Protokoll der Sitzung vom 19.03.2015

Wir haben Sie gern und ausführlichst informiert. Wenn Sie diese Vorgänge erneut ansprechen und damit offenbar den Eindruck hervorrufen wollen, man könne der Justiz in Niedersachsen nicht mehr vertrauen, dann ist es allerdings dringlich geboten, Ihnen meine Antworten in aller Sachlichkeit noch einmal zu Gehör zu bringen.

Erstens zur Sicherungsverwahrung: In der Vorbemerkung der Mündlichen Anfrage behaupten die Fragesteller, dass in den letzten zwei Jahren wiederholt Sicherungsverwahrte entwichen seien. In der Überschrift ist gar von Ausbrüchen die Rede.

(Helge Limburg [GRÜNE]: Es gab keinen einzigen!)

Das ist sachlich falsch. Vielleicht möchten Sie ja den völlig unzutreffenden Eindruck vermitteln, die Sicherheitslage im Justizvollzug sei so schlecht wie noch nie. Das ist indessen nicht der Fall. Sie, verehrte Abgeordnete dieses Hauses, wissen das auch.

Der Strafvollzug in Niedersachsen belegt in Fragen der Qualität und Sicherheit einen Spitzenplatz in Deutschland. Das ist keine schlichte Behauptung, sondern Ihnen immer wieder mit Zahlen belegt worden.

(Zustimmung bei den GRÜNEN und bei der SPD)

Ein Beispiel: Aus den Einrichtungen des offenen Vollzuges sind im Jahr 2003 noch 124 Gefangene entwichen. 2014 waren es noch 15. Es ist deshalb sachlich und begrifflich falsch, wenn in der Vorbemerkung der Mündlichen Anfrage undifferenziert von wiederholten Entweichungen von Sicherungsverwahrten die Rede ist. Gemeint sind wohl zwei Fälle aus dem vergangenen Jahr, in denen Sicherungsverwahrte nicht aus genehmigten Ausgängen zurückgekehrt sind. Auch hierzu sind Sie bereits

bis ins kleinste Detail im Plenum, im Ausschuss für Rechts- und Verfassungsfragen und im Unterausschuss „Justizvollzug und Straffälligenhilfe“ durch Antworten auf mehrere, zum Teil sehr umfangreiche Kleine Anfragen und durch die Vorlage der Akten unterrichtet worden.

Die Vorbemerkung zur Kleinen Anfrage zeigt, dass es dennoch Defizite gibt. Ich nutze gern die Gelegenheit, solche, wenn es sie denn wirklich gibt, auszuräumen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Fall vom 30. Mai 2014 hat mich - ich gehe davon aus, Sie alle - sehr bewegt. Ein Sicherungsverwahrter der sozialtherapeutischen Abteilung der Justizvollzugsanstalt Lingen hat nach Überzeugung des Landgerichts Osnabrück bei einem Langzeitausgang ein 13-jähriges Mädchen schwer missbraucht. Der Sicherungsverwahrte ist deshalb inzwischen zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und neun Monaten verurteilt worden. Zudem wurde erneut die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.

Der Sicherungsverwahrte war im Vorfeld der Gewährung von vollzugsöffnenden Maßnahmen durch das Prognosezentrum im niedersächsischen Justizvollzug begutachtet worden. Danach und nach dem bisherigen Vollzugsverlauf erschien die Gewährung von vollzugsöffnenden Maßnahmen für die Vollzugsbehörde verantwortbar. Diese Einschätzung wurde von einem externen Sachverständigen mit exzellentem Ruf fast zeitgleich mit dem Versagen des Sicherungsverwahrten bestätigt.

Bis zu der mutmaßlichen Straftat wurden dem Sicherungsverwahrten in einem Zeitraum von knapp zwei Jahren insgesamt 390 Ausgänge gewährt. Dabei handelte es sich um 188 Ausgänge in Begleitung eines Bediensteten der sozialtherapeutischen Abteilung, 169 Ausgänge ohne Begleitung, 10 Ausgänge im Rahmen des Freigangs zur Teilnahme an einer Qualifizierungsmaßnahme und 23 Langzeitausgänge. In all diesen vollzugsöffnenden Maßnahmen hatte sich der Sicherungsverwahrte bewährt.

