Mir ist nämlich nicht bekannt, dass irgendjemand in Deutschland das Zweistimmenwahlsystem als eine absolute Errungenschaft zur Stärkung der Demokratie bezeichnet hätte. Ganz im Gegenteil: Die bei Wahlen mittlerweile üblichen Zweitstimmenkampagnen haben immer eher dazu geführt, dass kleinere Parteien als weniger eigenständig wahrgenommen wurden.
Zudem haben solche Kampagnen bei Wahlen bei den kleinen Parteien zu einer Personalfixierung auf den Spitzenkandidaten geführt.
Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die Bustourneen von Herrn Westerwelle und Herrn Fischer. Eine solche Personalfixierung hat in den
letzten Jahren bei den kleinen Parteien aber nicht gerade zu einer programmatischen Stärkung beigetragen.
Das führt mich zu der zweiten Frage: Warum wollen die kleinen Parteien dann noch ein Wahlsystem ändern, das sich zudem in den letzten Jahrzehnten bewährt hat? Die Antwort ist ganz profan: Sie glauben zutiefst an den taktischen Wähler.
Mir hat noch niemand beweisen können, dass die kleinen Parteien in den Ländern, in denen ein Einstimmenwahlrecht praktiziert wird - das sind neben Nordrhein-Westfalen noch Baden-Württemberg, Bremen und das Saarland -, besser oder schlechter als in Ländern mit Zweistimmenwahlrecht abgeschnitten haben. Insofern kann ich Sie beruhigen: Die SPD als große Volkspartei hat hier, wie sicherlich auch die CDU, alles andere als Angst vor Stimmenverlusten.
Meine dritte Frage besteht darin, wie sich die Einführung der Zweitstimme tatsächlich auf die Wahlbeeinflussung durch die Kandidatinnen und Kandidaten auswirkt. Diese Frage scheint mir wissenschaftlich zu wenig geklärt, um vorschnell eine Entscheidung treffen zu können. Deswegen müssen wir diese Frage im Rahmen der Ausschussberatung gründlich klären, bevor wir gemeinsam zu einer abschließenden Entscheidung kommen.
Wenn wir also als Parlament die Einführung der Zweitstimme verfolgen wollen, dann müssen wir vorab diese Punkte klären. Eine Beratung muss unter Beteiligung der Parteien stattfinden. Es müssen die Vorteile eines Zweistimmenwahlsystems für das demokratische System untersucht und dargelegt werden, bevor wir ein System ändern, das sich historisch bewährt hat. Darüber hinaus muss die Wahlbeeinflussung durch die Kandidatinnen und Kandidaten wissenschaftlich geklärt werden.
Ich freue mich auf die Beratungen und Ausführungen im Ausschuss und danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bin natürlich zunächst einmal erfreut, dass vonseiten der Grünen so viel Unterstützung für die Reformvorhaben der Koalitionsfraktionen kommt. Das können Sie
gerne auch auf anderen Politikfeldern bei der Umsetzung von Verabredungen des Koalitionsvertrages so handhaben. Sie sind inhaltlich sicherlich nicht schlecht beraten, wenn Sie auch dort noch mit auf den fahrenden Zug aufspringen.
Wie wichtig Ihnen dieses Anliegen wirklich ist, können wahrscheinlich nur Sie für sich bewerten. Sie haben zehn Jahre lang, als Sie die Gestaltungsmöglichkeit für dieses Land hatten, nichts, aber auch gar nichts unternommen, um an dieser Stelle glaubwürdig einen Schritt nach vorne zu machen.
Insofern unterscheidet sich unsere Haltung zu diesem Thema schon nicht wenig von dem, was Frau Düker vorgetragen hat; denn es geht im Ergebnis ja nicht nur um die Frage, ob man ein Zweistimmenwahlrecht will oder nicht, sondern auch darum, mit welchen Ansprüchen man es verbindet. Sie haben das hier eben vorgetragen. Sie erhoffen sich für die Grünen einen positiven Stimmeneffekt zulasten der SPD. Deshalb hat die SPD mit großen Reserven darauf reagiert. Das sieht sie nicht gerne.
Das ist bei uns anders. Sie haben auf die letzte Bundestagswahl hingewiesen. Gerade da gab es in der Tat ein bewusst taktisches Vorgehen von FDP und CDU in Bezug auf den wechselseitigen Austausch von Wählermengen. Von daher haben wir nicht Leihstimmen der CDU bekommen, sondern uns wechselseitig geholfen, um dem Partner für eine Verabredung einer zukünftigen Koalition an der Stelle zu helfen, wo das notwendig war. Insofern haben wir in vielen Wahlkreisen zwei Drittel unserer ursprünglichen Erststimmen dem CDU-Kandidaten gegeben,
weil wir für einen Politikwechsel im Bund gestanden haben. Es gab aber sicherlich auch Zweitstimmeneffekte in der anderen Richtung. Diese partnerschaftlich verabredete Strategie ist aber ein anderer Anspruch als das von Frau Düker hier vorgetragene zukünftige Schielen der Grünen nach Zweitstimmen von SPD-Wählern. Es ist auch ein anderer Anspruch, den wir als selbstbewusste Partei haben, wie man auf partnerschaftlicher Augenhöhe mit dem Thema umgeht.
