Protokoll der Sitzung vom 18.09.2015

Die Landesregierung gibt sich - übrigens auch der SPD-Landesvorsitzende - an dieser Stelle unverändert Mühe, dass wir Bewegung in die Sache bekommen. Ich glaube, es wäre nicht gut, wenn ich mich jetzt hier in öffentlicher Sitzung über Details auslassen würde. Aber gehen Sie davon aus, dass es sich an dieser Stelle um ein sehr ernst gemeintes Engagement handelt!

Danke schön.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN - Jens Nacke [CDU]: Das war es? Das ist die Botschaft an die Mitarbeiter?)

Meine Damen und Herren, jetzt liegen mir keine weiteren Wortmeldungen vor.

Ich habe zumindest von zwei Fraktionen vernommen, dass man sofortige Abstimmung wünscht. Das deute ich als Antrag dahin gehend, die zweite Beratung über den Antrag heute sofort anzuschließen. Der guten Ordnung halber frage ich gleichwohl an, ob für den Antrag und damit auch für den dazu vorgelegten Änderungsantrag Ausschussüberweisung beantragt wird. - Das ist nicht der Fall. Dann stimmen wir jetzt in der Sache ab:

Wer dem Antrag der CDU in der Fassung des gemeinsamen Änderungsantrages der Fraktion der CDU, der Fraktion der SPD und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen in der Drucksache 17/4262 annehmen möchte, den bitte ich um ein Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Das ist mit klarer Mehrheit so beschlossen. Danke schön.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN - Zustimmung bei der CDU)

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Fraktionen waren aus zeittechnischen Gründen schon vor einigen Stunden übereingekommen, den Tagesordnungspunkt 30 vorzuziehen und jetzt zu behandeln. Ich rufe also auf den

Tagesordnungspunkt 30: Erste Beratung: Hilfe für Opfer von Unrecht und Misshandlungen in Einrichtungen der Behindertenhilfe und Psychiatrie in den Jahren 1949 - 1990 - Antrag der Fraktion der SPD und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen - Drs. 17/4187

(Unruhe)

Ich halte jetzt einige Sekunden inne, bis Ruhe einkehrt. - Ich denke, jetzt geht es.

Meine Damen und Herren, einbringen möchte den Antrag für die SPD-Fraktion der Abgeordnete Uwe Schwarz. Herr Schwarz, bitte sehr!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! 2008 begann in Westdeutschland endlich die Aufarbeitung der Heimerziehung in den westdeutschen Bundesländern von 1949 bis 1975.

Im Namen des Staates und im Namen des Herrn wurden Hunderttausende von Kindern und Jugendlichen in Fürsorgeheimen und Fürsorgeanstalten zu lebenslang traumatisierten Menschen gemacht. In der Regel waren das Vollwaisen, Halbwaisen und uneheliche Kinder. Alleinerziehende Mütter waren damals kaum denkbar; sie brauchten mindestens einen männlichen Vormund für ihre Kinder, um ihnen das Heim zu ersparen.

Fast 50 Jahre war es Einrichtungsträgern, Justiz und staatlichen Aufsichtsbehörden immer wieder gelungen, eines der dunkelsten Kapitel deutscher Nachkriegsgeschichte zu tabuisieren und zu vertuschen. Mit seinem Buch „Schläge im Namen des Herrn“ war es der Journalist Peter Wensierski, der im Februar 2006 endlich die unfassbaren und unvorstellbaren Gräueltaten in deutschen Kinder- und Jugendheimen öffentlich - unauslöschbar in unserer Gesellschaft - platzieren konnte. Dafür wurde er auf dem Jugendhilfetag 2008 zu Recht ausgezeichnet.

In seinem Buch schreibt er u. a.: Es waren keine Kriminellen, sondern oft nur Kinder von alleinerziehenden Müttern, die nicht in die konservative Gesellschaft der 50er- und 60er-Jahre passten. Sie haben in den nicht kontrollierten Heimen drakonische Strafen erlitten, körperliche und psychische Gewalt, die an Folter grenzte. Es wurde ihnen Bildung und medizinische Versorgung vorenthalten, auch die Briefe ihrer Eltern. Größere Kinder und Jugendliche mussten schwer arbeiten, es kam

sehr häufig zu bis heute nicht geahndetem sexuellem Missbrauch von Mädchen und Jungen. Aus Bequemlichkeit verabreichten Erzieher heimlich Medikamente. Fast alle Heimkinder berichten über Demütigungen, Misshandlungen und Erniedrigungen. Sie wurden ausgegrenzt, weggesperrt und so ihrer Lebenschancen beraubt.

2008 folgte dann die erschütternde ZDFDokumentation „In den Fängen der Fürsorge“.

Der Deutsche Bundestag hatte mit seinem einstimmigen Beschluss vom 4. Dezember 2008 u. a. die Bundesregierung, die Landesregierungen und die Landesparlamente aufgefordert, im Rahmen der jeweiligen Zuständigkeiten die damaligen Ereignisse aufzuarbeiten.

