Protokoll der Sitzung vom 18.03.2009

(Beifall von den GRÜNEN)

Ich möchte bei der grundsätzlichen Problematik zwei wesentliche Bereiche unterscheiden. Das eine ist die materielle Armut, und das andere ist die strukturelle Armut.

Die Zahlen zur materiellen Armut, also diejenigen, die belegen, wie viele Kinder in ihrer eigenen Lebenssituation zu wenig Geld haben, brauche ich nicht zu wiederholen, da sie im Laufe der Debatte bereits genannt wurden. Ich will nur noch einmal die Quote der Kinderarmut nennen: Im März 2007 betrug sie 18 %, im Juni 2008 17,8 %.

In diesem Zusammenhang will ich die wirtschaftliche Situation ansprechen. Die Arbeitslosigkeit nimmt im Moment drastisch zu; in vielen Branchen wird Kurzarbeit eingeführt. Vor diesem Hintergrund wissen wir, dass diese Zahlen Zahlen von gestern sind, dass die Kinderarmut infolge der Erwerbslosigkeit der Eltern drastisch zunehmen wird

(Beifall von Rüdiger Sagel [fraktionslos])

und dass wir in einem Jahr Zahlen haben werden, die ganz anders aussehen als die heutigen; diese Zahlen werden eine ganz andere Dimension aufweisen. Deswegen finde ich es wichtig, dass wir nachher nicht nur über Konzepte reden, die sozusagen nach dem Motto „Business as usual“ gestrickt sind, sondern dass wir über Konzepte nachdenken, die über das hinausgehen und ganz aktuell auf die Wirtschaftskrise reagieren. Wir dürfen also nicht nur über die Rettungsschirme für die Banken und die Wirtschaft reden, sondern müssen auch über die Rettungsschirme reden, die für unsere Kinder in Nordrhein-Westfalen notwendig sind.

Ich komme auf die besonderen Faktoren zu sprechen, die zu Kinderarmut führen; Herr Minister Laumann hat sie eingangs in seinem Statement benannt. Betroffen sind die Kinder von Alleinerziehenden, die Kinder mit Zuwanderungsgeschichte, und es sind die Kinder aus Familien mit mehr als drei Kindern.

Jetzt steht am Anfang des Berichts: Der Bericht soll Transparenz schaffen, und wir brauchen neue Impulse. – Ich glaube nicht, dass bezogen auf die materielle Armut neue Impulse notwendig sind. Bezogen auf die materielle Armut ist es notwendig,

dass endlich den Analysen, die auf dem Tisch liegen und von allen anerkannt sind, Taten folgen und dass wir es umsetzen.

(Beifall von GRÜNEN und SPD)

Ich möchte an der Stelle noch einmal betonen: Nicht nur das Bundesverfassungsgericht hat es jetzt allen ins Stammbuch geschrieben, dass Kinder keine kleinen Erwachsenen sind, dass sich ihre Bedürfnisse nicht prozentual vom Bedarf eines Erwachsenen ableiten lassen. Kinder haben 100 % Bedarfe für Kinder. Kinder haben nicht 60 oder 80 % Bedarf eines Erwachsenen, und das gilt unabhängig vom Alter. Das hat Minister Laumann – auch auf unser Drängen hin – dankenswerterweise auch hier in Nordrhein-Westfalen mit einer Arbeitsgruppe bis ins Detail festgehalten.

(Beifall von GRÜNEN und CDU)

Es war auch richtig, diese Bundesratsinitiative zu starten; ich muss Sie dafür loben, denn das war hervorragend. Aber was kam dann? – Meine Bundestagsfraktion hat die Bundesratsinitiative im Bundestag zur Abstimmung gestellt.

(Minister Karl-Josef Laumann: Das war der Fehler!)

Und? Wie ist die namentliche Abstimmung verlaufen? – Sie können es gerne im Protokoll nachlesen. Es war nicht nur die CDU-Fraktion einschließlich der nordrhein-westfälischen Abgeordneten, die den Antrag in Gänze abgelehnt hat, sondern auch die SPD-Fraktion, die diesen Antrag abgelehnt hat.

(Minister Karl-Josef Laumann: Weil ihr den eingebracht habt!)