Meine Damen und Herren, zur Vorbereitung auf ein Leben in sozialer Verantwortung ohne Straftaten gehört, dass neue Verhaltensweisen auch außerhalb der Mauern eingeübt und erprobt werden müssen. Dabei spielen vollzugsöffnende Maßnahmen eine wichtige Rolle, zumal sie die Motivation zur langfristigen Verhaltensänderung

unterstützen können und auch die Suche nach Wohnung, Arbeit und sozialen Kontakten erleichtern. Ohne eine erfolgreiche Erprobung in vollzugsöffnenden Maßnahmen kommt eine Aussetzung der Sicherungsverwahrung zur Bewährung oder sogar die Erledigung der Maßregel in der Regel nicht in Betracht.

Sicherungsverwahrte haben deswegen auf Grundlage des niedersächsischen Sicherungsverwahrungsgesetzes einen Anspruch auf Lockerungen, wenn nicht die Gefahr der Begehung schwerer Straftaten besteht. Da die Sicherungsverwahrung mit dem Ziel zu vollstrecken ist, die Sicherungsverwahrung zu beenden, weil von dem Sicherungsverwahrten keine Gefahr schwerer Straftaten mehr ausgeht, ist das auch in sich konsequent.

Die mit der Behandlung befassten Bediensteten stehen ständig vor der Herausforderung, abschätzbare, aber letztendlich nicht vollständig kalkulierbare Risiken in der Gewährung von Freiheiten und Erprobungsräumen eingehen zu müssen, um Sicherungsverwahrte auf die Entlassung vorzubereiten und zu resozialisieren.

Die Herausforderungen für Sachverständige und für die Bediensteten des Justizvollzugs sind groß. Wie man in dem hier angesprochenen Fall sehen kann, sind Fehlbeurteilungen trotz größter Sorgfalt möglich. Sie sind vor der Perspektive des missbrauchten Mädchens schier unerträglich.

Dank des auch im Bundesvergleich exzellenten Prognoseniveaus, das wir auch seiner konsequenten Entwicklung in den zehn Jahren der Vorgängerregierung verdanken, handelt es sich glücklicherweise um eine sehr seltene Ausnahme.

2014 wurden landesweit aus dem geschlossenen Vollzug heraus 14 404 Ausgänge und 1 287 Urlaube bzw. Langzeitausgänge gewährt. Insgesamt kehrten aus diesen Maßnahmen 15 Personen nicht oder nicht rechtzeitig in den geschlossenen Vollzug zurück. Die Quote der sogenannten Nichtrückkehrer lag bei den Ausgängen bei 0,0903 % und bei den Urlauben bzw. Langzeitausgängen bei 0,15554 %.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, diese Zahlen sprechen für sich und für den niedersächsischen Strafvollzug, auf dessen Arbeit wir mit gutem Grund vertrauen können.

Eine dieser 15 Personen, die ich gerade genannt habe, ist auch der Sicherungsverwahrte, der sich am 2. Oktober 2014 am Rande der Feierlichkeiten zum Tag der Deutschen Einheit am Maschsee

seiner Begleitung entzogen hat und vorübergehend flüchtig war. Er konnte am 8. Oktober 2014 in Göttingen ergriffen werden. Er war nach seinen glaubwürdigen Angaben auf dem Rückweg zu der nahe gelegenen Anstalt in Rosdorf. Anhaltspunkte dafür, dass der Sicherungsverwahrte während der Zeit seiner Abwesenheit Straftaten begangen haben könnte, bestehen nicht.

Meine Damen und Herren, mit der mir gestellten Frage verzerren Sie nicht nur die Wirklichkeit. Sie zeichnen auch ein Bild, als seien aus diesen beiden genannten Fällen keine Konsequenzen gezogen worden. Aus den Unterrichtungen wissen Sie sehr genau, dass es anders ist.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)

Der Vorfall in Lingen hat zu einer umfangreichen Überprüfung nicht nur des Einzelfalls, sondern auch der Therapieverläufe aller in sozialtherapeutischen Abteilungen des Landes untergebrachten Sicherungsverwahrten geführt. In der Folge wurden drei Sicherungsverwahrte aus der sozialtherapeutischen Abteilung der JVA Lingen abgelöst und in die JVA Rosdorf verlegt.

