Protokoll der Sitzung vom 01.03.2017

Maßstab aller Überlegungen war dabei die Frage, ob der Justizvollzug angemessen mit den Opfern von Straftaten umgeht. Nehmen wir ihre Situation wahr? Bietet die Justiz ihnen ausreichend Schutz und Unterstützung? - Wir haben mit der Stiftung Opferhilfe und zahlreichen engagierten Opferhilfevereinen ein sehr gut funktionierendes Netz. Aber durch die Verurteilung der Täter und die Unterstützung der Opfer im Strafverfahren allein lässt sich der Rechtsfrieden häufig nicht wiederherstellen.

Mit dem Gesetzentwurf greifen wir die Belange von Opfern überall da auf, wo vollzugliche Maßnahmen sie unmittelbar berühren. In der Vollzugsgestaltung werden Fragen von Wiedergutmachung und Verantwortungsübernahme der Gefangenen für ihre Taten und deren Folgen an Bedeutung gewinnen, z. B. durch Trainingsmaßnahmen zur Förderung der Empathiefähigkeit. Opferinteressen werden bei der Gewährung von Lockerungen künftig eine zentrale Rolle spielen. Für die Opfer wird es entlastend sein, zu wissen, wann ein Täter wieder auf freien Fuß gesetzt wird oder wann ihm Vollzugslockerungen gewährt werden. Der Gesetzentwurf begründet deswegen einen entsprechenden Auskunftsanspruch der Opfer gegenüber der Vollzugsbehörde.

Meine Damen und Herren, wie gut eine Wiedereingliederung in das Leben in Freiheit nach einer Haftentlassung gelingt, hängt in ganz entscheidendem Maße vom dem sozialen Empfangsraum ab, in den jemand entlassen wird. Alle Studien belegen, dass die Einbindung in familiäre, berufliche und gesellschaftliche Strukturen entscheidend dazu beitragen kann, ein erneutes Abgleiten in die Kriminalität zu verhindern. Solche Netzwerke kön

nen ihre Wirkung aber nur dann entfalten, wenn sie bei der Entlassung auch tatsächlich zur Verfügung stehen.

Besuche in der Anstalt sind die einzige Möglichkeit für Eheleute, Väter, Mütter und Kinder, sich zu treffen. Um diese Möglichkeit so zu nutzen, dass Beziehungen erhalten bleiben, müssen die Rahmenbedingungen stimmen. Der Gesetzentwurf sieht daher eine Erhöhung des monatlichen Mindestbesuchsanspruchs vor, und zwar von einer Stunde auf vier Stunden im Erwachsenenvollzug sowie von vier auf sechs Stunden im Jugendvollzug. Wie soll teilweise über Jahre der Inhaftierung hinweg eine Familie erhalten bleiben, die sich nur einmal im Monat für eine Stunde begegnen kann?

Bei der Ausgestaltung der Besuche sind zukünftig auch die Lebensverhältnisse der Besucherinnen und Besucher zu berücksichtigen. Denkbar ist etwa die Schaffung von Besuchszeiten für Berufstätige am Nachmittag oder an den Wochenenden.

Ein besonderes Anliegen ist es, minderjährigen Kindern den Vater und die Mutter in ihren jeweiligen Rollen zu erhalten. Dies geschieht, indem die Besuchsräume in den Justizvollzugsanstalten z. B. durch die Einrichtung von Spielecken kindgerecht ausgestaltet werden, um mögliche Ängste der Kinder abzubauen und eine Entfremdung der Inhaftierten zu ihren Kindern zu vermeiden.

Soziale Bindungen werden außerdem durch eine gesetzliche Grundlage für den Langzeitbesuch gefördert. Langzeitbesuche ermöglichen ein mehrstündiges Zusammensein ohne Aufsicht.

Geeignete Gefangene - natürlich ist nicht jeder für einen solchen Langzeitbesuch geeignet - können sich dabei unter Bedingungen, die den Lebensverhältnissen in der Freiheit relativ nahekommen, mit ihren Angehörigen in einem geschützten Raum austauschen. Die Novelle schafft eine Verpflichtung der Vollzugsbehörden, entsprechende Räumlichkeiten vorzuhalten. Sie sind Gott sei Dank in sehr vielen Anstalten auch heute schon vorhanden und werden genutzt.

