Das erste wichtige Argument ist, wie ich denke, dass gerade in Zeiten einer Pandemie, in der große Verunsicherung herrscht, transparente und öffentliche Verfahren dazu beitragen können, Vertrauen zu schaffen. So wäre nämlich nachvollziehbar, was passiert. Wir haben doch öffentliche Sitzungen, in denen die verschiedenen Interessen dargelegt werden.
Übrigens hätten dann auch diejenigen eine Chance, gehört zu werden, die nicht über gut organisierte Lobbyverbände verfügen und keinen direkten Zugang zu den Ministerien und zur Ministerialverwaltung haben, um ihre berechtigten Belange zu adressieren, weil wir Probleme in öffentlichen Verfahren erörtern und im Rahmen von Anhörungen berücksichtigen könnten. Vielfach bleiben berechtigte Belange einfach unberücksichtigt, weil sie überhaupt nicht wahrgenommen werden. Wenn man von ihnen wüsste, könnten sie berücksichtigt werden.
Das zweite Argument, weshalb das wirklich wichtig und elementar ist: Herr Ministerpräsident, Sie setzen ja immer darauf, das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in Anspruch zu nehmen. Ich finde aber, dass ein Staat, der von sich aus Vertrauen in Anspruch nimmt, besonders streng mit Verfahrensvorschriften sein muss, um das notwendige Vertrauen zu erhalten.
Eine solche Vorschrift ist z. B. das Wesentlichkeitsprinzip. Das werden Sie auch nicht bestreiten. Sie unternehmen ganz wesentliche Eingriffe in Grundrechte und Verfassungsrechte. Da ist es völlig klar und unstreitig, dass diese durch Parlamentsgesetze erfolgen müssen. Auch das ist kein Selbstzweck, sondern das Parlament ist das Gremium, das legitimiert ist, Eingriffe in Grundrechte vorzunehmen.
Darüber gehen Sie locker hinweg. Es wird nur gesagt: Uns ist klar, dass ein Eingriff in die Unverletzlichkeit der Wohnung schwerwiegend ist, er muss aber sein. Die Regierung macht das mit einer Verordnung. - Das geht völlig an der Sache vorbei!
Parlamentarische Verfahren sind aufgrund ihrer Öffentlichkeit und der bestehenden Prozesse besser in der Lage - viel besser als eine Verordnung der Gesundheitsministerin, die ein spezifisches Ressortinteresse hat, auch wenn die Verordnung jetzt offensichtlich in der Staatskanzlei erarbeitet und koordiniert wird -, diese ganzen komplexen Wirkungszusammenhänge, die es gibt - eine Regelung löst an anderen Stellen etwas aus, was man gar nicht im Blick hat -, viel besser zu erfassen. Beispielsweise wäre die Frage der Weihnachtsgottesdienste in einem parlamentarischen Verfahren nie so ausgegangen, wie es jetzt gekommen ist. Das wäre garantiert geregelt worden. Wir hätten eine gute Lösung gefunden. Die Landesregierung geht aber darüber hinweg.
(Beifall bei der FDP und bei den GRÜNEN - Dirk Toepffer [CDU]: Herr Birkner, wann ist denn Weihnachten?)
All das sind wichtige Punkte. Ich will zumindest noch einen wichtigen anfügen, weil er auch in der politischen Debatte der letzten Wochen relevant war: Auch mit Blick auf diejenigen, die sich nicht durch die Entscheidungen vertreten fühlen und zum Teil öffentlich protestieren, bieten parlamentarische Verfahren die Chance, sie sozusagen in das politische System zu integrieren und ihnen ein Forum zu geben, ihre Meinung wenigstens diskutiert zu sehen - auch wenn es nicht so ausgehen sollte, wie sie sich es wünschen. Aber so wäre doch zumindest eine Repräsentanz der Idee gegeben. Das würde am Ende dazu führen, dass die Akzeptanz steigt.
All das sind gute Gründe - und das ist noch lange nicht abschließend -, ernsthaft darüber nachzudenken, ob wir als Landtag diesen Weg wirklich weitergehen wollen. Es ist ja darauf hingewiesen worden, dass es noch mindestens ein Jahr lang dauern wird, bis Impfungen möglich sind und durchgeführt werden können. Wollen wir es uns wirklich noch so lang gefallen lassen, dass wir unserer Aufgaben beraubt werden und die Landesregierung diese wesentlichen Funktionen selbst übernimmt?
Das halte ich für nicht hinnehmbar. Wir müssen doch - auch um dem vielfach beklagten Bedeutungsverlust der Landesparlamente, der ohnehin diskutiert wird, entgegenzutreten - zeigen, dass demokratische, parlamentarische Organisationsformen auch in der Krise in der Lage sind zu agieren und dass sie handlungsfähig sind. Ich halte das für möglich.
