, die genauso viel oder sogar mehr relative Sicherheit bietet, als dies die jetzige Regelung tut.

Allerdings: Kaum liegen die Vorschläge der Bundesebene auf dem Tisch, schon bekommen wir die nächste Pressemitteilung, diesmal mit dem Hinweis, man werde keiner Lösung zustimmen, die die Sicherheit der Bevölkerung nicht garantiere.

Meine Damen und Herren, wir dürfen der Öffentlichkeit doch nicht suggerieren, dass es Lösungen gibt, die absolute Sicherheit versprechen. Das ist unredlich.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Ganz nebenbei bleibt man auch die Antwort auf die Frage schuldig, wie die bessere Alternative eigentlich aussehen soll.

Das aktuell vorliegende Eckpunktepapier ist mit Sicherheit nicht der Weisheit letzter Schluss, aber es ist getragen von dem Bemühen, eine konstruktive Lösung zu finden. Sicherungsverwahrung ist das schärfste Instrument der Freiheitsentziehung. Daher begrüße ich es, wenn man grundsätzlich

eine Beschränkung auf besonders gefährliche Straftäter vornimmt und eine Ausweitung nicht zulässt.

Wir begrüßen genauso die Ankündigung, sich sehr genau mit der Frage auseinanderzusetzen, wie die Unterschiedlichkeit zwischen Strafhaft und Sicherungsverwahrung auch in der Ausstattung deutlich gemacht werden kann. Wir melden Diskussionsbedarf bei den Punkten an, ob die geplanten neuen Einrichtungen, die man dort schaffen möchte, europarechtskonform sind und ob die Feststellung einer Persönlichkeitsstörung ausreichend ist, um die Maßregel zu rechtfertigen und die „Richtigen“ herauszufiltern.

Das Eckpunktepapier bietet jedenfalls bisher mehr Anhaltspunkte, als wir in der bisherigen Diskussion erlebt haben. Von daher sollte man sich mit ihm auseinandersetzen. Der vorliegende Antrag leidet daran, dass er inhaltlich nichtssagend ist. Ich bin nicht bereit, einen Persilschein zu erteilen und zu sagen: Macht, Hauptsache schnell! - Ich würde sagen: Machen wir, aber bitte gründlich!

(Beifall bei der SPD)

Danke schön. - Zu einer Kurzintervention auf den Kollegen Tonne erteile ich dem Kollegen Adasch von der CDU-Fraktion das Wort für genau anderthalb Minuten.

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Tonne, ich möchte auf zwei Punkte Ihrer Rede eingehen.

Erstens haben Sie mehrfach die Stichworte Sensibilität und Sachlichkeit genannt und darauf hingewiesen, Ihnen geht das alles zu schnell, und wir müssten viel mehr darüber beraten.

Ich darf Sie einmal daran erinnern: Wenn jemand mit diesem Thema wenig sachlich und wenig qualifiziert umgegangen ist, dann war es Ihr damaliger Bundeskanzler Gerhard Schröder, der über die Bild am Sonntag sehr publikumswirksam gefordert hat: Wegschließen für immer! - Taten sind von der damaligen Bundesregierung unter Schröder aber nicht gefolgt, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der CDU - Hans-Dieter Haase [SPD]: Warum bringen Sie jetzt diese unnötige Schärfe rein?)

Zweitens. Herr Tonne, wir haben im Ausschuss ausführlich beraten, warum dieser Antrag gestellt wurde. Es geht vorrangig darum, dass die Bevölkerung - völlig zu Recht - erwartet, dass hier schnell gehandelt wird. Ich begreife nicht und kann auch nicht nachvollziehen, warum sich die Opposition so schwer tut, ein Signal nach Berlin auszusenden, dass wir dieses Problem möglichst schnell lösen.

Eine Anhörung im Niedersächsischen Landtag würde uns zum jetzigen Zeitpunkt überhaupt nicht weiterführen. Es geht darum, ein deutliches Signal zu senden. Wir sind, wenn in Berlin Vorschläge vorliegen, über den Bundesrat an den weiteren Beratungen beteiligt und werden dann auch unsere Vorstellungen einbringen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU)

Herr Tonne möchte antworten. Anderthalb Minuten auch für Sie. Bitte schön!