Auf Initiative der SPD-Landtagsfraktion war der Niedersächsische Landtag das zweite Landesparlament nach Schleswig-Holstein, das - im Februar 2009 - mit der Aufarbeitung begann. Bereits im Juni 2009 kam es dann zu einem einstimmigen Beschluss unseres Landesparlaments.

Die meisten betroffenen Jugendheime waren in kirchlicher Trägerschaft. Die evangelische Kirche in Niedersachsen hatte ihr Versagen und ihre Schuld relativ schnell anerkannt und intensiv zur Aufarbeitung beigetragen. Die katholische Kirche tat sich da deutlich schwerer.

Noch 2009 erschien eine erste umfassende Dokumentation aus Freistatt mit dem Titel „Endstation Freistatt“. Am 25. Juni dieses Jahres ist in unseren Kinos ein Film angelaufen mit dem Titel „Freistatt“ - „…und wenn du nicht artig bist, kommst du ins Heim!“. Er beschäftigt sich mit den Misshandlungen und Ausbeutungen von Kindern und Jugendlichen im Sommer 1968 in der Diakonischen Einrichtung Freistatt.

Einer der großen Vorkämpfer und Sprecher der betroffenen ehemaligen Heimkinder war in Niedersachsen der Göttinger Jürgen Beverförden, der zwischenzeitlich in Bramsche lebt und 71 Jahre alt ist. Ihm wurde im August dieses Jahres für seinen unnachgiebigen Einsatz das Bundesverdienstkreuz verliehen.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, der zwischen dem Bund und den Länder damals vereinbarte Entschädigungsfonds musste gerade von den ursprünglich vermuteten 180 Millionen Euro auf nunmehr 302 Millionen Euro erhöht werden. 20 000

Betroffene haben sich zwischenzeitlich dort gemeldet, was allerdings nur einem geringen Teil der ursprünglich angenommenen 800 000 bis 1 Million Betroffenen entspricht. Viele von ihnen sind zwischenzeitlich verstorben oder können noch immer nicht über ihre Erlebnisse und Erniedrigungen reden. Niedersachsen war eines der ersten und wenigen Bundesländer, die unabhängig von Regierungsmehrheiten schnell ihren finanziellen Zusagen nachgekommen sind.

Im Gegensatz zu den Heimkindern kämpfen die Opfer von Unrecht und Misshandlungen in Einrichtungen der Behindertenhilfe und Psychiatrie in den Jahren 1949 bis 1990 noch immer um eine Anerkennung ihres erlittenen Unrechts und Leids. Sie kämpfen mindestens um eine finanzielle Anerkennung - eine persönliche Wiedergutmachung ist, denke ich, ohnehin nicht möglich.

Bereits 2013 hatte die Arbeits- und Sozialministerkonferenz eine Gleichbehandlung dieses Personenkreises angestrebt und gefordert. Bis heute kam es jedoch zu keiner Einigung zwischen Bund, Ländern und Kirchen hinsichtlich der Finanzierung. Bisher haben nur die Bundesländer Bayern, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Hamburg sowie Niedersachsen ihre Bereitschaft signalisiert, eine Fondslösung wie bei den ehemaligen Heimkindern auch für diesen Personenkreis mittragen zu wollen.

Die Koalition von SPD und Grünen will mit ihrem heute vorgelegten Antrag die Landesregierung in diesen Bemühungen ausdrücklich bestärken und unterstützen. Gleichzeitig wollen wir ein Signal an die anderen Bundesländer schicken, die sich bisher einer einvernehmlichen Lösung verweigern. Das Leid der Opfer muss in gleicher Weise ausgeglichen werden wie die Misshandlungen ehemaliger Heimkinder.

(Beifall)

Angesichts des teilweise hohen Alters der betroffenen Personen ist der Versuch, auf Zeit zu spielen, bei einigen Bundesländern und auch Trägern nicht nur durchsichtig; er ist nach meiner Auffassung auch unanständig.

Meine Damen und Herren, wir erwarten, dass nicht nur der Bund und einige Bundesländer, sondern alle Bundesländer sowie die katholische und evangelische Kirche als zuständige Träger der meisten damaligen Einrichtungen ihren Verpflichtungen zeitnah nachkommen. In diesem Sinne hoffe ich auf eine schnelle Lösung für die Betroffe

nen und auf einen - wie seinerzeit bei den Heimkindern - möglichst einstimmigen Beschluss unseres Parlaments.

Vielen Dank.

(Beifall)

Vielen Dank, Herr Kollege Schwarz. - Es folgt jetzt für die Fraktion der CDU die Abgeordnete Gudrun Pieper. Bitte!

Vielen Dank, Herr Präsident. - Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Verehrter Uwe Schwarz, Sie haben gerade sehr gut die Entwicklungen in Niedersachsen zur Einrichtung eines Entschädigungsfonds für die Kinder und Jugendlichen in der Heimerziehung in den Jahren 1949 bis 1975 beschrieben. Aber Menschen, die als Kinder und Jugendliche in den Jahren von 1949 bis 1975 in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe oder in stationären psychiatrischen Einrichtungen Leid und Unrecht erfahren haben, sind von dem bestehenden Fonds ausgenommen.