Das heißt, Sie machen da, wo es nichts kostet, die Politik und fordern, die Regelsätze zu erhöhen und neu zu ermitteln. Aber da, wo es Geld kostet, nämlich im Bundestag, setzen Sie sich auf die Hände und stimmen nicht zu.

(Beifall von den GRÜNEN)

Das ist – so finde ich – verlogen.

Deswegen kann ich nur Britta Altenkamp zustimmen, will aber auch in Richtung der SPD appellieren: Wir möchten wissen, welche Taten daraus folgen! Denn nur einstimmige Bundesratsinitiativen, die dann in der Schublade versanden, die nur als Alibi dienen, weil Maßnahmen Geld kosten, das kann es nicht sein.

Herr Minister Laumann, man kann sagen, es ist schön für die Sechs- bis Dreizehnjährigen, dass sie jetzt 70 % bekommen; klar. Ich gönne jedem Kind und den Eltern jeden Cent, der oben draufkommt, auch jetzt bei den Erhöhungen, weil wir wissen, dass der Gesamtbetrag ohnehin weit unterhalb des Existenzminimums liegt. Aber man kann nicht im Rahmen eines Konjunkturpakets eine Altersgruppe herausnehmen, ihr eine Erhöhung gewähren, wäh

rend alle anderen auf diesen defizitären Regelsätzen sitzen bleiben.

(Beifall von den GRÜNEN)

Das geht so nicht.

Wir müssen hier an die Struktur ran. Ich weiß, Sie sind da an meiner Seite. Aber dann müssen wir an der Stelle auch gemeinsam als Parlament überlegen, wie man über diese Bundesratsinitiative hinaus auch die eigenen Parteien – das meine ich in Ihre Richtung –, die eigenen Fraktionen im Bundestag mobilisieren kann, damit es eine übergreifende Initiative gibt. Unsere Bundestagsfraktion ist dazu jederzeit bereit. Es müssen Taten folgen, anstatt dass es bei schönen Worten bleibt.

(Beifall von den GRÜNEN)

Materielle Armut dokumentiert sich aber nicht nur an der Höhe der Regelsätze, sondern materielle Armut tritt ebenso in der Wohnsituation, im Wohnumfeld zutage. Wenn Sie hineinschreiben, eines der Ziele sei eine gesunde Lebensumwelt, dann frage ich mich: Was bedeutet das außer schöne Worte?

Kinder leiden unter Bewegungsarmut, weil sie in Stadtteilen wohnen, in denen man sich nur in der eigenen Wohnung bewegen kann. Sie sind von der Feinstaubbelastung sowie Luftbelastungen in unterschiedlichster Art betroffen. Wir haben die Lärmbelastungen für die Kinder. Angesichts dieser vielfältigen Belastungen muss man definieren, was gesunde Umwelt heißt und welche Konsequenzen das für die Umweltpolitik, für die Verkehrspolitik und für die anderen Politikbereiche nach sich ziehen muss.

Ich sehe, dass runde Tische, interministerielle Arbeitsgruppen nett sind. Ich habe bisher aber nicht ein einziges Mal gehört, dass der Umweltminister und der Verkehrsminister daraus Schlüsse ziehen. Vielleicht wird der neue Verkehrsminister ja anders handeln als der alte; bei dem alten war von Handeln nicht viel zu spüren, denn was er gemacht hat, war keine kindergerechte Verkehrspolitik.

(Beifall von den GRÜNEN)

Materielle Armut der Kinder bekämpfen heißt aber auch, die Armut der Eltern zu bekämpfen. Das heißt, man muss sich der Frage des Mindestlohns stellen. Es nützt nichts, Eltern in Niedriglohnsektoren arbeiten zu lassen und gleichzeitig darüber zu klagen, dass die Aufstockung der Kinderleistungen über staatliche Mittel geschieht. Wir müssen diesen Punkt angehen und müssen endlich einen generellen Mindestlohn einziehen, damit Niedriglohnbereiche nicht mehr in dem Maße vorkommen.

Und Minister Laumann hat es schon gesagt: Armut kommt auch aufgrund der Erwerbslosigkeit der Eltern zustande. Alleinerziehende sind stark betroffen. Aber das erfolgreichste Programm, das wir in dem Bereich für Frauen hatten, das Wiedereingliederungsprogramm in den ersten Arbeitsmarkt, haben

Sie eingestellt. Das Arbeitsmarktprogramm hatte höhere Quoten bei der Vermittlung in den ersten Arbeitsmarkt als alle anderen.

