Protokoll der Sitzung vom 17.12.2008

Es hilft nicht, lediglich darauf hinzuweisen, wie sich denn ein Jugendlicher angesichts der Überzahl von älteren Menschen wohl fühlen wird, sondern es geht darum, ganz konkret Möglichkeiten der Begegnung, des gemeinsamen Wohnens, des gegenseitigen Unterstützens zu schaffen. Hier sind Räume zu schaffen, in denen die Alten ihre Kompetenzen einbringen können. Da kann es sein, dass sie den Jugendlichen beim Vokabelnlernen helfen und dann im Anschluss von denselben Jugendlichen den Einkauf erledigt bekommen. Das ist ein fruchtbares

Miteinander der Generationen. Solche Möglichkeiten müssen wir mehr schaffen.

Menschen werden heute anders alt, zum Glück. Viele bleiben bis ins hohe Alter aktiv und wollen ihr Leben selbst gestalten und in die Hand nehmen. Dazu gehören der Wunsch nach einem eigenen Zuhause und oft auch der Wunsch nach Zusammenleben mit anderen Generationen. Stadtplanung, Infrastruktur- und Pflegeplanung vor Ort sind deshalb gefordert, auf diese veränderten Lebensentwürfe und Bedürfnisse zu reagieren.

Meine Damen und Herren, beim Sprechen über den Bevölkerungsrückgang in unserem Land wird ein Aspekt in der Regel völlig ausgeblendet. Das ist der weitgehend ignorierte demografische Trend, dass wir immer stärkere Abwanderung, und zwar Abwanderung von Deutschen, Abwanderung hochqualifizierter, Abwanderung junger, gut gebildeter Migrantinnen und Migranten, Abwanderung der Kinder und Kindeskinder der ehemaligen Gastarbeiter in Deutschland haben.

Herr Minister, ich fand es sehr enttäuschend, dass Sie als Migrations- und Integrationsminister diesen Aspekt nur am Rande erwähnt haben. Denn das ist ein wesentlicher Faktor, den wir wahrnehmen müssen und den wir, im Gegensatz zum Beispiel zur Geburtenrate, auch gestalten können.

Sie wissen es: Laut einer Studie des Krefelder Futureorg Instituts – die haben türkische und türkischstämmige Akademikerinnen und Akademiker befragt – wollen 38 % der in Nordrhein-Westfalen lebenden Türkischstämmigen auswandern. 42 % geben als Grund an, ihnen fehle hier das Heimatgefühl; denn wir lebten hier noch immer in einem Land, in dem Menschen mit Migrationsgeschichte benachteiligt werden.

Die Kinder haben schlechtere Chancen in unserem Bildungssystem. Der Übergang von der Schule in den Beruf ist erschwert. Der Weg auf den Arbeitsmarkt ist für Menschen mit Zuwanderungsgeschichte eben nicht gleichberechtigt. Nach wie vor gibt es die Vorrangprüfung, die deutsche und EU-Bürger begünstigt.

(Beifall von den GRÜNEN)

Es gibt kopftuchtragende Lehrerinnen, die ihren Beruf nicht mehr ausüben dürfen, nicht einmal mit Mütze.

Meine Damen und Herren, auch die Religionen haben in Deutschland – in Nordrhein-Westfalen – nicht dieselben Rechte. Kennt jemand von Ihnen einen islamischen Friedhof? Das gibt es nicht.

Stattdessen breitet sich zunehmend eine Islamphobie aus. 30 % der Deutschen wollen keine Zuwanderung von Muslimen. Über 50 % meinen, in Deutschland lebten zu viele Ausländer. Das zeigen uns auch die Studien von Heitmeyer aus dem letzten Jahr.

Viele Migrantinnen und Migranten reagieren auf die feindselige Haltung, die ihnen in unserem Land entgegenschlägt. Sie reagieren darauf mit einer inneren Distanz zu diesem Land. Das kann einen Rückzug in die Familien – auch in die Religion –, und das kann ebenfalls eine innere Emigration bedeuten.

Aber für viele bedeutet es – und das müssen wir im Zusammenhang mit der demografischen Entwicklung wahrnehmen – die Entscheidung zur Abwanderung.

Auf einer Veranstaltung der GrünenLandtagsfraktion hat der führende Migrationsforscher Deutschlands, Herr Professor Klaus Bade, einen Satz gesagt, den ich Ihnen nicht vorenthalten möchte. Er hat gesagt: 40 Jahre lang haben wir nicht wahrhaben wollen, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. – Jetzt wird in der gleichen Weise ignoriert, dass wir schon längst ein Abwanderungsland sind.

(Beifall von den GRÜNEN)

Aber wir sind nicht nur ein Auswanderungsland, sondern wir sind de facto mittlerweile auch kein Einwanderungsland mehr. Dafür gibt es zwei Gründe.

Erstens signalisieren wir mit der eben beschriebenen Haltung nach außen hin nicht, dass Zuwanderung für uns erwünscht ist. Es gibt hier keine Willkommenskultur. Die Mehrheitsgesellschaft hat ein größeres Problem mit der Integrationsfähigkeit als die meisten Migrantinnen und Migranten. Auch das müssen wir wahrnehmen.

Das ist übrigens auch ein Problem, das in dem „Aktionsplan Integration“ der Landesregierung völlig ignoriert wird. Dort werden lediglich an die Migrantinnen und Migranten Erwartungen und Anforderungen gerichtet.

Die rechtlichen Hindernisse für den Zuzug, das heißt für ein Bevölkerungswachstum, wurden so weit erhöht, dass wir demnächst wieder jeden einzelnen Zuwanderer an der Grenze mit einem Moped und einem Blumenstrauß begrüßen können.