Wir alle haben damals gemeinsam ein sehr starkes Signal gesetzt, und auch an dieser Stelle müssen wir wieder ein gemeinsames, sehr starkes Signal setzen.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP und Zustimmung von Helge Limburg [GRÜNE])

Denn das ist nicht akzeptabel und gerade im Hinblick auf gleiches Recht nicht hinnehmbar.

Wie es schon richtigerweise erwähnt wurde - ich beziehe mich auf die Behindertenhilfe -, ist mit einem fraktionsübergreifenden Beschluss vom 7. Juli 2011 des Deutschen Bundestages, der zugleich Grundlage der bestehenden Fonds ist, die Bundesregierung aufgefordert worden, auch für Menschen mit Behinderungen in Abstimmung mit den Ländern Regelungen zu finden.

Am 21. Mai 2014 hat der Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages eine eigenständige Regelung für den betroffenen Personenkreis befürwortet, jedoch die Bundesmittel gesperrt, bis sich Länder und Kirchen zu einer Beteiligung bereit erklären. Die Kirchen hatten diese Bereitschaft teilweise sehr frühzeitig signalisiert, die Länder aber nur zum Teil.

Wie der vorliegende Antrag der Regierungsfraktionen richtigerweise beschreibt, hat die 91. ASMK im Jahre 2014 zum Ausdruck gebracht, dass Kinder und Jugendliche in Heimen der Behindertenhilfe und in Psychiatrien ebenso Leid und Unrecht erfahren haben. Aufgrund der Erfahrungen mit den bestehenden Fonds hatte die ASMK jedoch Zweifel an einer eigenständigen Fondslösung geäußert und um Prüfung und Anpassung der Regelsysteme gebeten. Im Ergebnis wurde im weiteren Verlauf eine Anpassung der Regelsysteme auch von den Ländern als ein nicht gangbarer Weg gesehen.

Die Kirchen hatten bereits seit Beginn der Beratung und der Einsetzung der beiden Fonds „Heimerziehung“ gefordert, dass Betroffene aus Einrichtungen der Behindertenhilfe und Psychiatrie in die bestehenden Fonds einbezogen werden bzw. vergleichbare Hilfsangebote erhalten sollten. Sie hatten, wie das Bundesministerium für Arbeit und Soziales, ursprünglich für diesen betroffenen Personenkreis eine Zustiftung zu dem bestehen Fonds „Heimerziehung“ favorisiert. Nachdem sich dieser Weg als nicht mehr gangbar erwiesen hatte, haben sie sich positiv gegenüber einer Beteiligung an einem eigenständigen Hilfesystem geäußert. Meine Damen und Herren, so weit, so gut.

Im Mai 2015, nach dem Jahresempfang der Behindertenbeauftragten der Bundesregierung, hat es sich unsere Bundeskanzlerin Angela Merkel, die dort auch zu Gast war, ganz schnell zu ihrer eigenen Aufgabe gemacht, so schnell wie möglich eine tragfähige Lösung zu finden. Und nun scheint es Bewegung auf Bundesebene zu geben. Denn am 9. September, also am letzten Mittwoch, haben Bund, Länder und Kirchen ihren Vorschlag eines Hilfesystems für Menschen, die als Kinder und Jugendliche in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe misshandelt wurden, vorgestellt. Über die neue Stiftung „Anerkennung und Hilfe“ sollen die Betroffenen nun ab 2016 Entschädigungszahlungen erhalten.

Insofern haben sich aus Sicht der CDU-Fraktion die Punkte 1 bis 4 des Antrags der Regierungsfraktionen - wahrscheinlich ist er aus Regelungen für die Heimerziehung, die wir damals getroffen haben, und auch aus unserer schriftlichen Anfrage zu dem Thema mit erwachsen - fast - ich betone: fast - erledigt. Denn die aktuelle Entwicklung ist bereits ein wenig weiter.

Doch gibt es einen Punkt, der noch offen ist, und auf den sollten wir uns gemeinsam konzentrieren.

Der Vorschlag insbesondere zur Höhe der pauschalen Entschädigung bzw. zu den Anerkennungszahlungen in drei Varianten ist für die Betroffenen inakzeptabel, da auf diese Weise keine Gleichbehandlung mit Blick auf den Hilfsfonds für misshandelte Kinder und Jugendliche aus Heimen der Jugendhilfe hergestellt wird.

(Beifall bei der CDU)

Die pauschale Grundentschädigung sollte von 5 000 bis 7 000 Euro auf 10 000 Euro, analog zum bereits bestehenden Fonds, erhöht werden. Zudem soll eine Rentenersatzleistung für in erheblichem Umfang geleistete Arbeit in den Einrichtungen bis zu maximal 5 000 Euro gewährt werden.

Eine Begründung dafür ist auch, so der Behindertenverband - ich zitiere -, dass die Opfer aus Heimen der Behindertenhilfe eine doppelte Stigmatisierung erfahren mussten und daher nicht 1 : 1 vergleichbar mit den Opfern ohne Behinderung sind.