Protokoll der Sitzung vom 19.08.2016

Aber wir wollen noch mehr erreichen. Zum einen agieren wir gemeinsam mit Brandenburg bundesweit als Vorreiter mit einer Bundesratsinitiative zur Änderung des deutschen Richtergesetzes, um auch im Referendariat die Vereinbarkeit von Familie und Ausbildung zu verbessern. Wir wollen das durch eine Öffnungsklausel erreichen, die es den

einzelnen Ländern gestattet, ein familienfreundliches Teilzeitreferendariat einzuführen. Wir wollen davon zeitnah in Niedersachsen Gebrauch machen. Wir sind zuversichtlich, dass unser Gesetzentwurf, über dessen Einbringung der Bundesrat voraussichtlich am 23. September entscheiden wird, eine Mehrheit im Bundesrat finden und auch im Deutschen Bundestag auf breite Zustimmung stoßen wird.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Damit würde es den Referendarinnen und Referendaren, die minderjährige Kinder oder pflegebedürftige Angehörige zu versorgen haben, erstmals ermöglicht, ihren Vorbereitungsdienst künftig über einen längeren Zeitraum zu erstrecken und die Arbeitszeit flexibler einzuteilen. Es wäre ein großer Schritt zu einer besseren Vereinbarkeit von Familie und Berufsausbildung und zugleich auch zur Sicherung qualifizierten Nachwuchses für die Justiz, für die Verwaltung und für die Anwaltschaft.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Zum anderen dürfen die juristischen Staatsprüfungen bei Nichtbestehen einmal wiederholt werden. Eine nochmalige Wiederholung der Zweiten Staatsprüfung kann das Justizministerium nur gestatten, wenn eine außergewöhnliche Beeinträchtigung der Referendarin oder des Referendars im zweiten Prüfungsverfahren vorgelegen hat. Damit eröffnet Niedersachsen im Ländervergleich lediglich einen sehr engen Anwendungsbereich für die zweite Wiederholungsprüfung. Die entsprechenden Regelungen der meisten anderen Länder stellen dagegen prognostisch darauf ab, ob eine hinreichende Aussicht auf Erfolg der nochmaligen Wiederholungsprüfung besteht. Es ist daher sinnvoll, dass eine Änderung der bisherigen Regelung geprüft wird. Die Zweite Staatsprüfung ist zu wichtig, als dass nicht überlegt werden sollte, auch in Niedersachsen eine zweite Chance zu gewähren, wenn gute Aussichten bestehen, die Prüfung mit Erfolg abzuschließen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Drittens. Neben der weiterhin unverzichtbaren Fachkompetenz kommt auch den sozialen Kulturtechniken, den heute schon angesprochenen Soft Skills, in allen juristischen Berufen eine immer größere Bedeutung zu. So gehören neben der außergerichtlichen Streitbeilegung und anderen Formen der Konfliktlösung weitere Fähigkeiten wie das juristische Argumentationsgeschick, die Verhandlungskompetenz und das notwendige Einfüh

lungsvermögen heute zum normalen Handwerkszeug eines guten Juristen und einer guten Juristin. Das muss in den Ausbildungsplänen für den juristischen Vorbereitungsdienst mehr Einfluss finden, als es bisher der Fall ist. Deswegen begrüßt die Landesregierung den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und freut sich sehr auf eine konstruktive Beratung mit allen Fraktionen im Ausschuss.

Vielen Dank.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)

Vielen Dank, Frau Ministerin. - Wir sind am Ende der Beratung dieses Punktes.

Wir kommen zur Ausschussüberweisung.

Vorgesehen ist die Überweisung an den Ausschuss für Rechts- und Verfassungsfragen. Wer dem zustimmen möchte, den bitte ich um ein Handzeichen. - Das ist so beschlossen.

Ich rufe auf den

Tagesordnungspunkt 33: Erste Beratung: Kinderarmut strukturell entgegenwirken: Familienleistungen reformieren und Teilhabe sicherstellen - Antrag der Fraktion der SPD und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen - Drs. 17/6246

Der Einbringung erfolgt durch den Kollegen Thomas Schremmer, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Strukturelle Kinderarmut in Deutschland hat trotz verbesserter wirtschaftlicher Lage weiter auf hohem Niveau zugenommen oder stagniert zumindest in diesem Jahr. Jedes fünfte Kind in Deutschland ist von Armut bedroht. Jedes sechste Kind ist von SGB-II-Leistungen abhängig. Das sind in der Republik 1,5 Millionen und in Niedersachsen ungefähr 180 000.