Wir haben einen Gesetzentwurf eingereicht, der in der Debatte ist. Unsere dringende Bitte ist, ihn nicht nur zu schieben und zu sagen: Wir gucken uns das nach der Pandemie mal an. Dann können wir über all diese Fragen reden. - Dafür ist das Thema zu wichtig. Die genannten Grundsätze gelten schon jetzt und nicht erst dann, wenn die Pandemie eines Tages vorbei ist.
Meine Damen und Herren, was die die neue Verordnung betrifft: Herr Ministerpräsident, was fehlt, ist eine schlüssige Begründung. Zwischen der letzten Verordnung, die in Kraft getreten ist - zwischenzeitlich gab es ein paar Änderungen; es geht sozusagen um die Grundverordnung -, und der Verordnung, die Sie in dieser Woche in Kraft setzen, sind drei Monate vergangen.
Man sollte innerhalb von drei oder, wenn man zurückrechnet, innerhalb von mittlerweile acht Monaten in der Lage sein, eine schriftliche Begründung vorzulegen, damit man die Abwägungskriterien und Gedanken, die dahinterstehen, nachvollziehen kann. Stattdessen bekommen wir, nachdem Sie beim letzten Plenum gar nichts dazu sagen woll
Sie sagen solche allgemeinen Dinge wie: Wir wollen Gesundheit schützen. Wir wollen ein handlungsfähiges Gesundheitswesen. Wir wollen Leben retten. Und wir wollen die Möglichkeit zur Erholung für die Wirtschaft. - Da wird jeder zustimmen; das ist überhaupt keine Frage.
Aber was bedeutet das denn konkret? - Sie sagen nichts dazu, wie die einzelnen Regelungen begründet sind und wie die einzelnen Interessen gegeneinander abgewogen worden sind. Da bleiben Sie oberflächlich. Wir meinen, dass das nicht ausreicht und viel zu wenig ist.
Auch das ist übrigens keine juristische Spitzfindigkeit. Auch hier geht es letztlich um die Wesensmerkmale einer freiheitlichen Gesellschaft, darum, dass derjenige, der in die Rechte eingreift und Dinge regelt - und dieses Mal sogar die Landesregierung, nicht einmal das Parlament -, sehr nachvollziehbar und überprüfbar darlegen muss, was passiert.
All das geschieht nicht. Das wird besonders deutlich beim Eingriff in die Unverletzlichkeit der Wohnung durch die Regelungen zu privaten Feiern und Zusammenkünften. Die Kollegin Hamburg hat bereits darauf hingewiesen.
Es gibt erhebliche Wertungswidersprüche in dieser Verordnung. Auf der einen Seite sagen Sie mit Blick auf den privaten Bereich, der hochgradig geschützt ist - das Verfassungsgericht spricht vom letzten Refugium, vom Schutz der Wohnung als Ausdruck der Menschenwürde -: Hier wird eingegriffen. Da müssen wir etwas regeln.
Auf der anderen Seite gibt es Regelungen beim Sport und bei den Hochschulen. Mich hat es überrascht, dass die Hochschulen das im Zweifelsfall nicht wollten. Da gibt es entsprechende Hygienekonzepte.
Aber Sie - quasi als Gesetzgeber - sagen in diesem Fall: Das alles wollen wir nicht mehr regeln. Das alles lassen wir zu.
Aber im privaten Bereich sagen Sie: 25 Personen dürfen es sein, mehr auf keinen Fall! - Das verstehe ich erst einmal nicht. Aber Sie erklären es auch nicht. Sie sagen dazu gar nichts.
Wenn man sich klar macht, dass die Wohnung das letzte Refugium, ein besonders geschützter Bereich und Ausdruck der Menschenwürde ist, dann müssen Sie das aber erklären, Herr Ministerpräsident. Dann müssen Sie uns auch sagen, wie genau Sie auf diese Zahl 25 kommen. Was sind es denn für Partys und Zusammenkünfte, die diese Besorgnis rechtfertigen, sodass die Beschränkung genau bei 25 Personen liegen muss?
Dazu haben Sie heute wieder nichts gesagt. Sie haben gesagt, Sie hätten allgemeine Berichte von Scheunenfeten erhalten. Auch die Wissenschaft habe Ihnen das berichtet. Das alles ist doch total pauschal. Sie müssen doch einmal konkret sagen, welche Ereignisse es in Niedersachsen sind, die es im Verhältnis zum aktuellen Infektionsgeschehen im Land rechtfertigen, solche Veranstaltungen auf 25 Personen zu begrenzen.
