Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie namens des Präsidiums. Ich eröffne die 76. Sitzung im 28. Tagungsabschnitt des Landtages der 18. Wahlperiode.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, vor wenigen Tagen, am 8. Mai, jährte sich zum 75. Mal das Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa. In einer Feierstunde wollte der Niedersächsische Landtag an diesen historisch bedeutsamen Tag erinnern und der Millionen Opfer des von Deutschland geführten Vernichtungskrieges gegen andere europäische Nationen und Völker, gegen die europäischen Juden gedenken. Die Veranstaltung musste wegen der Corona-Pandemie abgesagt werden. Erlauben Sie mir daher, heute zu Beginn der Plenarsitzung mit einigen Worten an das Kriegsende vor 75 Jahren zu erinnern.
Am 8. Mai 1945 schwiegen endlich die Waffen in Europa, nach fast sechs fürchterlichen Jahren Krieg - einem Krieg, der über 60 Millionen Menschen das Leben gekostet hat. Mehr als die Hälfte davon waren Zivilisten; betroffen waren fast alle Völker Europas.
Bundespräsident Richard von Weizsäcker hat deshalb in seiner Gedenkrede im Deutschen Bundestag am 8. Mai 1985 formuliert:
„Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.“
Im Wortsinne befreit wurden im Jahr 1945 Hunderttausende Gefangene in den Konzentrations- und Vernichtungslagern, den Zuchthäusern und diejenigen, die aktiv oder passiv Widerstand gegen das Naziregime geleistet hatten. Befreit wurden auch die unterjochten und ausgebeuteten europäischen Staaten und ihre Bevölkerung.
endgültig ihr Glaube an den „Führer“ und an einen „deutschen Endsieg“ genommen. Noch mehr waren mit den Problemen und der Organisation ihres Alltags beschäftigt. Überall herrschten Hunger und Not. Die Städte waren in Schutt und Asche versunken. Emden war zu 74 % zerbombt, Hannover, Osnabrück, Wilhelmshaven und Braunschweig zu mehr als der Hälfte. Industrie und Landwirtschaft lagen darnieder; die Transport- und Kommunikationswege waren zerstört; Wohnraum und Heizmaterial fehlten.
Dazu kamen viele Menschen ins Land, die aus den deutschen Ostgebieten geflohen oder vertrieben waren. Sie mussten untergebracht und versorgt werden. Im Oktober 1946 machte der Anteil der Flüchtlinge und Vertriebenen ungefähr 27 % an der niedersächsischen Gesamtbevölkerung aus. Wir wissen: Sie wurden alles andere als mit offenen Armen empfangen.
Welcher Weg zu diesem 8. Mai geführt hatte - diese Frage stellte man sich in Deutschland lange nicht. Die Mehrheit hatte wenig Interesse an Aufklärung und Aufarbeitung des Geschehenen. Richard von Weizsäcker greift diese Haltung mit einem anderen wichtigen Satz in seiner Rede auf. Er sagte:
Dem Tag, an dem Reichspräsident von Hindenburg Hitler zum Reichskanzler ernannte und die Demokratie versagte.
Mit diesem Satz bringt der Bundespräsident das Kriegsende in einen Zusammenhang mit seinen Ursachen und stellt die Frage, welchen Anteil die deutsche Bevölkerung am Zivilisationsbruch durch den Nationalsozialismus hatte, an der Ermordung von 6 Millionen Juden. Und er stellt damit auch die Frage, wie die Wiederholung einer solchen humanitären Katastrophe und Barbarei in Zukunft verhindert werden kann.