Nun mögen einige meinen, Kinderarmut gibt es in Deutschland nicht. Oft wird gesagt, anderen geht es vielleicht schlechter. Der Begriff Kinderarmut taucht in der Koalitionsvereinbarung auf Bundesebene z. B. gar nicht auf. Ich kann Ihnen sagen, mit Ignoranz lebt es sich vielleicht besser, die ge

sellschaftliche Realität verändert sich dadurch aber nicht, verehrte Kolleginnen und Kollegen. Das kann man auch gelegentlich in der Zeitung lesen. In einer Überschrift im Handelsblatt vom 6. Juli wird Kinderarmut als Deutschlands Schande bezeichnet.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, von Armut bedrohte Kinder kommen häufiger hungrig zu Schule, haben kein eigenes Kinderzimmer und werden in Bezug auf Kleidung als anders wahrgenommen. Die kulturelle Teilhabe - z. B. in Musikschulen und Sportvereinen - ist häufig eingeschränkt. Diese materielle Armut schüchtert ein und sorgt dauerhaft für mangelnde Teilhabechancen und natürlich auch für schlechtere Bildungsabschlüsse. Sie alle kennen das: Kinder aus gut situierten Familien gehen zu 80 % auf die Hochschulen. Aus Familien mit schlechteren Einkommensverhältnissen ist das nur zu 30 % der Fall.

Ich will noch zwei wesentliche Realitäten nennen. Betroffen sind insbesondere Kinder von Alleinerziehenden. Dass das überwiegend Frauen sind, ist auch kein Geheimnis. Ich bin dem Kollegen Winkelmann relativ dankbar, weil er hier eben deutlich gemacht hat, woran das auch liegen kann. Er hat gesagt, Frauen haben das Privileg der Gebärfähigkeit und müssen entlastet werden. Allein diese Tatsache sorgt schon dafür, dass man weiß, wo das Problem eigentlich liegt. Viele dieser Alleinerziehenden bekommen keinen Unterhalt von ihren Partnern, die die Kinder sozusagen mit zur Welt gebracht haben.

(Helge Limburg [GRÜNE]: Ex-Part- ner!)

Die Alleinerziehenden sind nur zu 61 % erwerbstätig, davon 60 % in Teilzeit. Bei ihnen kann man überhaupt nicht von Entlastung sprechen. Die SGB-II-Quote liegt bei 38 %. Bei sogenannten Normalfamilien liegt sie bei 7,3 %. Das Fazit dieser Geschichte ist: Über das Wohl unserer Kinder entscheidet der Familienstand. - Das ist auch im Jahr 2016 in Deutschland der Fall. Ich finde, das ist kein guter Zustand, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Der zweite Punkt - auch in Deutschland üblich -: Von Kindergeld und Steuervorteilen profitieren überwiegend einkommensstärkere Familien. Durchschnittlich erhalten Gutverdienende pro Kind 270 Euro im Monat. Normalverdienende erhalten das Kindergeld in Höhe von 190 Euro. Diejenigen,

die von Transferleistungen abhängig sind, bekommen durch den Anrechnungsanspruch in der Regel sehr wenig bis gar nichts.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist schlechthin ein gesellschaftlicher, aus meiner Sicht aber eben auch ein wirtschaftlicher Widerspruch, dass in Deutschland Familien- und Erziehungsarbeit umso mehr gefördert wird, je höher das Einkommen ist. Ich finde, das können wir uns auf Dauer nicht leisten.

(Zustimmung bei den GRÜNEN)

Was wollen wir? - Das Bildungs- und Teilhabepaket ist aus unserer Sicht zu bürokratisch und reicht materiell nicht aus. Die evangelische Kirche hat das am Beispiel der Einschulung in diesem Jahr deutlich gemacht. 100 Euro pro Schuljahr reichen nicht aus. Es müsste wesentlich mehr sein.

Deswegen fordern wir, dass der Bund erstens die Regelsätze für Kinder erhöht und zweitens diese Leistungen zusammenfasst und sie eigenständig und möglichst anrechnungsfrei konzipiert, am besten in einer eigenständigen Kindergrundsicherung für alle.