Was unterscheidet Niedersachsen eigentlich von den anderen Bundesländern? Niedersachsen hat ein unterdurchschnittliches Infektionsgeschehen. Darauf haben Sie selbst hingewiesen. Andere Bundesländer haben - so wie es in der Konferenz der Ministerpräsidenten mit der Bundeskanzlerin vereinbart wurde - nur auf eine Empfehlung gedrängt. Warum geht Niedersachsen schärfer vor? Die allgemeine Besorgnis rechtfertigt nach Ihrer Einschätzung den Eingriff in den privaten Bereich?
Und das ist übrigens strafbewehrt. Sie haben in einer Pressekonferenz oder andernorts gesagt, dass da nicht gleich ein Bußgeld erhoben würde. Wer’s glaubt! Schauen Sie mal genau in die Verordnung: Ein Verstoß gegen diese Regelung ist bußgeldbewehrt. Es mag nicht im Bußgeldkatalog stehen. Aber natürlich können und werden die Bußgeldbehörden da tätig werden, egal, ob es im Bußgeldkatalog steht oder nicht. Sie werden das dann eben selbst entscheiden.
Gleichzeitig sagen Sie - was ich ein wenig anmaßend oder überraschend finde -, Sie werben um Vertrauen. Wenn Sie sich nicht erklären, können Sie kein Vertrauen erwarten.
Dann wird sich auch die spannende Frage stellen - die kommunalen Spitzenverbände, insbesondere unser Landkreistag, begrüßt diese Regelung offensichtlich -, wie eigentlich der Vollzug aussehen soll. Die Kollegin Hamburg hat darauf hingewiesen: Dem Denunziantentum wird dadurch Vorschub geleistet. - Ich möchte nicht in der Haut derer stecken, die vor der Tür stehen und durchzählen müssen, ob 25, 26 oder 27 Personen anwesend sind, um entsprechende Maßnahmen zu vollziehen - übrigens unabhängig von der Raumgröße und allem anderen. All das wird zu Verwerfungen führen und Beeinträchtigungen des sozialen Friedens mit sich bringen.
Schließlich, meine Damen und Herren, möchte ich noch etwas zu dem neuen Handlungskonzept, das Sie vorgestellt haben, sagen. Das ist eigentlich noch eine Steigerung dessen, was wir hier erleben. Sie agieren ja mit Ihrer Verordnung auf Basis einer Generalklausel im Infektionsschutzgesetz, die den Herausforderungen nun wirklich nicht mehr gerecht wird. Es sind insgesamt zwei Sätze, auf die Sie sich stützen, auf denen die Verordnung basiert.
Jetzt sagen Sie, dass das neue Handlungskonzept auf der Verordnung beruht - also im Prinzip auf der Generalklausel am Ende der Verordnung, in der steht, dass die unteren Infektionsschutzbehörden weitergehende Maßnahmen anordnen dürfen. Dafür geben Sie ihnen das Handlungskonzept an die Hand. Das heißt, das ist eine Vorschrift, die auf einer Generalklausel beruht, die ihrerseits wiederum auf einer Generalklausel beruht. Gleichzeitig sagen Sie, das sei nur eine Vollzugssache.
Aber wenn man genauer hinschaut, stellt man fest, dass das nicht nur eine Vollzugssache ist. Denn es werden Standardmaßnahmen beschrieben, die dann ergriffen werden müssen, wenn in einem lokalen Bereich die Zahlen überschritten werden. Und darin ist die Rede von so etwas wie „lokale Ausgangssperre“ und „Gruppenquarantäne“. Das sind nun wirklich dramatische Eingriffe, für die man mindestens eine gesetzliche Grundlage braucht.
Herr Ministerpräsident, wie kommen Sie eigentlich darauf, den Kommunen aufzuzeigen, welche Standardmaßnahmen sie ergreifen können, ohne dafür eine parlamentarische Rechtsgrundlage zu schaffen, die das legitimiert und den Behörden, aber auch den Bürgerinnen und Bürgern Rechtssicherheit gibt?
Auch hier muss man wieder sagen: Es kann kein Vertrauen entwickelt werden, wenn am Ende auf so wackeliger Grundlage gehandelt werden muss.
Die Vorgehensweise, die wir in den letzten Monaten erlebt haben - in der Anfangszeit ist sie, das will ich ausdrücklich sagen, nachvollziehbar gewesen -, ist mit zunehmendem Erkenntnisgewinn, mit zunehmender Erfahrung, mit zunehmenden Vollzugserfahrungen nicht mehr hinnehmbar. Dass die Landesregierung dieses Rechtssetzungsverfahren alleine bestimmt, dass sie nicht erklärt, keine Begründungen darlegt, halte ich für nicht länger hinnehmbar.
Wir müssen endlich zu einer Reparlamentarisierung kommen. Wenn wir nicht in der Lage sind, uns als Parlament in der Krise zu behaupten, dann könnten wir als Landtag uns selbst infrage stellen - was wir meines Erachtens eigentlich tagtäglich mit der Hinnahme dieses Verfahrens tun.