Zu den Ergebnissen der Überprüfung des Einzelfalls sowie zu den Gründen der Verlegungen ist der Unterausschuss Justizvollzug und Straffälligenhilfe in vertraulicher Sitzung umfassend informiert worden.

Meine Damen und Herren, jeder Einzelfall gibt Anlass, etwaige Verbesserungsmöglichkeiten zu erkennen. Das ist selbstverständlich und ein Teil der seit Langem gelebten Praxis des niedersächsischen Justizvollzugs. Es ist sozusagen ein Teil der Kultur des niedersächsischen Justizvollzugs geworden.

In Reaktion auf den Vorfall am 2. Oktober 2014 sind zwei Arbeitsgruppen unter Federführung meines Hauses und unter Beteiligung von mehreren Leiterinnen und Leitern der Justizvollzugseinrichtungen des Landes eingerichtet worden, die unter Hochdruck zwei Allgemeinverfügungen - eine für den Vollzug der Freiheits- und Jugendstrafe und eine für den Vollzug der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung - erarbeitet haben.

Die Allgemeinverfügungen ersetzen die bisherigen Regelungen zum Verfahren zur Anordnung von Lockerungen des Vollzuges und von vollzugsöffnenden Maßnahmen sowie zur Unterbringung im offenen Vollzug vollständig. Diese Bestimmungen waren bisher in den Niedersächsischen Ausfüh

rungsvorschriften für den Strafvollzug und in den bundeseinheitlichen Verwaltungsvorschriften zum Strafvollzugsgesetz sowie in verschiedenen Erlassen ziemlich verstreut geregelt.

Es handelt sich jetzt um sehr komplexe Regelungswerke, die eine enge Abstimmung mit den in den Arbeitsgruppen vertretenen Leiterinnen und Leitern der Justizvollzugseinrichtungen erfordert haben und durch Schulungsmaßnahmen flankiert werden müssen. Die Ergebnisse der Arbeitsgruppen sind allen Leiterinnen und Leitern der niedersächsischen Justizvollzugseinrichtungen am 25. Februar 2015 auf einer Dienstbesprechung vorgestellt worden und sind nach redaktionellen Abstimmungen im Nachgang zu dieser Sitzung gestern von mir gebilligt worden. Für den 25. März 2015 ist eine zentrale Schulungsmaßnahme für die stellvertretenden Anstaltsleitungen zu den neuen Regelungen im Justizministerium geplant. Die Regelungen werden zum 1. April 2015 in Kraft treten.

Gerne stellen wir Ihnen die Regelungen im Unterausschuss „Justizvollzug und Straffälligenhilfe“ vor, und ich hoffe sehr auf ein lebhaftes Interesse von Ihrer Seite.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, für die Sicherungsverwahrten in der Justizvollzugsanstalt Rosdorf ist ergänzend ein gesondertes Risikomanagement entwickelt worden, das durch eine besondere Regelung der Anstalt schon eingeführt wurde und zur Anwendung kommt. Danach sind Sicherungsverwahrte nunmehr verpflichtet, vollzugsöffnende Maßnahmen schon vier Wochen vorher mit der genauen Benennung des Ziels und der Beschreibung des Ablaufs der Maßnahme zu beantragen.

Im Rahmen einer wöchentlich stattfindenden Konferenz wird über die räumlichen, zeitlichen und inhaltlichen Rahmenbedingungen entschieden. Das Ergebnis wird dokumentiert. Die aufsichtführenden bzw. begleitenden Bediensteten fertigen nach Durchführung einer jeden vollzugsöffnenden Maßnahme einen Verhaltensbericht an. Die Maßnahmen werden dann von den Wohngruppenleitungen in Gesprächen mit den Sicherungsverwahrten jeweils nachbereitet.

Sie sehen, meine Damen und Herren: Es wurden in den vergangenen Monaten umfangreiche Maßnahmen ergriffen.