(Zustimmung bei den GRÜNEN)

Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, sieht der Bundesrat übrigens genauso, wie man es seiner Stellungnahme zum sogenannten SGB-IIVereinfachungsgesetz entnehmen kann. Ich zitiere:

„Der Bundesrat fordert die Bundesregierung auf, die Höhe der Regelbedarfe für Kinder … zu überprüfen und die Berechnungsmethode weiterzuentwickeln. Dazu sind neue Maßstäbe für die Bemessung eines kind- und jugendgerechten Existenz- und Teilhabeminimums zu entwickeln, das nicht nur den notwendigen Lebensunterhalt sichert, sondern auch den Bedarf an Bildungs- und Teilhabeleistungen abdeckt.“

Zur Begründung heißt es in dieser Stellungnahme:

„In Deutschland hängen der Zugang zu Bildung und das erreichbare Bildungsniveau von Kindern stark vom sozialen Status und der Einkommenssituation der Eltern ab...“

Deutlicher kann man nicht machen, wie die Situation in Bezug auf die Unterstützung gerade von Kindern aus einkommensschwachen Familien in Deutschland ist. Ich finde, das gehört geändert.

Dazu dient dieser Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)

Zusammenfassend komme ich zum Schluss: Ich finde, wir können es uns gesellschaftlich nicht länger leisten, einen Großteil unserer Kinder einem Armutsrisiko auszusetzen. Eine einheitliche und existenzsichernde Kindergrundsicherung ist in Deutschland überfällig. Ich finde, angesichts der wirtschaftlichen Lage in Deutschland können und sollten wir sie uns auch leisten.

Ich freue mich auf die Beratungen im Ausschuss. Ich bin mir sicher, dass sie sehr spannend werden.

Vielen Dank.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)

Vielen Dank, Herr Schremmer. - Das Wort hat jetzt Frau Abgeordnete Glosemeyer. Bitte schön! Sie haben das Wort.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Schremmer hat schon einiges zu den Zahlen gesagt: Jedes fünfte Kind ist von Armut betroffen. - Ich möchte an dieser Stelle den Armutsbegriff ein wenig definieren. Traditionell wird Armut am Einkommen gemessen. Nach der gebräuchlichsten Statistik lebt jemand an der Grenze zur Armut, wenn er weniger als 60 % des mittleren Einkommens hat. Derzeit sind das 15,5 % der Deutschen. Für Alleinerziehende liegt die Armutsgrenze dabei bei 917 Euro im Monat, für Familien mit Kindern bei 1 926 Euro.

(Vizepräsident Klaus-Peter Bachmann übernimmt den Vorsitz)

Aus der Familienstudie der Bertelsmann Stiftung vom Juli 2016 geht hervor, dass Kinderarmut ganz wesentlich auf die Armut von Alleinerziehenden zurückzuführen ist. Die Armutsgefährdungsquote liegt in kinderreichen Familien bei 27,9 %, bei Alleinerziehenden aber bei 44,2 %. Familien mit so wenig Geld, dass sie als arm oder armutsgefährdet gelten - im vergangenen Jahr waren es 1,5 Millionen bei den unter 15-Jährigen. Das sind den Angaben zufolge 30 000 Kinder mehr als noch im Vorjahr. Diese Werte sind beschämend hoch. Da müssen wir Abhilfe schaffen.

(Zustimmung bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Doch reicht diese Definition aus, um Armut zu definieren? - Ich sage: Nein, das wird dem komplexen Phänomen nicht gerecht. Hierzu gehört mehr, z. B. Chancengerechtigkeit.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Armut gilt bei uns als Stigma, als Diskriminierung. Armut läutet das Gegenteil von Teilhabe ein. Es gibt kaum noch soziale Mobilität. Man bleibt zumeist in der sozialen Schicht, in die man hineingeboren wurde. Ein Abitur als Kind von Arbeitslosengeld-II-Beziehern ist nahezu unmöglich. Bildungschancen sind in Deutschland leider immer noch stark davon abhängig, in welch einer Familie man lebt und wie hoch das Einkommen der Eltern ist. Ein gesundes gemeinsames Mittagessen in der Schule, Nachhilfe, neue Bücher, ein Schulausflug - für die meisten Eltern mit niedrigem Einkommen kaum zu stemmen.

Die Einschulung ist noch keine zwei Wochen her. Viele Eltern haben sich gefragt: Wie schaffe ich es mit dem wenigen Geld, meinem Kind ein schönes Fest zu bereiten, eine große Schultüte, ein cooles Outfit zu ermöglichen? - Etwas, was für viele Eltern kein Problem darstellt, bereitet einem Teil der Mütter und Väter schlaflose Nächte.