Protokoll der Sitzung vom 24.10.2008

Deshalb ist es bei den veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Anforderungen des Arbeitsmarktes auch richtig, dass das Ministerium die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu einem Schwerpunktthema entwickelt hat. Wir brauchen eine familienunterstützende Gestaltung des Erwerbslebens.

Wir brauchen eine neue gesellschaftliche Anerkennung des Erziehungspersonals. Die besten müssen in diese Berufe wollen.

(Beifall von der CDU)

Wir brauchen eine nachhaltige Imagekampagne für erzieherische Berufe, aber auch für mehr männliches Personal in Kindergärten und Grundschulen. Und wir brauchen Erziehungspersonal mit Migrationshintergrund.

Wir brauchen den Ausbau von Erziehungspartnerschaften, die verbesserte und ständige Zusammenarbeit der Menschen und Institutionen, die unsere Kinder im Erziehungs- und Bildungsbereich begleiten. Wir brauchen keine Schnittstellen in der Verantwortung, sondern mehr Verbindungsstellen.

Wir brauchen eine herzliche Bildungsatmosphäre, die Kinder motiviert und den Selbstlernprozess der Kinder stärkt. Lernen lernen ist das Thema! Wir brauchen Lehrer und Erzieher, die Vorbild und Lebenstrainer sind, nicht nur Wissensvermittler.

Wir müssen die Gesundheit der Kinder fördern und sichern durch den Ausbau von Früherkennungs

maßnahmen, durch Impfschutz, gesunde Ernährung und Bewegungsförderung in Kindergärten und Schulen.

In allen Kinder-, Jugend- und Schulthemen muss die sozialräumliche, kommunale Vorgehensweise Qualitätsmaßstab der Arbeit werden. Wir brauchen lokale Bildungsnetzwerke oder Bildungskonferenzen, wie immer man das auch bezeichnen will. Wir brauchen die kommunale Verantwortung.

Der Förderung von Kindern mit zusätzlichem Entwicklungs- und Förderbedarf muss weiterhin unsere ganze Aufmerksamkeit gehören. Dabei geht es um Kinder aus sozial schwächeren Bevölkerungskreisen, Kinder aus bildungsfernen Schichten, Kinder mit besonderer Begabung, Kinder mit Migrationshintergrund und auch die Kinder mit Behinderungen oder Krankheit.

Meine Damen und Herren, es gibt keine wissenschaftlich evaluierte Erkenntnis, die belegt, dass Lernerfolg von der Schulstruktur abhängt. Gerade was die Chancengerechtigkeit in der Schule angeht, empfehle ich Ihnen die Seiten 177 bis 180 des Berichts, die darüber kompetent Auskunft geben. Der stärkenorientierte Ansatz in der Pädagogik ist ein notwendiger Paradigmenwechsel und dabei genauso zu nennen wie die Verbesserung der Aufstiegskarrieren der Schülerinnen und Schüler.

Was wir im Sport und in der Musik für selbstverständlich halten, nämlich die Suche nach Talenten, sollte auch für andere Bereiche selbstverständlich sein. Die Anerkennung und Förderung von besonderen Leistungen – auch bei selektiver Begabung – sollte selbstverständlich sein. Das gilt für kognitive Fähigkeiten genauso wie für praktische und kreativmusische Begabungen.

Abschließend gilt mein Dank den Sachverständigen in der Kommission, die sicherlich mehr als einmal an der Hartnäckigkeit politischer Überzeugungen verzweifelt sind. Genauso konnten wir als politische Mitglieder feststellen, dass Wissenschaftler durchaus dazu in der Lage sind, ihre konträren Meinungen ebenso hartnäckig zu vertreten wie Politiker.

Danke auch von mir an alle wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aller Fraktionen! Ich danke auch für die vertrauensvolle Zusammenarbeit über alle Parteigrenzen hinweg. Mein Dank geht aber auch an meine Kollegen im CDU-Arbeitskreis, insbesondere an Magdalena Grawe. Sie hat viel gearbeitet.

Die Aufgabe hat uns Spaß gemacht. Ich bin sicher: Diese Arbeit landet nicht in der Schublade. Die Handlungsempfehlungen reichen von Seite 167 bis Seite 207, eng beschrieben, 40 Seiten. Viel Spaß bei der Lektüre!

Eine Schlussbemerkung: Der Spaß am Kind, die Lebensfreude, das Lebensglück, das uns Kinder geben, dürfen ruhig wieder in den Mittelpunkt unse

rer Sichtweise und unseres Handelns gestellt werden. Kinder zu haben und großziehen zu können oder zu dürfen, hat eben auch mit täglichem Lebensglück und Freude zu tun.

Kinder sollen willkommen sein und müssen das auch spüren. Aber Kinder sind viel mehr als Freiheitsräuber und Kostenverursacher. Sie bringen Leben in unser Leben.

Machen wir uns an die Arbeit, es gibt noch viel zu tun! – Ich danke Ihnen.