Hochqualifizierte kommen kaum zu uns. Spätaussiedler, Familiennachzug, Zuzug von Jüdinnen und Juden aus Osteuropa – überall sind die Zahlen massiv eingebrochen.

(Vorsitz: Vizepräsidentin Angela Freimuth)

Wer heute als gut ausgebildeter junger Mensch die Koffer packt, der sucht sich nicht Deutschland als Ziel aus, sondern die USA, Kanada, Großbritannien oder die Schweiz.

Die Zahl der Kinder, die nach Nordrhein-Westfalen ziehen, hat sich zwischen 2002 und 2007 halbiert. Von den heiß umworbenen Hochqualifizierten kamen 2007 nur 24 aus dem Ausland nach NordrheinWestfalen. Ich wiederhole: 24 Personen.

Das, was ich beschreibe, sind gravierende Fehlentwicklungen, und für diese Fehlentwicklungen gibt es im Übrigen klare politische Verantwortlichkeiten.

Im Parteienspektrum ist es die CDU, die die Abschottung Deutschlands nach außen befördert und nach innen die Angst vor Überfremdung schürt. Wenn man sich die Personen ansieht, stellt man fest, dass die Protagonisten dieser Politik Roland Koch, Günther Beckstein und Otto Schily sind.

(Zurufe von der CDU)

Wenn die OECD in ihrem „Internationalen Migrationsausblick 2008“ feststellt, dass Deutschland bei der Zuwanderung das Schlusslicht unter den OECD-Staaten ist, muss man sagen, das ist ein Ergebnis der Politik dieser Leute. Das ist zum Schaden unseres Landes. Das ist, auch was die Deckung des Fachkräftebedarfs betrifft, schädlich.

(Zuruf von Christian Lindner [FDP])

Aber vor allem ist es auf längere Sicht für unsere demografische Entwicklung schädlich, und damit ist es schädlich für das friedliche Zusammenleben und Miteinander in unserem Land.

Meine Damen und Herren, an dieser Stelle gibt es eine Stellschraube, die wir bewegen und verändern können. Lassen wir über ein Zuwanderungsgesetz, das seinen Namen auch verdient, Zuwanderung zu! Nutzen wir die Chance, die der demografische Wandel uns bietet! Diese Chance liegt in einer Gesellschaft, die älter, aber auch bunter und vielfältiger sein wird. – Ich danke Ihnen.

(Beifall von den GRÜNEN)

Vielen Dank, Frau Kollegin Asch. – Als nächster Redner hat Herr Minister Laschet für die Landesregierung das Wort.

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Löhrmann, der Verlauf der Debatte, insbesondere die Wortbeiträge der Opposition, machen es, damit es überhaupt wahrgenommen wird, in der Tat fast schon erforderlich, dass man hier quasi Rollen über einen Tiger macht. Das war zwar als Witz gemeint, aber ich stelle fest, das war der rote Faden, der sich quer durch jeden Wortbeitrag zog.

Ich könnte Ihnen seitenlang vortragen, was jedes Ressort im Jahr 2008 gemacht hat. Ich könnte Sie mit Zahlen totschlagen. Aber ich hatte gedacht, dass SPD und Grüne auch einmal daran interessiert sind,

(Sylvia Löhrmann [GRÜNE]: Dann hätten Sie mit der Selbstbeweihräucherung aufhören müssen!)

der Öffentlichkeit und den Menschen den roten Faden durch die demografische Politik aufzuzeigen, die unser Land berührt – von der Bildungspolitik bis zur Gesundheitspolitik, von der Verkehrspolitik bis zur Baupolitik. Sie haben lieber Zahlen, die Sie erschlagen, die aber den Menschen nicht weiterhelfen, die genau diese Sorgen haben. So haben Sie hier auch argumentiert.

(Zuruf von Horst Becker [GRÜNE])

Ich verstehe Sie nicht, Herr Becker.

(Zuruf von Horst Becker [GRÜNE])

Das Zweite: Frau Asch hat hier unzulänglich versucht, aus diesem Thema eine integrationspolitische Debatte zu machen. Ich habe diesen Teil bewusst ausgespart, weil ich den Eindruck hatte, dass wir wenigstens in diesen Grundfragen in diesem Hause einig sind.

(Beifall von CDU und FDP)

Aber was Sie hier eben vorgetragen haben, Frau Asch, ist fern jeglicher Realität.

Sie beschreiben die sinkenden Zuwandererzahlen. – Ja, in der Tat sinken die. Die sinken aber, weil ein Gesetz der rot-grünen Landesregierung vom 1. Januar 2005

(Beifall von CDU und FDP)

für die Hochqualifizierten viel zu hohe Hürden vorgesehen hat. Die Bundesregierung hat diese Hürden gerade gesenkt.

Wir haben auch in Nordrhein-Westfalen gesagt: Wir wollen qualifizierte Zuwanderung. Wir wollen eine Willkommenskultur. Wir unternehmen viele Anstrengungen mit den Kommunen, damit sich das Klima in den Kommunen für Integrationspolitik verändern kann.

Herr Minister.

Wir haben dieses Thema überhaupt erst auf die Tagesordnung gebracht. Wir sagen: Wir wollen jedem einzelnen hier geborenen Kind Möglichkeiten der Bildung geben. Wir fördern als einziges Land schon Vierjährige in der Sprache. Und Sie sagen: Wir strahlen keine Willkommenskultur aus. Frau Asch, das ist …

Herr Minister, entschuldigen Sie, dass ich Sie unterbreche. Der Abgeordnete Becker würde Ihnen gern eine Zwischenfrage stellen. Lassen Sie die zu?

Ich komme kaum zum Luftholen, um all die Absurditäten zu beschreiben, die

Frau Asch gerade vorgetragen hat. Aber, Herr Becker, vielleicht ist es sachlicher.