Dafür gibt es jetzt ein „Netzwerk W“, das aber nicht in den ersten Arbeitsmarkt vermittelt.

(Minister Armin Laschet: Wir sind aber erfolg- reicher!)

Nein, das „Netzwerk W“ ist nicht erfolgreicher. Es hilft denjenigen, die schon soweit,

(Minister Armin Laschet: Die Frauenerwerbs- quote steigt!)

sich im Internet durchfragen können. Aber es hilft nicht bei der Kinderbetreuung, die man individuell benötigt. Es hilft nicht bei den Rahmenbedingungen und der individuellen Fort- und Weiterbildung während des Ausstiegs. Es ist ein Tropfen auf den heißen Stein, aber keine wirkliche Lösung, genauso wie der auf Bundesebene beschlossene Kinderzuschlag an der materiellen Armut nichts ändert, sondern nur das Allerärgste geringfügig abfedert.

Wenn wir jetzt neben der materiellen Armut auch über die strukturelle Armut reden – meine Kollegin wird dazu gleich noch etwas unter dem Stichwort Kindergarten sagen – und uns den Bereich Schule ansehen, dann wird in Ihrer Analyse klar, dass auf dem Feld der Bildung ein massives Problem liegt. Aber in der Konsequenz daraus, was das heißt, was wir am Schulsystem verändern müssen, bleiben Sie bei Ihrer Lebenslüge des sozial spaltenden Schulsystems.

(Beifall von den GRÜNEN)

Sie halten an diesem Schulsystem fest, statt das zu machen, was notwendig wäre.

(Ralf Witzel [FDP]: Sie sind der Spaltpilz im Bildungssystem!)

Sie haben aber auch in anderen Bereichen wie dem warmen Mittagessen in der Schule für einige Kinder eine Lösung, es ist aber keine systemische Lösung. Sie gilt nicht flächendeckend für alle Kinder. Es ist ein Flickenteppich. An anderen Stellen wehren Sie sich immer gegen Modelle und Flickenteppiche, hier produzieren Sie selber einen, und zwar einen, der den Hunger bei den Kindern zur Folge hat. Das ist aus unserer Sicht nicht ausreichend.

Sie sagen in Ihrem Bericht selber: Bei der Beratung und Unterstützung von Familien fehlt es an vielen Dingen. Man muss sich nur angucken, wie lange die Wartezeiten für Erziehungsberatung sind, wie lange die Wartezeiten sind, um niedrigschwellige Beratung zu bekommen – ganz niedrigschwellige Beratung wie die durch die Arbeitslosenzentren haben Sie mit der Abschaffung dieser Zentren auch noch gestrichen. Uns fehlt eine Beratungsstruktur für diese Leute.

(Beifall von den GRÜNEN)

Auch bei der Weiterbildung, genau da, wo es niedrigschwellige Angebote geben kann und soll, haben Sie die Sockelfinanzierung gekürzt. Überall, wo es notwendig ist, streichen Sie und schreiben über irgendwelche Sachen, die Sie angeblich nett machen.

Zu den von Frau Altenkamp eben zitierten Beispielen! – „Jedem Kind ein Instrument“: Es gibt Schulen, die haben nicht einmal die Räumlichkeiten dafür. Da kommt überhaupt kein Kind in den Genuss eines Instrumentes. Das sind immer alles Partialprogramme, die aber nicht in die Fläche wirken,

(Minister Karl-Josef Laumann: Besser als eu- re Projekte!)

die nicht nachhaltig sind. Es ist das größte Problem, dass wir hier Nachhaltigkeit schaffen müssen – und das auch in anderen Bereichen.

Ein Punkt, bei dem es auch immer wieder Probleme gibt, ist die Förderung von Migrantinnen und Migranten. Wir haben nach wie vor zu wenig Frühförderung. Und die Schulzuweisungen führen nach wie vor zu einer frühen Stigmatisierung der Kinder. Das sind die Punkte, bei denen wir sie auf die Bahn setzen, was nicht ihren Kompetenzen und Fähigkeiten entspricht. Hier brauchen wir eine andere Politik. Hier brauchen wir eine Umkehr.

(Beifall von den GRÜNEN)