Jetzt frage ich Sie, Herr Nacke: Wer ist näher an der Realität: Finnland, Deutschland oder vielleicht die Menschen dort, die flüchten müssen?
Ebenso verhält es sich mit den Sachleistungen, die jetzt wieder diskutiert werden und eingeführt werden sollen - nicht nur, dass wir in Niedersachsen sehr gut wissen, wie diskriminierend sie im alltäglichen Leben für alle diese Menschen gewirkt haben, wie stigmatisierend sie gewirkt haben und wie schnell die Kommunen sie abgeschafft haben, als Herr Innenminister Boris Pistorius ihnen die Möglichkeit dazu gegeben hat.
Sie können sich sicher sein, was diese PullEffekte, diese Anreize, die immer beschworen werden, angeht: Glauben Sie mir, kein Syrer, kein Mensch macht sich auf eine solch gefährliche Reise, um 10 oder 20 Euro mehr in der Tasche zu haben. Das ist zynisch, meine sehr geehrten Damen und Herren.
(Beifall bei den GRÜNEN - Christian Dürr [FDP]: Wir sind gar nicht so weit voneinander entfernt! Wir sind doch inhaltlich gar nicht auseinander!)
(Christian Dürr [FDP]: Das ist das Problem: Künstlich Grenzen ziehen hier im Land! Das ist euer Problem!)
Ich sage Ja zu mehr Pragmatismus und Realismus in der Flüchtlingspolitik. Aber das darf kein falsch verstandener Freifahrtschein für eine „Das darf man ja wohl noch sagen“-Rhetorik sein, meine sehr geehrten Damen und Herren.
(Lebhafter Beifall bei den GRÜNEN - Ulf Thiele [CDU] - zu den GRÜNEN - Wer sich selbst erhöht, der fällt am tiefsten! Das wissen Sie!)
Vielen Dank, Herr Onay. - Der Innenminister hat sich gemeldet. Herr Minister Pistorius, Sie haben das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich weiß es nicht genau, aber es ist, glaube ich, anderthalb Jahre her, dass ich davon gesprochen habe, dass die Flüchtlingspolitik längst zu einer nationalen Aufgabe geworden ist und als solche auch von allen Ebenen wahrgenommen werden muss. Jetzt, anderthalb Jahre später, bei gestiegenen Zahlen, erkennt auch die Bundesregierung das an. Aber eigentlich sollten wir so ehrlich sein und zugeben: Selbst diese Erkenntnis ist schon wieder überholt; denn es ist längst eine europapolitische Herausforderung geworden. Das zeigt gerade die Entwicklung der letzten Tage und Wochen.
Ich will Sie gerne auf eine kurze Reise in die Realität mitnehmen, damit wir alle wissen, wovon wir tatsächlich reden. Ich zitiere aus dem letzten Bericht des BAMF vom 20. August, damit Sie wissen, was da draußen noch auf uns wartet:
„Türkei: UNHCR meldet aktuell 1,8 Millionen syrischer Flüchtlinge. Bis Ende des Jahres werden rund 300 000 Menschen in 25 Flüchtlingslagern und weitere 2,2 Millionen außerhalb, in den urbanen Regionen der Türkei, erwartet. Letztere müssen dort ohne staatliche Unterstützung auskommen.“
„Jordanien: UNHCR erwartet bis Ende 2015 rund 700 000 syrische Flüchtlinge, die jordanische Regierung sogar 1,4 Millionen, 85 % davon außerhalb der Flüchtlingslager. …
Heute Morgen bekomme ich die Meldung, dass man zum gegenwärtigen Zeitpunkt davon ausgeht, dass täglich 4 000 Menschen von den griechischen Ägäis-Inseln auf das Festland übergesetzt werden - täglich! Täglich machen sich 6 000 bis 7 000 Menschen aus Griechenland quasi kaskadenartig auf den Weg Richtung Norden. Afghanistan hat in den letzten Monaten 1 Million Reisepässe ausgestellt. Hunderttausend Menschen werden dort demnächst die Grenzen überschreiten.