Aber auch aufgrund dieser neuen Regularien werden es immer die Menschen im Strafvollzug sein, die Entscheidungen treffen müssen und die die Verantwortung für Prognosen und die daraus folgenden Entscheidungen tragen müssen. Immer haben sie dabei auch die Folgen ihrer Entscheidungen vor Augen. Denken wir nur an den Vorfall in Lingen! Und dennoch müssen sie im Interesse einer erfolgreichen Resozialisierung über Lockerungen nach bestem Wissen und Gewissen entscheiden, wohl wissend, dass sie leider nicht allwissend sind. Dazu verpflichtet unser Grundgesetz und die hierauf bauende Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes. Das ist gut so.

Für diese Arbeit, die die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Justizvollzuges manchmal nicht schlafen lässt, gebührt ihnen unser aller Dank und Anerkennung. Ich meine, des ganzen Hauses.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich komme nun zur Weitergabe vertraulicher Informationen aus Ermittlungsverfahren.

Es trifft zu, dass in einzelnen Ermittlungsverfahren - u. a. dem gegen den ehemaligen Bundestagsabgeordneten Sebastian Edathy - mehrfach vertrauliche Informationen an die Öffentlichkeit gelangt sind.

Jede Geheimnisverletzung zieht einen Vertrauensverlust nach sich. Das gilt für alle Lebensbereiche. Es darf jedoch nicht sein, dass Verfehlungen einzelner dazu führen, die Integrität der Justiz insgesamt infrage zu stellen.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)

Dem lässt sich nur durch sorgfältige und umfassende Aufklärung entgegenwirken.

Soweit es in dem Ermittlungsverfahren gegen Sebastian Edathy zu Geheimnisverletzungen gekommen ist, gestaltet sich eine Aufklärung allerdings schon deswegen als besonders schwierig, weil der Kreis derjenigen, die Zugang zu diesen Informationen hatten, kaum noch begrenzbar ist. Das sind zunächst die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verschiedener Behörden und Gerichte sowie der Angeklagte selbst und sein Verteidiger. Durch diverse Aktenvorlagen an parlamentarische Gremien des Niedersächsischen Landtags und des Deutschen Bundestags sowie die damit auch befassten Mitarbeiter, Sekretariate usw. - auch vor

Abschluss des Strafverfahrens - ist die Zahl derjenigen, die Zugang zu Informationen hatten, kaum noch rekonstruierbar.

(Jens Nacke [CDU]: Sie haben doch Herrn Lüttig beschuldigt!)

Zur umfassenden Aufklärung der den Verdacht der Verletzung des Dienstgeheimnisses und einer besonderen Geheimhaltungspflicht begründenden Vorfälle wurde und wird bei den niedersächsischen Staatsanwaltschaften eine Vielzahl von Ermittlungen geführt.

Nachdem während der Durchsuchung der Privatwohnung des ehemaligen Bundestagsabgeordneten Sebastian Edathy ein Reporter der Nienburger Lokalzeitung Die Harke erschienen war und Fotos von dem Inneren der Wohnung gefertigt hatte, wurde nicht nur wegen dieses Vorfalls, sondern auch, weil der Reporter möglicherweise vorab über den Termin informiert worden sein könnte, von der Staatsanwaltschaft Hannover unter dem Aktenzeichen 1141 JS 25824/14 ein Ermittlungsverfahren eingeleitet und später an die Staatsanwaltschaft Lüneburg abgegeben. Das Verfahren wurde am 23. Juni 2014 nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt.

In dem Ursprungsverfahren gegen Sebastian Edathy hatte sich die Staatsanwaltschaft Hannover vor der Aufnahme von Ermittlungen mit Schreiben vom 6. Februar 2014 an den Präsidenten des Deutschen Bundestags gewandt, um diesem die von ihr beabsichtigte Verfahrenseinleitung anzuzeigen. Da dieses Schreiben erst am 12. Februar 2014 und zudem in einem geöffneten Briefumschlag bei der Bundestagsverwaltung eintraf, leitete die Staatsanwaltschaft Hannover unter dem Aktenzeichen 1141 UJs 13155/14 ein Ermittlungsverfahren gegen Unbekannt wegen des Verdachts der Verletzung von Dienstgeheimnissen ein. Dieses Verfahren wurde am 23. April 2014 nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt.