Protokoll der Sitzung vom 20.01.2015

c) Mehr Chancen durch mehr Zuwanderung - Warum Deutschland qualifizierte Zuwanderung braucht! - Antrag der Fraktion der FDP - Drs. 17/2750

Zu Wort gemeldet hat sich der Vorsitzende der FDP-Fraktion, Christian Dürr. Bitte schön!

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Thema Zuwanderung ist auf der politischen Agenda in Deutschland angekommen. Zum Glück! Die Debatte hat sich in den letzten Monaten gedreht. Das begrüße ich ausdrücklich.

Dass es notwendig ist, einer alternden und schrumpfenden Gesellschaft in Deutschland ent

gegenzutreten, ist mittlerweile allen klar geworden. Ohne eine Nettoeinwanderung von 200 000 Personen im Jahr wird die Zahl der Erwerbstätigen erheblich sinken. Unser Wohlstand ist wegen der demografischen Krise in Gefahr.

Das veranschaulicht folgende Zahl: Um den demografischen Wandel zu bewältigen, müssten die in Deutschland lebenden Frauen im sogenannten gebärfähigen Alter - das ist ein medizinischer Begriff - pro Kopf sieben Kinder bekommen. Ich habe das zu Hause mal mit meiner Frau besprochen,

(Heiterkeit)

aber aus meiner Sicht ist das keine Option, um das ganz klar zu sagen, und das nicht nur, weil die Kinderzimmer nicht ausreichen.

Diese Zahl veranschaulicht: Der Wohlstand hängt von qualifizierter Zuwanderung ab. Deswegen liegen Weltoffenheit und Einwanderung im besten nationalen Interesse, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der FDP)

Die Themenfelder müssen gleichwohl getrennt werden: einerseits gesteuerte Zuwanderung, andererseits das Grundrecht auf Asyl und die humanitäre Verpflichtung, Flüchtlinge aufzunehmen.

Zunächst zum Thema zeitgemäßes Einwanderungskonzept. Die von der vorherigen Bundesregierung begonnene Liberalisierung des Einwanderungsrechts muss fortgesetzt werden. Es muss weiterentwickelt werden zu einem vollständigen und klaren Punktesystem. Die Blue-Card-Grenzen, die viel zu hoch sind, müssen auf ein realistisches Maß gesenkt werden. Ich will betonen: Es geht nicht nur um IT-Spezialisten. Weil wir dem Fachkräftemangel in Handel, Industrie und Handwerk begegnen müssen, geht es auch darum, Menschen in die duale Ausbildung zu bringen.

(Filiz Polat [GRÜNE]: Was haben Sie denn dazu beigetragen?)

Wir stehen hier im Wettbewerb mit anderen Einwanderungsländern. Wir müssen offen für Talente sein und aktiv um sie werben. Das sage ich auch in Richtung des Ministerpräsidenten, der gerade leider nicht da ist. Vielleicht hört sein Stellvertreter zu. Auch der Wirtschaftsminister, der bedauerlicherweise ebenfalls nicht da ist, ist an dieser Stelle betroffen.

(Minister Boris Pistorius: Ich bin da!)

- Sie sind da, Herr Pistorius, das ist schön.

Auch für Niedersachsen gilt der Wettbewerb zwischen den Bundesländern. Deswegen sage ich: Wir brauchen in Niedersachsen Internationalität statt rot-grüne Provinzialität.

(Beifall bei der FDP und bei der CDU)

Es war ein Riesenfehler, dass der Ministerpräsident dem Wirtschaftsminister erlaubt hat, „Innovatives Niedersachsen“ abzuwickeln. Da lagen die Themen Innovation und Ansiedlung ausländischer Unternehmen in einer Hand. Das war ein riesiger Standortvorteil, weil die Ansiedlung natürlich auch zu qualifizierter Zuwanderung nach Niedersachsen geführt hat.