Ich will damit sagen: Wir reden längst über die Dimension eines Problems, dem man mit einer Sondersitzung des Niedersächsischen Landtags - ob man sie nun für notwendig hält oder nicht - nicht einmal mehr ansatzweise gerecht wird. Wir reden über Dimensionen, über Zuwachsraten, die noch vor einem Vierteljahr völlig undenkbar waren.
Wenn Sie sich die Zahlen ansehen, die wir aktuell haben, stellen Sie fest, dass allein am letzten Wochenende über 40 000 Menschen über München, über die Grenze Ungarn/Mazedonien gekommen sind. Das sind nicht überwiegend Menschen, die
ihre Herkunft im Balkan haben, um das auch sehr deutlich zu sagen. Das sind Syrer, das sind Afghanen, das sind Iraker, das sind Schwarzafrikaner, aber das sind am allerwenigsten - im Augenblick jedenfalls - Balkan-Flüchtlinge, um auch dies sehr deutlich zu sagen.
Was wir erleben, ist, dass inzwischen mehrere Bundesländer die Segel streichen, weil sie keine Kapazitäten mehr haben. Auch wir haben für 24 Stunden keine gemeldet, weil wir erst wieder einen Zwischenlauf brauchen.
Wir arbeiten inzwischen - muss man sagen - hervorragend mit der Bundeswehr zusammen, nachdem es bis zum Sommer deutlich schwieriger war. Inzwischen funktioniert es. Wir kommen in Kasernen, wir können Notunterkünfte errichten, und wir tun alles, was wir können.
Ich empfinde es - das sage ich Ihnen ganz offen und ehrlich, so wie Sie mich kennen - gegenüber meiner Arbeit in den letzten Monaten als wenig respektvoll, dass Sie glauben, ich bräuchte eine Sondersitzung des Landtages, um meiner Pflicht in diesem Land gerecht zu werden, meine Damen und Herren.
Aber es ist Ihr gutes Recht, eine solche Sitzung zu machen, und ich freue mich immer, wenn ich Sie sehe, noch dazu eine Woche vor der nächsten Plenarsitzung!
- Wir haben nicht hektisch agiert. Wir arbeiten strukturell, besonnen und dynamisch, und zwar mit allen Verantwortlichen zusammen, meine Damen und Herren.
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN - Jens Nacke [CDU]: Das ist schlicht die Unwahrheit, was er hier sagt!)
Wo wären wir denn sonst, meine Damen und Herren, wenn wir so arbeiten würden, wie Sie glauben, uns dafür kritisieren zu müssen?
Ich sage Ihnen mal etwas: Wenn wir so agiert hätten wie Sie bis 2012, dann wären wir längst abgesoffen! Bereits im Jahr 2012 hatten Sie in den
ohne auch nur im Ansatz eine Reaktion zu zeigen, meine Damen und Herren - eine vierfache Überbelegung, und die alte Landesregierung hat nichts unternommen! Das ist die Wahrheit!
Aber, meine Damen und Herren, ich bin ja ein optimistischer, vorwärtsgewandter Mensch. Deswegen sage ich: Darüber können wir uns streiten. Aber das hilft uns in der aktuellen Situation nicht einen Jota weiter. Was wir jetzt brauchen, ist ein Zusammenschluss aller Kräfte auf allen staatlichen Ebenen bis hin zur europäischen. Wir brauchen einen Konsens darüber, dass jetzt gehandelt werden muss
und übrigens nicht geredet, auch vielleicht nicht überall, wo sonst geredet wird. Wir müssen handeln. Wir brauchen Konzepte, und zwar keine, die wir sechs Wochen lang erarbeiten können.
Das tut diese Landesregierung: umsetzen, handeln, Menschen unterbringen und das Beste tun, was wir können.
(Lebhafter Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN - Jens Nacke [CDU]: Sie haben Zeit verschwendet und ver- trödelt! Wie können Sie dann eine solche Rede halten?)