Es wäre gleichwohl falsch, Skepsis und Kritik in unserer Gesellschaft an der Entwicklung der Europäischen Union einfach nur abzutun. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Gerade die engagiertesten Freundinnen und Freunde der europäischen Einigung müssen das größte Interesse an einer positiven weiteren Entwicklung haben.
An dieser Stelle gibt es in den nächsten Jahren manches zu tun. Wenn es heißt, Europa erreiche nicht mehr die Herzen der Bürgerinnen und Bürger, übersetze ich diese, wie ich finde, zutreffende Beobachtung für mich so: Europa muss mehr sein als nur ein ökonomisches Projekt, Europa muss mehr sein als nur ein Binnenmarkt, Europa muss Ziele für die nachhaltige und soziale Entwicklung einer europäischen Gesellschaft haben, und Europa muss diese Ziele auch Stück für Stück konkret umsetzen.
Es gibt, so meine ich, viele Beispiele aus den vergangenen Jahren dafür, dass vor allem die Europäische Kommission der Entwicklung des Binnenmarktes und des Wettbewerbs zu viel und anderen Gesichtspunkten zu wenig Augenmerk geschenkt hat. In Niedersachsen denken wir vor allem an den mehr als ein Jahrzehnt tobenden Streit um das VW-Gesetz. Zur gleichen Zeit, als sich der Volkswagenkonzern auf der Grundlage von Mitbestimmung und sozialer Verantwortung, aber auch der Anteilseignerschaft des Landes Niedersachsen immer erfolgreicher entwickelt hat und heute der größte private Arbeitgeber in ganz Europa ist, wurden diese Grundlagen durch die Europäische Kommission unter Hinweis auf die Freiheit des Kapitalmarktes angegriffen. Wir sind miteinander sehr froh, dass diese Auseinandersetzung mithilfe des Europäischen Gerichtshofes mittlerweile beendet ist. Aber neue Freunde hat sich Europa damit in Niedersachsen gewiss nicht gemacht. So etwas darf sich nicht wiederholen, meine Damen und Herren!
Ein zweites Beispiel: Vor wenigen Wochen haben wir einen Streit zwischen der Bundesrepublik und der Europäischen Kommission zur Zukunft der
energieintensiven Industrie in Deutschland erlebt. Die ursprünglichen Vorgaben der Kommission hätten gerade bei uns in Niedersachsen Tausende von Arbeitsplätzen gefährdet: bei der Salzgitter AG ebenso wie bei Dow Deutschland in Stade, der Nordenhamer Zinkhütte oder vielen anderen Unternehmen. Ich bin sehr froh, dass es der Bundesregierung gelungen ist, doch noch ein verträgliches Ergebnis zu erzielen, und ich finde, ihr Engagement und ihr Verhandlungsgeschick in dieser Angelegenheit verdienen jede Anerkennung.
Aber die Europäische Kommission ist zu fragen: Wem in Europa wäre denn eigentlich damit gedient gewesen, wenn es bei den ursprünglichen Absichten geblieben wäre? Die Industrie in Deutschland und in Niedersachsen ist nach meiner festen Überzeugung nicht Teil der Probleme in Europa, sie ist Teil der Lösung, und daran sollte sich auch Europa erinnern.
Europa darf keinen Tunnelblick entwickeln, der sich nur auf Binnenmarkt und Wettbewerb richtet. Europa muss sich mehr als früher als eine Wertegemeinschaft profilieren, als eine Gemeinschaft, die sich für die nachhaltige Entwicklung, für Solidarität und für Chancengleichheit einsetzt, in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union, aber auch weltweit.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Jugendarbeitslosigkeit in Südeuropa ist unverändert dramatisch. In einzelnen Mitgliedstaaten beträgt sie bis zu 60 %. Das mag auf den ersten Blick für uns in Deutschland durchaus Vorteile haben, machen sich doch deswegen junge qualifizierte Menschen aus Südeuropa auf den Weg nach Niedersachsen. Auf den zweiten Blick ist eine solche Entwicklung aber verhängnisvoll. In einer europäischen Gesellschaft, in der sich eine ganze Generation ohne jede Chance fühlt, wird auch der Glaube an die Demokratie und an eine gemeinsame europäische Zukunft erschüttert. Deswegen ist es nicht akzeptabel, wenn Europa weiterhin den jungen Menschen in Südeuropa die kalte Schulter zeigt.