Ich will in Richtung der Grünen sagen - Thema: Forschungsfreiheit -: Natürlich müssen wir uns fragen, warum die Biotechexperten um Deutschland einen Bogen machen und in angelsächsische Länder gehen. Wir müssen diesen Experten, diesen Zuwanderern einen roten Teppich ausrollen. Auch da muss man bei den Grünen die Ideologie endlich abschütteln, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der FDP und bei der CDU)

Ich will jetzt etwas zum zweiten Kreis sagen, nämlich zu Asylbewerbern und Flüchtlingen. Wer bei uns Schutz sucht, hat ein Recht, am sozialen Leben teilzunehmen. Es ist ungerecht und teilweise sogar unmenschlich, dass wir Menschen - Asylbewerber und Flüchtlinge -, die bei uns arbeiten wollen, dazu zwingen, zu Hause in ihren Heimen und Wohnungen zu bleiben oder auf die Straße und zum Einkaufen zu gehen, ohne die Möglichkeit zu haben, von eigener Hände Arbeit zu leben. Das ist aus meiner Sicht nicht sozial gerecht. Viele Flüchtlinge, die derzeit kommen, haben vor allem ein Ziel: Sie wollen von ihrer eigenen Hände Arbeit bei uns leben. Deswegen - wir haben das vorhin schon diskutiert - muss der volle Zugang zum Arbeitsmarkt möglich sein. Auch über Berufsausbildung haben wir vorhin schon gesprochen.

Was den vollen Zugang zum Arbeitsmarkt angeht, will ich ein Beispiel nennen, bei dem ich auch rotgrüne Politiker auffordere, ihre Meinung zu ändern: Es kann nicht sein, dass für Asylbewerber und Flüchtlinge derzeit ein vierjähriges - ein vierjähriges! - Arbeitsverbot besteht bei der Zeitarbeit und bei der Leiharbeit. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist schlicht und einfach unmenschlich. Aus meiner Sicht muss auch hier der volle Zugang gewährleistet werden.

(Beifall bei der FDP)

Ich will an dieser Stelle noch an eine Sache erinnern: Mitte des letzten Jahrzehnts waren es im Rahmen der Innenministerkonferenz regelmäßig der liberale Innenminister Ingo Wolf aus NordrheinWestfalen und der niedersächsische Innenminister Uwe Schünemann, die für die Arbeitsaufnahme von Flüchtlingen gekämpft haben. Es waren sozialdemokratische Innenminister und Ministerpräsidenten, die das regelmäßig verhindert haben. Auch das gehört zur ganzen Wahrheit.

(Beifall bei der FDP und bei der CDU - Filiz Polat [GRÜNE]: Das müssen Sie uns einmal darlegen!)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben Menschen bei uns, die Schutz vor Verfolgung suchen, die hier arbeiten wollen. Sie brauchen faire Chancen, eine Arbeit aufzunehmen. Die allermeisten Menschen, die zu uns kommen, sprechen nicht die deutsche Sprache. Das ist natürlich auch am Arbeitsmarkt ein Hindernis. Es war deshalb - ich will das zum Schluss deutlich sagen - ein Riesenfehler, meine Damen und Herren, diesen Menschen bei den Haushaltsberatungen im Dezember hier im Landtag die deutliche Aufstockung der Mittel für Sprach- und Integrationskurse, die Union und FDP gefordert haben, zu versagen. Gerade einmal 500 000 Euro bei einem 28-Milliarden-Euro

Haushalt war Ihnen dieses Thema wert. Das wird nicht ausreichen.

Liebe Kollegen von den Grünen - ich will die Kollegin Piel und ihre Fraktion da ganz deutlich ansprechen -, es wird nicht ausreichen, in Sonntagsreden über das Schicksal dieser Menschen zu sprechen und ihnen am Montag die Chancen zu versagen, die diese Menschen mehr als verdient haben.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der FDP und bei der CDU)

Vielen Dank, Herr Dürr. - Jetzt hat sich Dr. Christos Pantazis, SPD-Fraktion, zu Wort gemeldet. Bitte schön!

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Vor dem Hintergrund der latent fremdenfeindlichen Demonstrationen, die Anfang Januar auch Niedersachsen erreicht haben - Hannover und gestern Braunschweig seien hier exemplarisch erwähnt -, hat eine sachliche, offene Debatte um Zuwanderung und ihre gesetzliche

Regelung an Fahrt gewonnen. Ich persönlich finde, dass genau eine solche Debatte unserem Land und unserer Gesellschaft, in der Veränderungsbereitschaft geweckt werden muss, nur guttun kann.

Innenminister Pistorius und die Landesbeauftragte für Migration und Teilhabe, Frau Schröder-Köpf, fassten in diesem Zusammenhang die gesellschaftlichen Veränderungen wie folgt richtig zusammen: Klare Zuwanderungsregeln können

Ängste nehmen.

Vizekanzler Gabriel schrieb in einem Gastkommentar für den Tagesspiegel:

„Ein Einwanderungsgesetz fehlt, in dem unabhängig von der Flüchtlingsaufnahme klar ist, wem wir in der Welt ein Angebot machen wollen, zu uns zu kommen, weil wir wirtschaftlich darauf angewiesen sind.“

Vor diesem Hintergrund ist es maßgeblich, dass eine solche Debatte sich nicht in bayerischen Stammtischparolen verliert, sondern hin zur Analyse von Potenzialen und Chancen von Einwanderung bewegt.

(Beifall bei der SPD und Zustimmung bei den GRÜNEN)

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, in unserer Koalitionsvereinbarung „Erneuerung und Zusammenhalt“ haben wir uns darauf verständigt, uns für ein weltoffenes Niedersachsen einzusetzen. Wir wollen Willkommenskultur leben und Zuwanderung erleichtern, weil für uns hinsichtlich der Analyse klar ist: Deutschland ist Einwanderungsland. Einwanderung hat unser Land kulturell, aber auch wirtschaftlich bereichert.

Wirtschaftsminister Lies beispielsweise stellte Anfang des Jahres eindrucksvoll dar, dass für die Zukunft Zuwanderung nicht nur eine Chance, sondern in Anbetracht des durch die demografische Entwicklung ausgelösten Fachkräftemangels und vieler unbesetzter Ausbildungsplätze eine pure Notwendigkeit darstellt. Herr Dürr hat das gerade eben bekräftigt. Mit ihm sind sich der Zentralverband des Deutschen Handwerks, der Deutsche Industrie- und Handelskammertag sowie die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände einig.

Ohne Zuwanderung werden wir Wirtschaftskraft und Wohlstand in unserem Land nicht erhalten können. Vor diesem Hintergrund setzen wir uns erstens für ein Gesetz, das Zuwanderung mit realistischen Anforderungen regelt, zweitens - nicht

erst seit gestern - für eine weitere Erleichterung des Zugangs von Flüchtlingen zum deutschen Arbeitsmarkt und drittens für die bessere Ausschöpfung der Potenziale der Zuwanderer ein.

Nun zu Ihnen, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der FDP: Auch wenn wir bereits im vorletzten Plenum eine Aktuelle Stunde zum Thema „Zuwanderung und Chancen für unser Land“ hatten und der Kern Ihres Zuwanderungskonzepts, beispielsweise ein Punktesystem nach kanadischem Vorbild, keine Neuerung darstellt - im ursprünglichen rot-grünen Entwurf des Zuwanderungsgesetzes Anfang der 2000er-Jahre war dieses bereits vorgesehen -, sondern quasi, wenn ich das einmal so sagen darf, alter Wein in neuen, in Magenta gefärbten Schläuchen ist, kann ich Gemeinsamkeiten mit Ihrem Konzept erkennen. Ich mache Ihnen daher ein Angebot: Lassen Sie uns über die grundsätzliche Zuwanderungskonzeption diskutieren, in einigen Punkten auch streiten, damit unser Land durch gesetzliche Regelung die Zuwanderung zukunftsfest gestalten kann!

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Denn wir teilen die Auffassung, dass wir mehr Chancen durch Zuwanderung haben, weil

Deutschland Zuwanderung schlichtweg braucht.

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, abschließend freuen wir uns - das meine ich ernst -, dass auch Sie, Herr Thümler, und die niedersächsische CDU eine Neupositionierung in der Frage eines Einwanderungsgesetzes vollzogen haben. Infolgedessen appelliere ich an Sie, sofern Sie es ernst meinen, sich mit uns für ein solches bei Ihren Parteifreunden auf Bundesebene, Kauder und de Maizière, einzusetzen. Lassen Sie bitte nicht zu, dass auf Bundesebene konservative Parteipolitik den Blick auf die Realitäten verzerrt! Die Union auf Bundesebene muss die sowohl gesellschaftliche als auch ökonomische Wirklichkeit zur Kenntnis nehmen, dass unser Land, wenn es zukunftsfähig bleiben soll, auch des Instruments einer gesetzlich geregelten Zuwanderung bedarf - wie Sie richtig gesagt haben, Herr Thümler. Die Zukunft wird nicht gemeistert von denen, die am Vergangenen kleben. Deswegen lade ich wie die FDP, so auch Sie zu einem konstruktiven Dialog ein. Lassen Sie uns gemeinsam anpacken und besser machen!

Willy Brandt sagte einst, „dass jede Zeit eigene Antworten will und man auf ihrer Höhe zu sein hat, wenn Gutes bewirkt werden soll“. In diesem Sinne denke ich, dass es Zeit für eine Zuwanderungspoli

tik ist, die nach humanitären, solidarischen und zukunftsorientierten Grundsätzen geregelt ist.