Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist ein Jahr vergangen, seitdem die CDU-geführte Landesregierung zu Recht abgewählt wurde.
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN - Norbert Böhlke [CDU]: Das wird von vielen schon bedauert!)
Dennoch scheint es nach Ihren Ausführungen, Herr Focke, erforderlich zu sein, Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU-Fraktion, an die niedersächsische Abschiebepraxis unter Ihrer Regierungszeit zu erinnern.
Es kam nicht selten vor, dass in der Nacht plötzlich und unerwartet die Polizei, die Ausländerbehörde und oft auch gleich der Schlüsseldienst mit vor der Tür standen. Familien wurden schlaftrunken und völlig überraschend aus ihren Betten geholt. Nicht einmal auf Kinder wurde Rücksicht genommen.
Muss ich Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, wirklich an den Fall von Elvira Gashi erinnern, an die junge Frau, die Mutter von zwei Kindern, die in Deutschland zur Schule ging und 2009 ohne Vorankündigung nachts von Zuhause abgeholt und in den Kosovo gebracht wurde?
Muss ich Sie wirklich an den Fall Gazale Salame erinnern: hochschwanger getrennt vom Rest der Familie abgeschoben? - Das Trauma Ihrer Regierungszeit schlechthin.
Meine Damen und Herren, diese entwürdigende und respektlose Abschiebepraxis der Vergangenheit haben wir nach dem Regierungswechsel beendet.
In Niedersachsen kündigen wir heute grundsätzlich jeden Abschiebungstermin an, und es werden grundsätzlich keine Familien mehr getrennt.
Die rechtzeitige Bekanntgabe der konkreten Termine, zu denen sich die Ausreisepflichtigen für den Transfer zum Flughafen oder zur Grenzübergangsstelle bereithalten müssen, hat in der neuen Rückführungspraxis unserer Landesregierung absolute Priorität.
Natürlich zahlt das Land Niedersachsen seit dem Regierungsantritt der rot-grünen Koalition - im Gegensatz zur Vorgängerregierung - für spätere Flugverbindungen auch höhere Ticketpreise oder für höhere Personalkosten, wenn dies für die Betroffenen zu einem humaneren Ablauf führt.
Meine Damen und Herren, wir tun auch alles erdenklich Mögliche, um Abschiebungen vor 6 Uhr zu vermeiden. Deswegen bleibt auch der Satz richtig: Nächtliche Abschiebungen, wie wir sie bislang kannten, gehören der Vergangenheit an.
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN - Ulf Thiele [CDU]: Sie wer- den sich doch jetzt nicht mit Wort- klauberei herausreden! - Reinhold Hilbers [CDU]: Billige Versuche, sich herauszureden!)
Bei allem, was wir im Interesse der Menschlichkeit und aus Respekt vor der Menschlichkeit verändert und verbessert haben: Es gibt Situationen, in denen wir nicht alleine handeln oder nicht einmal hauptverantwortlich sind, Situationen, in denen wir nicht können oder dürfen, was wir gerne wollen.
(Zuruf von Reinhold Hilbers [CDU] - Gegenrufe von der SPD: Hören Sie doch einfach einmal zu! Dann können Sie etwas lernen! - Man kann den Un- terschied verstehen, wenn man will!)
Nehmen wir z. B. das sogenannte Dublin-Verfahren! Dahinter steht eine EU-Rechtsverordnung - das wissen Sie -, die in der gesamten EU unmittelbar und direkt gilt. Sie lässt keinen Spielraum für nationale Gesetzgebung.
Sie ist wesentlicher Bestandteil des gemeinsamen europäischen Asylsystems. Danach besteht ein Recht auf Asylverfahren in dem europäischen Land, in das als Erstes eingereist wird. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ist hier die entscheidende Stelle. Es koordiniert die Rückführung in diese Länder aus der Bundesrepublik mit dem jeweiligen Zielstaat und gibt am Ende - meine Damen und Herren, Obacht! - Ort und Zeit der Übergabe der Menschen vor.
Daraus ergeben sich Zwänge für die niedersächsischen Behörden, die im Rahmen der Amtshilfe - ich betone: nur im Rahmen der Amtshilfe - die Rückführung organisieren.
- Zu den Zahlen komme ich später. - Die Auswahl zur Verfügung stehender Flüge reduziert sich durch die Vorgaben ebenso erheblich wie der mögliche Zeitraum für eine entsprechende Abholung.
Bei den sogenannten Frontex-Sammelchartermaßnahmen ist es die Bundespolizei, die Abflugzeiten und Abflughäfen vorgibt. Die niedersächsischen Behörden haben auch hier keinen Einfluss.
In manchen Fällen sind eine Sicherheitsbegleitung oder eine ärztliche Begleitung während des Fluges zwingend erforderlich. In diesen Fällen macht das BAMF - auch das zur Erinnerung - zur Bedingung bei der Rückführung, dass die Begleitpersonen
Die aufnehmenden EU-Staaten ihrerseits geben regelmäßig eine Ankunftszeit dort vor, die den Spielraum für die Organisation der Rückführung ebenfalls erheblich reduziert.
Meine Damen und Herren, in solchen Fallkonstellationen sind den niedersächsischen Behörden die Hände gebunden. Aber - und das ist der Unterschied - wir geben uns damit nicht zufrieden.
Am vergangenen Montag habe ich beispielsweise den Bundesinnenminister eindringlich gebeten, zu prüfen, ob auf die Bedingungen, die der Bund bei der Rückführung von Personen unter Begleitung stellt, nicht verzichtet werden kann. Ich spreche mit dem BAMF darüber, wie es auf die Aufnahmeländer mit dem Ziel flexiblerer Ankunftszeiten einwirken kann. Wir nehmen Kontakt mit den in Frage kommenden Fluggesellschaften auf, um ihre Auflagen und Beschränkungen zu reduzieren. Außerdem versuchen die engagierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter meines Ministeriums und der Ausländerbehörden in jedem humanitär besonders heiklen DÜ-Fall, auf das BAMF einzuwirken - leider nicht oft mit Erfolg.
Neben diesen DÜ-Fällen stehen die Fälle, in denen wir selbst als Land Niedersachsen eine Abschiebung nach dem Aufenthaltsgesetz vornehmen. Hier nutzen wir unseren Spielraum weitestmöglich aus. Dazu folgende Zahlen - lieber Herr Focke, hier hilft sinnentnehmendes Zuhören und Lesen -:
Im ersten rot-grünen Regierungsjahr, 2013, sind die Asylbewerberzahlen deutschlandweit enorm gestiegen, um bis zu 60 %. Die Abschiebungen aus Niedersachsen sind aber im gleichen Zeitraum zurückgegangen, und zwar um über 20 %, um 95 auf 348. Die Dublin-Überstellungen - das ist die andere Seite der Medaille - sind gleichzeitig um über 60 % gestiegen, um 181 auf 301. Führen Sie sich das bitte noch einmal vor Augen: gleichzeitig ein deutlicher Rückgang der von uns zu verantwortenden Abschiebungen und mehr als doppelt so viele Dublin-Überführungen - und das bei einem enormen Anstieg der Asylbewerberzahlen.
Im Jahre 2013 gab es insgesamt - inklusive Dublin - 1 862 Abschiebeersuchen. Bei 100 von diesen 1 862 Ersuchen - lieber Herr Focke, es handelt sich um Ersuchen - musste aufgrund der Flugzei
Nach den mir vorgelegten Informationen sind 13 - in Worten: dreizehn - von diesen 100 Fällen am Ende tatsächlich und auf niedersächsische Veranlassung hin erfolgt. Dreizehn! An dieser Zahl kann jeder - auch hier im Plenarsaal - erkennen, wie intensiv und erfolgreich wir uns unter Ausschöpfung aller unserer Möglichkeiten dafür einsetzen, Abschiebungen vor 6 Uhr morgens zu vermeiden.