(Beifall von CDU und FDP sowie Minister Andreas Krautscheid)

Vielen Dank, Herr Kollege Kern. – Für die SPD-Fraktion hat jetzt Frau Kollegin Hendricks das Wort.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch ich möchte mit einem Dank an alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Kolleginnen und Kollegen sowie an die Wissenschaftler, die jetzt oben auf der Empore sitzen, beginnen, ohne die dieser Enquetebericht nicht hätte zustande kommen können. Insofern möchte ich mich den Worten unseres Vorsitzenden in aller Deutlichkeit anschließen und das auch im Namen der SPD-Fraktion noch einmal ausdrücklich formulieren.

(Beifall von der SPD)

Wir diskutieren heute die Ergebnisse der Enquetekommission, die eines der zentralen Themen für unser Land aufgegriffen hat. Die Kommission hat sich viel Mühe gegeben. Sechs erfahrene Professoren und neun Abgeordnete haben sich zweieinhalb Jahre mit der Bildung in Nordrhein-Westfalen beschäftigt. Es lohnt sich, den Bericht zu lesen; er ist lesenswerter, als viele vielleicht glauben. Die Ergebnisse sind nicht neu – das war auch nicht beabsichtigt –, aber sie fassen den aktuellen Stand der Erkenntnisse ziel- und handlungsorientiert zusammen. Sie sind markant. Vielleicht ist der eine oder andere auch überrascht, was sich alles im Bericht findet.

Ich bin guten Mutes, dass es nicht gelingt, diesen Bericht kleinzureden, denn der Enquetebericht ist für die Weiterentwicklung des Bildungswesens in Nordrhein-Westfalen mit weit reichenden Konsequenzen und Erkenntnissen verbunden. Der Enquetebericht ist deutlich mehr als die Summe der Handlungsempfehlungen. Er dokumentiert empirische Bildungsforschung, gibt die Meinungen von Experten und Wissenschaftlern wieder und ist vor allem ein gemeinsames Dokument der Mitglieder dieser Enquetekommission. Er gibt Aussagen über die Notwendigkeiten und Veränderungen der Maßnahmen in Nordrhein-Westfalen wieder. Daher lohnt es

sich, nicht nur die Handlungsempfehlungen zu lesen, sondern den Gesamtbericht.

Ziel der Enquetekommission war es, vom Kind aus zu denken, also nicht die Institutionen in den Mittelpunkt zu stellen, sondern die Entwicklung und die Förderung der Potenziale von Kindern und Jugendlichen. Darin waren wir uns einig. Die Kommission war sich auch einig, dass jedes Kind Stärken hat, die erkannt und gefördert werden müssen, und dass jedes Kind mitgenommen werden muss, um Chancengerechtigkeit im Bildungssystem so weit wie möglich zu gewährleisten und Chancenungleichheit zu kompensieren.

Die Antworten, speziell im Schulbereich – gestützt auf Gutachten, Expertisen und empirische Daten –, sind am Ende trotzdem unterschiedlich. Herr Kern hat gerade aus dem Votum von CDU und FDP zitiert, das sozusagen ein Votum dieser Abgeordneten und der von ihnen benannten Gutachter ist.

Ich zitiere aus dem gesamten Bericht, was deutlich macht, dass der gesamte Bericht gemeinschaftlich verabschiedet worden ist. In dem gesamten Bericht kann man auch etwas über die Schulpolitik lesen. Ich will in aller Deutlichkeit sagen, dass es im Bericht der Enquetekommission keine Mehrheit für das bestehende System in Nordrhein-Westfalen gegeben hat.

(Beifall von SPD und GRÜNEN)

Sieben Kommissionsmitglieder sprechen sich für einen unveränderten Erhalt des Schulsystems aus, acht Mitglieder sprechen sich aber für eine Veränderung aus. Das Bildungssystem in NordrheinWestfalen wird nach wie vor durch soziale Selektivität und durch eine Abwärtsmobilität, weg von höheren Schulformen hin zu niedrigeren, bestimmt. Auf neun Absteiger kommt ein Aufsteiger. Die Sitzenbleiberquote ist ebenfalls immer noch viel zu hoch. Das haben wir heute Morgen im Rahmen der Aktuellen Stunde schon diskutiert. Wir müssen uns mit diesen Themen auseinandersetzen und dürfen uns nicht nur gegenseitig vorwerfen, dass der eine oder andere schuld ist. Es geht darum, Lösungen zu finden.

Insbesondere Kindern und Jugendlichen aus benachteiligten Familien gelingt im gegliederten Schulsystem viel zu selten ein Aufstieg – ganz zu schweigen davon, dass ihre Chancen, eine höherwertige Schulform zu erreichen, 2,6-fach geringer sind als bei Kindern aus besser gestellten Familien. Insbesondere Armut und ein Migrationshintergrund verringern die Bildungs- und Lebenschancen von Kindern und Jugendlichen.