Meine Damen und Herren, ein nächster wichtiger Aspekt des Gesetzentwurfs betrifft die konsequente Orientierung am Resozialisierungsziel auch in Bezug auf die Arbeit. Wir wissen, dass die Ausübung einer tagesstrukturierenden Beschäftigung das Selbstwertgefühl und auch das Sozialverhalten fördern kann. Der Arbeit kommt im Strafvollzug auch für die Resozialisierung eine ganz gewichtige Rolle zu. Sie ist allerdings nicht immer und

nicht immer für alle Gefangenen das ausschließliche Mittel der Wahl. Soweit andere Maßnahmen, wie z. B. eine gezielte therapeutische Intervention für die Resozialisierung, unerlässlich erscheinen, müssen diese auch im Interesse des Opferschutzes Vorrang haben. Solche therapeutischen Interventionen sind für die Strafgefangenen übrigens meistens anstrengender und weniger beliebt als die Arbeit.

Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird das Verhältnis von Arbeit und Therapiemaßnahmen flexibler gestaltet. Die wirtschaftliche Betätigung der Gefangenen, die Arbeitspflicht, darf nicht länger Vorrang vor allen anderen Resozialisierungsmaßnahmen haben.

(Beifall bei den GRÜNEN und Zu- stimmung bei der SPD)

Die Teilnahme etwa an einer Psychotherapie oder an sozialem Training ist künftig auch während der Arbeitszeit der Gefangenen zuzulassen, wenn dies zur Resozialisierung erforderlich ist.

Meine Damen und Herren, ich bin überzeugt, dass wir mit dieser umfassenden Novelle des Niedersächsischen Justizvollzugsgesetzes auch den Anspruch erfüllen, die Resozialisierung der Strafgefangenen weiter zu verbessern, und damit einen ganz wesentlichen Beitrag zur Sicherheit aller Bürgerinnen und Bürger leisten.

Es hat in diesem Haus schon eine gewisse Tradition, dass bei den Themen des Justizvollzuges Einigkeit unter den Fraktionen herrscht. Zuletzt konnte man dies beim Niedersächsischen Jugendarrestvollzugsgesetz sehen, das hier vor einem Jahr einstimmig verabschiedet wurde. Das wünsche ich auch von Herzen diesem Gesetzentwurf.

Lassen Sie uns gemeinsam - um auf Dostojewski zurückzukommen - den Grad der Zivilisation unserer Gesellschaft ein kleines bisschen erhöhen!

Vielen herzlichen Dank.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)

Vielen Dank, Frau Ministerin. - Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat sich Helge Limburg zu Wort gemeldet. Bitte schön, Herr Limburg!

Vielen Dank, Herr Präsident. - Vielen Dank, Frau Ministerin, für die Einbringung des Gesetzentwurfs. Wir danken Ihnen und Ihrem gesamten Haus für die Erarbeitung dieses wirklich guten Gesetzentwurfs. Ich meine, das ist ein Meilenstein bei der weiteren Verbesserung des Justizvollzugs in unserem schönen Land, meine Damen und Herren.

Der vorliegende Gesetzentwurf hat das zentrale Ziel - die Ministerin hat das gerade gesagt -, soziale Bindungen während der Inhaftierung zu bewahren und zu fördern. Die Einbindung familiärer und beruflicher Belange und sozialer Kontakte soll erleichtert und verbessert werden.

Ein zentraler Schwerpunkt ist die Erhaltung familiärer Kontakte. Wir haben gegenwärtig die Situation in unserem Sanktionssystem, dass in dem Fall, dass Eltern - in der Mehrzahl sind es Väter - straffällig werden, Kinder de facto immer mitbestraft werden, obwohl sie selbst überhaupt nichts dafür können. Kinder, deren Eltern zu Gefängnisstrafen verurteilt werden, leiden immer unter der Trennung von ihren Elternteilen. Nicht erst seit jetzt, sondern seit vielen Jahren ist es eine Kernaufgabe des Justizvollzugs, diesen Verlust und diese Trennung zu lindern, etwa durch Erhaltung von Kontakt- und Besuchsmöglichkeiten, Kommunikation und Ähnlichem.

Schon jetzt gibt es in vielen Justizvollzugsanstalten Kinderspielzeug und Kinderecken in Besuchsräumen, aber - darauf ist zu Recht hingewiesen worden - wir haben keinen einheitlichen Standard und keine verbindliche gesetzliche Vorgabe. Das soll mit diesem Gesetzentwurf anders werden. Das begrüßen wir ausdrücklich.