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Adasch, Ihre Kurzintervention ist Ausdruck dessen, was ich gerade kritisiert habe. Sie haben einfach keine inhaltliche Ansage gemacht, wie Sie sich das vorstellen. Stattdessen verweisen Sie auf Herrn Schröder. Hier im Landtag finde ich den aber nicht. Ob das für eine zukünftige Orientierung die richtige Alternative ist, weiß ich nicht. Außerdem empfehle ich Ihnen: Wenn Sie uns das vorwerfen, dann schauen Sie sich bitte einmal die Pressemitteilungen des Justizministeriums zu diesem Thema allein aus diesem Jahr an! Da findet man wenig mehr als das, was Sie uns gerade vorwerfen wollten.

(Beifall bei der SPD)

Danke schön, Herr Tonne. - Für die FDP-Fraktion hat Herr Professor Dr. Dr. Zielke das Wort.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eines vorweg: Die FDP steht voll und ganz zu dem vorliegenden Antrag, und der bedient keine Stammtischparolen, Herr Adler.

(Beifall bei der FDP und bei der CDU)

Die FDP unterstützt ebenso die Neuordnung der Sicherungsverwahrung, die die Bundesregierung, also FDP und CDU, in Berlin gemeinsam beschlossen hat. Das wird in Gesetzesform gegossen, und der Bundestag wird darüber beraten und entscheiden. Uns geht es mit unserem Antrag darum, dass dies zügig geschieht, damit ein desolater rechtlicher Schwebezustand ein Ende findet.

(Beifall bei der FDP und bei der CDU)

Dennoch: Sorgfältige und ausführliche Beratung sind geboten. Ich will das an einem Teilaspekt erläutern: der sogenannten nachträglichen Sicherungsverwahrung, die seit Juni 2004 Gesetz ist. Damals haben im Bundestag SPD und Grüne dafür gestimmt. Die CDU nicht, weil ihr das Gesetz nicht weit genug ging, und die FDP nicht, weil sie rechtsstaatliche Bedenken hatte.

(Helge Limburg [GRÜNE]: Aha!)

Die Regelung besagt u. a.: Wer wegen Delikten wie Körperverletzung oder räuberischer Erpressung zu mindestens fünf Jahren Haft verurteilt worden ist - egal, ob Ersttäter oder nicht -, bei dem kann nachträglich - also bis kurz vor seiner Entlassung - zeitlich unbegrenzt Sicherungsverwahrung angeordnet werden, wenn die Gesamtwürdigung ergibt, dass der Betroffene - ich zitiere jetzt wörtlich den Gesetzestext - „mit hoher Wahrscheinlichkeit erhebliche Straftaten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden“. Davor hatte es in einigen Bundesländern ähnliche Vorläufergesetze gegeben.

Was hat diese nachträgliche Sicherungsverwahrung gebracht? - 77 Fälle, bei denen in der Vergangenheit nachträgliche Sicherungsverwahrung beantragt worden war und die Betroffenen erfolgreich dagegen geklagt haben, sind wissenschaftlich ausgewertet worden - also Menschen, denen hohe Gefährlichkeit attestiert worden war und die trotzdem freigelassen wurden. Von diesen 77 sind ganze drei erneut so straffällig geworden, dass gegen sie dann Sicherungsverwahrung verhängt wurde. Aber 50 sind komplett straffrei geblieben. Das muss zu denken geben.

Wären etwa durch Schließung sogenannter Schutzlücken alle 77 weggesperrt worden, dann wären drei schwere Straftaten verhindert, aber 50 Personen prophylaktisch zu Unrecht eingesperrt worden.

Man mag an den Zahlen kritteln. Aber wenn die Trennschärfe von Gefährlichkeitsprognosen so offensichtlich dürftig ist - und da bin ich wiederum

ganz in der Nähe von Herrn Adler -, dann sind wir hier schon in einem nahezu unauflösbaren Zielkonflikt zwischen der Sicherheit der Bevölkerung einerseits und dem Fundament unseres Rechtsstaats andererseits, dass niemand auf bloßen Verdacht das Menschenrecht auf Freiheit genommen werden darf.

Ich wünsche mir vom Bundesgesetzgeber eine weise Entscheidung. Leicht wird sie nicht.

Danke.