Für die Alliierten und die demokratisch gesinnten Menschen in Deutschland war die Antwort 1945 klar: In Gesellschaft und Staat mussten demokratische und humanistische Vorstellungen verankert werden und eine neue Moral wachsen. Deshalb sollte durch die sogenannte Entnazifizierung die Verstrickung von Deutschen in den Nationalsozialismus untersucht und geahndet werden. Parallel dazu wurde mit dem Aufbau einer geordneten Verwaltung und demokratischer Strukturen in den Besatzungszonen begonnen. Erste politische Par
teien wurden gegründet und zugelassen, ebenso Gewerkschaften und Zeitungen. Die kommunale Selbstverwaltung wurde neu belebt. Die Demokratie sollte von unten aufwachsen. Am 20. April 1947 hatte die Bevölkerung des von der britischen Besatzungsmacht im November 1946 geschaffenen Landes Niedersachsen zum ersten Mal die Möglichkeit, einen Landtag zu wählen.
Der Aufbau demokratischer Strukturen gelang fast reibungslos. Bei der inneren Demokratiegründung jedoch, der Etablierung einer demokratischen Kultur, gab es Brüche - auch in Niedersachsen. Die große Mehrzahl der Deutschen schob ihre persönliche Verantwortung für die Verbrechen des Nationalsozialismus und den Holocaust von sich. Belastete entlasteten sich bei der Entnazifizierung, halfen sich mit Ämtern und Positionen. Die Niedersächsische Landesregierung und der Landtag machten da keine Ausnahme.
Manche versuchten auch, die Erinnerung ganz praktisch zu beseitigen - beispielsweise im Herbst 1951 in Stadtoldendorf, wo Ratsherren im kommunalen Gaswerk Unterlagen von 600 früheren NSDAP-Mitgliedern feierlich ins Feuer gaben. Sie wollten damit als erste Stadt in der Bundesrepublik - wie sie sagten - „den Schlussstrich unter die gesamte Entnazifizierung“ ziehen.
Solche Äußerungen verstummten nie vollends. Sie waren im Laufe der Jahrzehnte mal lauter, mal leiser. Heute werden jene Stimmen wieder lauter, die fordern, die NS-Vergangenheit endlich hinter sich zu lassen. Doch eine solche Vergangenheit lässt sich nicht abschütteln. Zu tief war der Zivilisationsbruch, zu groß das Leid, das wir Deutsche mit dem Zweiten Weltkrieg über andere Völker gebracht haben. Die Verantwortung für die Lehren aus der Geschichte bleibt und stellt sich dabei für jede Generation neu.
Sich erinnern, bedeutet immer auch, einen aufmerksamen Blick auf die politischen Verhältnisse in der Gegenwart zu haben. Dies gilt gerade in Zeiten, in denen Rechtsextreme, Propaganda schmiedend, versuchen, die Verbrechen des Nationalsozialismus zu relativieren und Geschichte umzuschreiben, indem der Nationalsozialismus zu einem unbedeutenden Teil der deutschen Geschichte erklärt, das Gedenken an die Untaten der Deutschen als „Opfer-“ oder „Schuldkult“ bezeichnet oder der 8. Mai als „Tag der Niederlage“ für die Deutschen umgedeutet wird. Um dem entgegenzuwirken, bedarf es einer lebendigen Erinnerung. Zu dieser gehört der 8. Mai 1945 - der Tag der
Befreiung vom Nationalsozialismus. Er ist einer der wichtigsten Gedenktage unseres demokratischen Deutschlands.
Zu seinen Lehren gehört, dass wir uns zu der mit der Befreiung verbundenen Verantwortung bekennen - der Verantwortung, nie wieder Hass und Hetze gegen Minderheiten in unserer Gesellschaft zuzulassen und uns jeder Form von Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und Nationalismus entgegenzustellen, die Werte unserer freiheitlichen Demokratie entschlossen zu verteidigen, und der Verantwortung, für den Zusammenhalt Europas einzutreten. Nur ein vereintes, starkes Europa vermag, den Frieden zu sichern.