(Beifall bei den GRÜNEN und Zu- stimmung bei der SPD)

Der Gesetzentwurf weitet die Besuchszeiten aus. Auch das ist ein wichtiger Punkt, um die spätere Resozialisierung zu erleichtern. Schon jetzt soll der Justizvollzug eventuellen schädlichen Langzeitfolgen des Vollzugs entgegenwirken. Ein Mittel zur Verhinderung schädlicher Folgen können Besuche sein, weil sie der Aufrechterhaltung von Kontakten in die Welt draußen dienen. Je mehr Kontakte vorhanden sind und je dichter das bestehende soziale Netz ist, desto leichter ist es, sich nach der Haftentlassung in der Gesellschaft zurechtzufinden.

Meine Damen und Herren, über viele Jahrzehnte hinweg, im Grunde genommen seit dem Beginn von Gefängnisstrafen, galt der Grundsatz, dass Resozialisierung auch und gerade durch Arbeit erreicht werden kann. Man kann im Luther-Jahr darüber philosophieren, inwieweit das einer protestantischen Arbeitsethik entspringt, aber das ist hier nicht der zentrale Punkt.

Fakt ist, dass die Pflicht zur Arbeit für Strafgefangene auch in der bundesrepublikanischen Justizvollzugsgeschichte immer bestanden hat - in den letzten Jahren auch in Niedersachsen. Die Pflicht zur Arbeit wird durch den vorgelegten Gesetzentwurf nicht abgeschafft. Aber es wird klargestellt - das finden wir sehr gut -, dass die Priorität auf Resozialisierung, auf therapeutischen und sozialtherapeutischen Maßnahmen liegen muss, auch wenn diese in der Arbeitszeit stattfinden. Auch das ist ein wichtiger Baustein, um den Grundgedanken der Resozialisierung im Justizvollzug zu stärken.

Der Gesetzentwurf nimmt aber auch - das ist wirklich innovativ und wichtig - die Interessen der Opfer von Straftaten stärker in den Blick. Was kann man sich Schrecklicheres vorstellen, als wenn man durch die Stadt läuft und plötzlich seinem früheren Peiniger - er hat vielleicht jemanden überfallen und geschlagen, ist gewalttätig geworden, hat vielleicht der Familie und den eigenen Kindern etwas angetan - in der Fußgängerzone völlig überraschend begegnet, während man ihn eigentlich noch hinter Gittern wähnt? Etwas Schrecklicheres ist aus meiner Sicht kaum vorstellbar.

Der Gesetzentwurf stellt sicher, dass die Opfer im Falle von Haftlockerungen oder einer vorzeitigen Haftentlassung eingebunden und informiert werden, damit es zu solchen schrecklichen überraschenden Begegnungen nicht kommt.

Das ist ein insgesamt sehr ausgewogener Gesetzentwurf. In der Tat freue ich mich auf die Ausschussberatung und hoffe auf eine möglichst einvernehmliche Verabschiedung.

Vielen Dank.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)

Vielen Dank, Herr Limburg. - Jetzt hat sich für die FDP-Fraktion Dr. Marco Genthe zu Wort gemeldet. Herr Dr. Genthe, Sie haben das Wort.

Vielen Dank. - Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die FDP-Fraktion begrüßt grundsätzlich eine Modernisierung des Niedersächsischen Justizvollzugsgesetzes. Dieses Vorhaben hatten die Regierungsfraktionen bereits im Koalitionsvertrag vereinbart. Insoweit verwundert es uns schon ein bisschen, dass die Umsetzung erst in den letzten acht Monaten dieser Landesregierung in Angriff genommen wird.

Die Ministerin hat den Koalitionsvertrag angesprochen, in dem eigentlich ein komplettes Resozialisierungsgesetz angedacht worden ist. Wir haben aber bisher nur Stückwerk zu sehen bekommen, das sicherlich keine innovative Resozialisierung bietet.

Die Zielrichtung, die Rechte von Opfern von Straftaten zu stärken, findet selbstverständlich unsere Unterstützung. Alle strafrechtlichen Verfahren sind nach wie vor sehr auf den Straftäter fokussiert, während das Opfer allzu leicht aus dem Blick gerät. Wir begrüßen daher auch, dass die Zahl der hauptamtlichen Opferhelfer in Niedersachsen erhöht werden soll.