Lassen Sie mich ein anderes Beispiel erwähnen: Wo auf der Welt besteht denn die Chance, den Klimaschutz voranzutreiben, wenn nicht bei uns in Europa? Aber nach vielen guten Vorsätzen in den vergangenen Jahren erleben wir derzeit einen eher
leisen Rückzug. Die Folgen spüren wir auch in Niedersachsen, wenn z. B. moderne Gaskraftwerke vom Netz genommen werden, weil sie nicht mehr genügend Gewinn abwerfen. Umgekehrt pusten auch bei uns und in anderen europäischen Ländern alte Kohlekraftwerke unvermindert CO2 in die Atmosphäre. Der mit allen guten Absichten ins Leben gerufene Handel für CO2-Zertifikate funktioniert nicht, die Preise sind „im Keller“. Wem ernsthaft am Klimaschutz gelegen ist, wer insbesondere auch die deutsche Energiewende mit Erfolg weiterführen will, der muss sich energisch für eine Reform des CO2-Handels auf der europäischen Ebene einsetzen, meine Damen und Herren!
Lassen Sie mich ein drittes Beispiel erwähnen, dessen Bedeutung wir allmählich zu erahnen beginnen. Ein substanzielles Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten von Amerika würde weit mehr als nur einige Zölle hüben und drüben beseitigen. Tatsächlich würden zwei Wirtschaftsräume gemeinsame Regeln aufstellen, die zusammen sage und schreibe 70 % des Welthandels ausmachen.
Man muss kein Prophet sein, um zu erahnen, dass auf dieser Grundlage die Maßstäbe auch für ganz andere Volkswirtschaften gesetzt würden. TTIP ist also eine Chance - eine Chance zur Reduzierung von Kosten und eine Chance, gemeinsame Normen und Standards zu finden.
Das sind die positiven Seiten. TTIP kann sich aber auch als ein Risiko erweisen. Meine Damen und Herren, Arbeitnehmerschutzrechte und Verbraucherschutz dürfen nicht auf dem Altar des freien Handels geopfert werden.
Sie sind Ausdruck unseres Bildes einer Gesellschaft, in der wir leben wollen. Deswegen ist es richtig, genau diese Fragen zu verhandeln. Genauso wichtig ist es aber, diese Verhandlungen mit äußerster Aufmerksamkeit zu verfolgen und sie zum Gegenstand einer breiten und auch öffentlichen Diskussion zu machen.
Das starke und immer größer werdende Europa hat eine große Verantwortung übernommen. Diese Verantwortung geht auch - das müssen wir uns
Ich bin, wie Sie wissen, in der vergangenen Woche an der Spitze einer großen Wirtschaftsdelegation in der Türkei gewesen.
In vielen Treffen haben meine Gesprächspartner ihre Sorge zum Ausdruck gebracht, wie sich denn wohl die wirtschaftliche Entwicklung in ihrem Land weiter darstellen könnte, wenn Europa und die USA gewissermaßen einen Zaun um einen gewaltigen Block des Welthandels errichten würden. Daran zeigt sich: Ein starkes Europa muss sich seiner Verantwortung für die eigenen Mitgliedstaaten, aber auch weit darüber hinaus sehr wohl bewusst sein.
Europa habe die Herzen seiner Bürgerinnen und Bürger verloren - meine sehr verehrten Damen und Herren, ich finde, diesen Hinweis müssen wir auch in einer anderen Hinsicht sehr ernst nehmen. Dass Bürgerinnen und Bürger die Meinungsbildung und die Entscheidungsfindung der europäischen Politik nicht immer und überall ohne Weiteres nachvollziehen können, kann ich gut verstehen - mir selbst geht es manchmal ähnlich. EU-Kommissare haben beispielsweise noch nicht einmal ein eigenes, unmittelbares Weisungsrecht gegenüber der eigenen Generaldirektion, sie müssen dafür erst einen Beschluss der gesamten Kommission herbeiführen.
Ich glaube, meine sehr verehrten Damen und Herren, Europa würde mehr Demokratie guttun. Und es würde Europa auch guttun, wenn einzelne Persönlichkeiten mit der europäischen Politik identifiziert werden könnten. Auch so entsteht Bindung bei Wählerinnen und Wählern.
Deswegen begrüße ich es sehr, dass der nächste Präsident oder die nächste Präsidentin der Europäischen Kommission nicht mehr hinter den verschlossenen Türen des Europäischen Rates, sondern in parlamentarischer Verantwortung und öffentlicher Sitzung von den Abgeordneten des nächsten Europäischen Parlaments gewählt wird.