(Starker, anhaltender Beifall bei der SPD, bei der CDU, bei den GRÜNEN und bei der FDP sowie Zustimmung von Jochen Beekhuis [fraktionslos])
Wir kommen nun zur Tagesordnung. Die Einladung für diesen Tagungsabschnitt sowie die Tagesordnung einschließlich des Nachtrages und der Information zu den von den Fraktionen umverteilten Redezeiten liegen Ihnen vor. Ich stelle das Einverständnis des Hauses mit diesen geänderten Redezeiten fest. Die heutige Sitzung soll demnach gegen 19.28 Uhr enden.
Die mir zugegangen Entschuldigungen teilt Ihnen nunmehr die Schriftführerin Frau Menge mit. Bitte, Frau Menge!
Einen schönen guten Morgen! Von der SPDFraktion fehlen Herr Axel Brammer, Frau Doris Schröder-Köpf, von der Fraktion der CDU Oliver Schatta bis 12.00 Uhr und von der Fraktion der AfD Stefan Henze.
Tagesordnungspunkt 2: Abgabe einer Regierungserklärung unter dem Titel „Ein neuer Alltag in Zeiten von Corona - Perspektiven für den Umgang mit dem Virus“ - Unterrichtung durch den Ministerpräsidenten - Drs. 18/6396 neu
Zunächst erteile ich dem Herrn Ministerpräsidenten das Wort für die angekündigte Regierungserklärung. Bitte, Herr Weil!
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Das ist nun die dritte Regierungserklärung im dritten Plenum des Landtags nacheinander innerhalb von nur drei Monaten. Das ist eine ungewöhnlich enge Taktfolge, aber auch gut zu erklären.
Seit dem Ausbruch des Coronavirus auch bei uns in Niedersachsen müssen wir uns einer sehr schwierigen und zugleich dynamischen Herausforderung für unsere gesamte Gesellschaft stellen. Und auch heute kann ich Ihnen über einen neuen Abschnitt im Krisenmanagement berichten.
In der Plenarsitzung am 25. März ging es um den Shutdown, eine bislang nie dagewesene Einschränkung des gesamten gesellschaftlichen und persönlichen Lebens zum Zwecke des Infektionsschutzes. In der Plenarsitzung am 23. April ging es um die ersten Lockerungen, die wir nach den Zwischenerfolgen beim Infektionsschutz möglich machen konnten. Heute möchte ich Ihnen berichten über unsere Pläne zu einem systematischen Übergang in einen neuen Alltag bei uns in Niedersachsen unter den Bedingungen des Virus.
Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen, Grundlage dafür ist eine weitere Stabilisierung des Infektionsgeschehens auf einem niedrigen Niveau. Die Zahl der täglich gemeldeten neuen Infektionen bewegt sich derzeit auf einem Niveau von landesweit ungefähr 70 Fällen im Wochendurchschnitt. Das ist deutlich weniger als die Zahl der gleichzeitig gemeldeten Genesungen, sodass die Zahl der akut Erkrankten heute so niedrig ist wie seit sieben Wochen nicht mehr. Diese Entwicklung bildet sich natürlich auch in unseren Krankenhäusern ab. Die Beatmungsplätze, die im Falle eines Falles dringend notwendig sind, werden derzeit zu weniger als 10 % in Anspruch genommen. Die Lage in den Krankenhäusern ist also vergleichsweise entspannt.
Weil wir aber mit ganz anderen Infektionszahlen rechnen mussten, war das Bereithalten dieser Kapazitäten bitter notwendig. Jetzt können wir die Krankenhäuser wieder für planbare Leistungen öffnen und den Betrieb dort etwas normalisieren.
Das sind sehr erfreuliche Nachrichten, zumal wir in der Zwischenzeit zwei Bewährungsproben zu überstehen hatten. Sowohl die Ostertage mit den
dann normalerweise stattfindenden zahlreichen persönlichen Kontakten als auch die weitgehende Öffnung des Handels kurze Zeit danach waren durchaus mit Befürchtungen verbunden. Zum Glück haben sich diese Befürchtungen nicht realisiert, und ich finde, das macht Mut.