Wir begrüßen auch, dass die Auskunftsrechte der Opfer über Freigänge oder sogar über die Entlassung der Täter ausgeweitet werden sollen. Tatsächlich ist es für Opfer eine Horrorvorstellung, dem Täter zufällig wieder auf der Straße zu begegnen. Eine rechtzeitige Information der Betroffenen kann durchaus helfen, unangenehme Situationen zu vermeiden.

Dass im Gesetzentwurf bereits Einwände der Verbände und insbesondere die Angleichung der Ausbildungsbeihilfe von Straf- und Untersuchungsgefangenen berücksichtigt wurden, ist ebenfalls sinnvoll. Gleiches gilt auch für die Anpassung der Vergütung für die Arbeit von Straf- und Untersuchungsgefangenen.

Meine Damen und Herren, durchaus problematisch ist aus meiner Sicht jedoch die Streichung der Disziplinarmaßnahme nach § 95 Abs. 1 Nr. 7, also der Kontaktsperre zu Personen außerhalb der Anstalt. Aus welchem Grund der Instrumentenkasten für die Einwirkung auf die Strafgefangenen an dieser Stelle ausgedünnt werden soll, erschließt sich mir nicht. Im Einzelfall - insbesondere am Anfang - kann eine Kontaktsperre durchaus der Resozialisierung dienen. Hier sind sicher noch eine Anhörung der Verbände und eine Diskussion im Rechtsausschuss notwendig.

Außerdem, meine Damen und Herren, sind die Vorschriften hinsichtlich einer Videoüberwachung der Hafträume zu diskutieren. Die Landesbeauftragte für den Datenschutz ist wegen der zu allgemeinen Formulierung an dieser Stelle ebenfalls noch nicht zufrieden. Ich habe sehr viel Sympathie dafür, diese Überwachung grundsätzlich offen zu gestalten.

Die Erweiterung der Mindestbesuchszeiten und die Angleichung der Arbeitsentgelte kosten natürlich Geld: nach Auskunft des Ministeriums fast 1 Million Euro. Es bleibt Geheimnis der Justizministerin, woher dieses Geld kommen soll. Die Personaldecke bei den Justizvollzugsbeamten ist bereits dünn, und nicht einmal für eine Anpassung der Vollzugszulage an die Polizeizulage hat es in diesem Justizhaushalt gereicht.

Der Justizministerin ist es auch im fünften Jahr ihrer Amtszeit nicht gelungen, einen Teil der Mehreinnahmen des Landes für die Justiz zu sichern. So bleibt so manche wünschenswerte Fortentwicklung in der Justiz auf der Strecke. Angesichts der nach wie vor angespannten Lage ist das ein schlechtes Signal. Aber ab 2018 wird das ja besser werden.

(Beifall bei der FDP und Zustimmung bei der CDU - Helge Limburg [GRÜ- NE]: Schön, dass Sie sich schon auf unsere zweite Legislaturperiode freu- en, Herr Kollege! Das geht nicht nur Ihnen so!)

Vielen Dank, Herr Dr. Genthe. - Jetzt hat sich Marco Brunotte für die SPD-Fraktion zu Wort gemeldet. Sie haben das Wort.

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Genthe, ich bin mir nicht sicher, ob es eher ein Versprechen oder eine Drohung war, als Sie auf das Jahr 2018 abzielten. Schwarz-Gelb hat dem Vollzug Privatisierung und Lohndrückerei angetan. Das drückt gerade nicht Wertschätzung für Kolleginnen und Kollegen aus, die im Justizvollzugsdienst für das Land tätig sind. Sie haben vielmehr gezeigt, dass Sie mit ihnen nicht zusammenarbeiten wollen. Von daher, muss ich sagen, verstehe ich Ihre Aussagen zum Schluss Ihrer Rede gar nicht. Diese Landesregierung hat da ein klares Koordinatenkreuz.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Wenn Sie von Stückwerk reden, stellt sich die Frage, warum es bei Ihnen in zehn Jahren nicht funktioniert hat, viele Dinge, die erforderlich waren, in Gesetzen umzusetzen.

(Christian Dürr [FDP]: Bei Ihnen funk- tioniert gar nichts!)

- Ich kann mir vorstellen, Herr Dürr, dass Sie das nicht verstehen.

(Christian Dürr [FDP]: Das Problem ist, dass das Land nicht richtig funkti- oniert!)