Was die Frage der Verabschiedung des Berichtes angeht, war in der Enquetekommission Einmütigkeit gegeben. Mit Blick auf die Erfolgsaussichten im Bildungssystem kann im Bericht zusammenfassend gesagt werden, dass die Startchancen für Kinder weder gleich hoch noch gleich verteilt sind.

Auch zu den Grundschulempfehlungen, die Sie, meine Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, in Nordrhein-Westfalen verbindlich gemacht haben, gibt es in dem Bericht klare Aussagen. Im Rahmen von größeren Leistungsstudien der letzten Jahre wurde immer wieder gezeigt, dass Grundschulempfehlungen die Leistungsfähigkeit der Schüler und Schülerinnen nur eingeschränkt widerspiegeln.

Die Kommission stellt in Teil A des Berichts ebenfalls fest, dass Kinder mit gleichen Leistungen und gleichen kognitiven Grundfertigkeiten je nach Migrationsgeschichte unterschiedliche Schullaufbahnempfehlungen erhalten. Einmal getroffene Schullaufbahnentscheidungen werden, auch wenn sie falsch sind, nur in seltenen Fällen revidiert. Dies ist das Ergebnis der nordrhein-westfälischen Durchlässigkeit. Wer vom Kind her denkt, muss an diesem Punkt auch über die Strukturen nachdenken.

(Beifall von SPD und GRÜNEN)

Es reicht nicht, die individuelle Förderung zum alleinigen Credo seines Handelns zu machen. Ich zitiere dazu eine Aussage des Gutachters Mack aus dem Bericht:

Um (der) doppelten Benachteiligung entgegenzuwirken, sind mehrere Maßnahmen erforderlich: So ist einerseits eine bessere individuelle Förderung von Kindern und Jugendlichen in und außerhalb der Schule notwendig. (…) Andererseits ändern diese Maßnahmen kaum etwas, solange schulstrukturelle Aspekte und Fragen von Bildungsbenachteiligung ausgeblendet werden. Der enge Zusammenhang von sozialer Lage und Bildungserfolg in Deutschland kann ohne Reformen der Strukturen der Schule nicht überwunden werden.

(Beifall von SPD und GRÜNEN)

Das ist auch der Grund, warum die Mehrheit der Kommission sich dafür ausgesprochen hat.

Ich möchte an dieser Stelle darauf hinweisen, dass die Kommission durchaus auch gemeinsame Ziele formuliert hat. Auf Seite 150 kann man fünf übereinstimmend beschlossene Bausteine zur Verbesserung des Bildungs- und Betreuungswesens nachlesen. Diese gebe ich jetzt gekürzt wieder: Wir wollen eine höhere Qualität in allen Bereichen, was den Erziehungs-, Bildungs- und Betreuungsbereich angeht. Es sollen ungünstige Lernmilieus vermieden werden. Es soll eine kontinuierliche Personalentwicklung entstehen. Es sollen flexible Übergänge entstehen, und Kinder sollen individuell schnell und unterschiedlich gefördert werden. Es soll aber auch den Kommunen ein stärkerer Gestaltungsspielraum für passgenaue Lösungen eingeräumt werden, um Erziehungs-, Bildungs- und Betreuungsangebote vor Ort passgenau vorzuhalten. Eine weitgehende Integration aller Kinder und Jugendlichen – auch

derer mit Behinderungen – ins allgemeine Bildungssystem soll angestrebt werden.

Das ist in der Enquetekommission Konsens unter allen Fraktionen gewesen.

(Beifall von SPD und GRÜNEN)

„Keine Chancen für Kinder in NRW“ titelte das domradio am Dienstag, weil es keine Einigung im Schulbereich gegeben hat. Individuelle Förderung braucht Zeit – im Kindergarten, in der Kita, in der Schule –, sie braucht unterschiedlich viel Zeit bei unterschiedlichen Kindern. CDU und FDP brauchen halt mehr Zeit als wir, das Ziel zu erreichen.

(Lachen von Ralf Witzel [FDP])

Das ist schade, weil es für die Kinder und Jugendlichen in unserem Land schädlich ist. Aber vor diesem Dilemma stehen Pädagogen häufiger. – Ich bedanke mich.

(Beifall von SPD und GRÜNEN)

Vielen Dank, Frau Kollegin Hendricks. – Für die Fraktion der FDP spricht Kollege Witzel.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die letzten Ausführungen von Frau Hendricks, die weniger versöhnlich waren, weise ich für die Koalitionsfraktionen ganz entschieden zurück. Der Bericht der Kinderkommission enthält viele hart erarbeitete Kompromisse. Das ist richtig. Das ist ein Geben und Nehmen bei einer solchen Gutachtenerstellung, aber die gemeinsame Sache, nämlich für die Verbesserung der Chancen unserer Kinder zu arbeiten, war uns diese oftmals mühevolle Arbeit wert.

(Beifall von Walter Kern [CDU])