Insgesamt blicken wir also zurück auf eine sehr erfolgreiche Phase der konsequenten Eindämmung von Kontakten und Infektionen. Grundlage dafür war und ist eine beeindruckende Gemeinschaftsleistung der Bürgerinnen und Bürger in Niedersachsen, die ein hohes Maß an Einsicht bewiesen haben und durch ihre Zurückhaltung in den Kontakten zu anderen Menschen die Grundlage für die nun bestehenden Spielräume gelegt haben. Auch das macht Mut, und ich danke allen Niedersächsinnen und Niedersachsen sehr herzlich für ihre ganz persönlichen Beiträge.
(Beifall bei der SPD, bei der CDU, bei den GRÜNEN und bei der FDP sowie Zustimmung von Jochen Beekhuis [fraktionslos])
Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen, so weit, so gut, könnte man meinen. Tatsächlich aber stehen wir - und ich denke, das spüren wir alle - jetzt aber vor einer neuen und möglicherweise noch schwierigeren Herausforderung. Wir erleben in diesen Tagen eine spürbar gespaltene Stimmung in der Bevölkerung.
Auf der einen Seite besteht bei vielen Menschen die anhaltende Sorge vor einem Rückfall. Und es gibt auch Gründe für diese Sorge. Die Bilder aus Norditalien, dem Elsass, Großbritannien oder New York stehen noch vor unser aller Augen.
Auf der anderen Seite gibt es aber kaum weniger Bürgerinnen und Bürger, die vor Ungeduld gewissermaßen brennen und sich nach Lockerungen, nach einer Rückkehr in die Normalität von Tag zu Tag mehr sehnen. Das gilt für große Teile unserer Gesellschaft, und das gilt auch für die Wirtschaft, wo in vielen Bereichen die schiere Existenzangst herrscht.
Daraus folgt für uns in der Politik, liebe Kolleginnen und Kollegen, eine Aufgabe, die ich außerordentlich ernst nehme: Wir müssen die Gesellschaft jetzt zusammenhalten. Wir müssen die Ängste und die Sorgen aufnehmen und gleichzeitig auch Perspektiven und Orientierung geben. Das ist fürwahr eine anspruchsvolle Aufgabe.
unserem Land weiter - gewiss auf einem deutlich niedrigeren Niveau als noch vor einigen Wochen, aber eben doch so, dass wir nach wie vor sehr, sehr aufpassen müssen.
In Niedersachsen sind bislang 510 Frauen und Männer an oder mit dem Coronavirus verstorben. Jeder Todesfall ist bitter. Wir denken auch heute an diese Menschen und an ihre Familien. Alles, was wir tun, ist darauf ausgerichtet, Menschenleben so gut wie möglich zu retten.
Vorsorge und Vorbeugung sind deswegen unverändert nötig. Das möchten manche derzeit nicht mehr so gerne hören. Der Erfolg, so heißt es ja, ist der Feind der Vorsorge. Aber es käme doch niemand auf die Idee, die Feuerwehr abzuschaffen, nur weil es nicht brennt. Wir müssen auch in den nächsten Monaten dem Infektionsschutz unsere volle Aufmerksamkeit widmen, meine sehr verehrten Damen und Herren. Das ist wirklich eine zentrale Grundlage für unser weiteres Vorgehen.
Das sage ich insbesondere auch denjenigen laut und deutlich, die derzeit Verschwörungstheorien anhängen. Die Bilder aus anderen Teilen der Welt sind keine Fake News, sie sind die Realität! Wenn wir in Deutschland bislang von solchen schlimmen Zuständen bislang verschont geblieben sind, dann nicht etwa trotz unserer Vorbeugungsmaßnahmen, sondern wegen ihnen. Das Coronavirus ist keine Verschwörung, das Virus ist eine Gefahr, und sie besteht fort, liebe Kolleginnen und Kollegen.