Und es sollte selbstverständlich sein, dass es sich dabei um diejenigen Kandidaten handelt, mit denen die Parteien jetzt gerade bei den Wählerinnen und Wählern werben.
Europa braucht mehr Vertrauen, Europa darf Vertrauen nicht verspielen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Und noch etwas würde Europa guttun: gelegentlich mehr Selbstbeschränkung, mehr Zurückhaltung, mehr Bescheidenheit. Grundlage des europäischen Einigungsprozesses ist nicht der Gedanke an einen alles regelnden europäischen Zentralstaat.
Ich persönlich stände einer solchen Vorstellung auch einigermaßen kritisch gegenüber. Gerade in Deutschland haben wir sehr gute Erfahrungen damit gemacht, Verantwortung zu delegieren, und der Föderalismus in Deutschland ist nach meiner festen Überzeugung einer der Erfolgsfaktoren für die herausragende Entwicklung unseres Landes.
Mit diesem Bild eines Staates und einer Staatengemeinschaft, die sich der Subsidiarität verpflichtet fühlen, verträgt es sich nicht, wenn immer mehr Sachverhalte ohne Rücksicht auf unterschiedliche Gegebenheiten in den einzelnen Teilen Europas über einen Kamm geschert werden. Ich bin überzeugt davon: Für die weitere europäische Einigung ist es von zentraler Bedeutung, dass sich die Europäische Union sehr viel stärker der Subsidiarität verpflichtet fühlt, als dies bisher geschehen ist.
Ich habe übrigens bei zahlreichen Gesprächen mit europäischen Nachbarn in den vergangenen Monaten den Eindruck gewonnen, dass diese Haltung weit über Deutschland hinaus anzutreffen ist.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Wahlen zum Europäischen Parlament - ich sagte es - sind für uns in Niedersachsen von allergrößter Bedeutung. Wir sind mit Europa untrennbar verbunden. Auch die Entwicklung bei uns in Niedersachsen wird entscheidend durch Europa geprägt. Wir wissen, was wir an Europa haben. Und heute wird sich ein weiteres Mal der Niedersächsische Landtag einmütig zur europäischen Einigung bekennen. Dafür danke ich Ihnen sehr.
Europa ist nicht fertig, und Europa ist nicht perfekt. Es bedarf eines hohen Engagements, um die weitere politische Entwicklung in Europa in die richtige Richtung zu lenken. Daran wird sich die Landesregierung, aber, ich bin sicher, auch die Landespolitik insgesamt mit großer Intensität und großem Engagement beteiligen.
Davor steht aber in den nächsten Tagen nach meiner Überzeugung noch etwas ganz anderes: für Europa zu werben. Europa hat uns in Niedersachsen viel gebracht. Europa ist die Grundlage unserer Zukunft. Lassen Sie uns deswegen überall mit Engagement und mit Leidenschaft gemeinsam - bei allen sonstigen Unterschieden - für Europa werben! Meine Damen und Herren, die europäische Einigung hat es verdient!
(Starker, nicht enden wollender Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN und Zustimmung von Horst Kortlang [FDP])
Meine Damen und Herren, ich stelle fest, dass die Regierungserklärung knapp 25 Minuten gedauert hat. Nach unseren Gepflogenheiten erhalten für die nun folgende Aussprache die beiden großen Fraktionen die gleiche Zeit und die beiden kleinen Fraktionen die Hälfte dieser Zeit. Es ergeben sich also folgende Redezeiten: Fraktion der CDU und Fraktion der SPD je 25 Minuten und Fraktion Bündnis 90/Die Grünen sowie Fraktion der FDP je 12,5 Minuten.
Meine Damen und Herren, es liegt eine Wortmeldung der Fraktion der CDU vor. Herr Abgeordneter Thümler, Sie haben das Wort. Bitte sehr!
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Noch zehn Tage, dann wählen die Unionsbürger in Deutschland ein neues Europäisches Parlament. Ich korrigiere Sie ungern, Herr Ministerpräsident, und ich will auch nicht als kleinkariert gelten, aber das bezieht sich tatsächlich auf Deutschland; denn die meisten anderen Nationalstaaten wählen an dem Wochentag, an dem auch sonst immer Parlamentswahlen stattfinden. Die Wahlen beginnen also am 23. Mai und enden an dem darauffolgenden Wochenende.