Eingebettet ist dieser Vorstoß in einen Gesamtkontext demokratischer Erneuerung, zu dem Ihnen viel Wegweisendes auch unser Innenminister fachlich gleich noch darlegen wird. Es ist für Nordrhein-Westfalen notwendig, dass wir das in verschiedenen Bereichen des Wahlrechts in Nordrhein-Westfalen nach 40 Jahren politischer Mono
struktur verabredet haben. Insofern ist die Wahlrechtsänderung mit Einführung der Zweitstimme kein singuläres Element, sondern sie passt in den Kontext von mehr Bürgerbeteiligung, erweiterter Artikulationsmöglichkeiten im Kommunalwahlrecht und zu all den anderen Punkten, die der Koalitionsvertrag vorsieht, damit wir eine lebendige Demokratie bekommen, die zum Mitmachen einlädt und den Bürgern ein differenziertes, sachgerechtes Abstimmungsverhalten über die Punkte ermöglicht, bei denen sie sich politisch einbringen wollen.
Uns ist es wichtig, dass wir eine gezielte Wahlentscheidung bei der nächsten Landtagswahl bekommen, dass wir zwischen der allgemeinen politischen Grundüberzeugung auf der einen Seite und ganz konkreten lokalen Kandidatenentscheidungen - nach Kandidatenpräferenz - auf der anderen Seite differenzieren können. Das ist im Übrigen gar nicht revolutionär, wenn man bedenkt, dass die Mehrzahl der Bundesländer in Deutschland nach meinem Kenntnisstand das Zweitstimmenwahlrecht als das gebräuchlichere Wahlsystem bereits praktiziert.
Wahlrechtsänderungen vollzieht man allerdings nicht tagtäglich im Schweinsgalopp. Das Wahlrecht hat eine grundlegende Bedeutung auch für den weiteren Bestand der Demokratie. Das sieht man immer dann, wenn es zu Missbräuchen an dieser Stelle kommt. Deshalb ist es uns wichtig, dass wir nicht aus einer Stimmungslage heraus einzelne Punkte abarbeiten, sondern dass wir in der Tat ein verschiedene Reformpunkte umfassendes Gesamtpaket verabschieden. Da ist Ihr Antrag nicht weitgehend genug.
Wenn Sie in unseren Koalitionsvertrag schauen, was als Gesamtpaket verabredet worden ist, dann sehen Sie, dass wir uns mit weiteren Fragen beschäftigen, dass wir nicht nur die Harmonisierung des Wahlrechts im Auge haben, wie Ihnen Frau Keller das dargestellt hat - ausgehend von den Lückenschlüssen, festgemacht an dem auch von Frau Düker erwähnten todesfallbedingten Nachwahlszenario in Dresden -, sondern dass wir Wahlrechtsänderungen in den Gesamtkontext einer größeren Gerechtigkeit im Wahlkreiszuschnitt einbetten wollen.
Wir wollen Veränderungen in der Wählerstruktur zeitnäher zum nächsten Wahltermin in Rechnung stellen, sodass es aus unserer Sicht zweckmäßig ist, die Entscheidungen auf einer besseren Datenlage zu treffen, wie es der gesetzliche Überprüfungstermin für den Herbst 2007 vorsieht, auch wenn wir die Debatte zum heutigen Zeitpunkt nicht scheuen.
Insofern ist der von Ihnen vorgeschlagene Zeitpunkt ungünstig und Ihr Vorschlag zur Gesetzesänderung bezüglich der Ziele, die wir verfolgen, unvollständig. Wir präferieren eher den großen Wurf statt kleiner Kleckerei.
Was den Punkt Zweitstimmwahlrecht angeht, ist das, was Sie vonseiten der Grünen vorgelegt haben, eine erste Diskussionsgrundlage. Sie wird in den gesamten Beratungsprozess über Wahlrechtserneuerungen sicherlich miteinfließen. Ich bin mir sehr sicher, da wir einen sehr engagierten Innenminister haben, was die Demokratisierung angeht, inklusive all der Fragestellungen, mit denen wir uns an anderer Stelle noch beschäftigen - mehr Mitwirkungsmöglichkeiten in der Kommune etc. -, dass wir bis zum Ende der Legislaturperiode zu einem guten Ergebnis kommen.
Eine letzte Bemerkung, Herr Präsident! Wir werden uns mit Ihrem konkreten Vorschlag sachgerecht auseinander setzen. Sie werden uns aber zugestehen, dass wir auch für das Gesamtpaket all die Forderungen mit einbringen, die uns am Herzen liegen, um das Wahlrecht möglichst qualitativ weiterzuentwickeln.
Vielen Dank, Herr Abgeordneter Witzel für Ihren Beitrag. - Für die Landesregierung spricht der Innenminister, Herr Dr. Wolf.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Natürlich begrüßt auch die Landesregierung, dass die Grünen mit ihrem Entwurf ein Ziel der Koalitionsvereinbarung umsetzen wollen. So viel Einigkeit ist selten und kann natürlich auch nicht schaden. Mich erstaunt jedoch, dass die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen sich ausgerechnet jetzt so vehement für diesen Antrag einsetzt. Wenn ich mich richtig erinnere, haben Sie bis zum Mai dieses Jahres Nordrhein-Westfalen zehn Jahre regiert; Sie hätten das Zweitstimmenwahlrecht also längst haben können. Manchmal frage ich mich ernsthaft, ob es Ihnen wirklich um die Sache oder um reine Symbole geht.
Die Einführung einer zweiten Stimme bei der Landtagswahl ermöglicht den Wählerinnen und Wählern eine bessere Differenzierung hinsichtlich der individuellen Personenwahl und der generellen Wahl einer Partei oder Wählergruppe. Das
Einstimmenrecht bei der Wahl des Landesparlamentes gibt es außer in Nordrhein-Westfalen - das wurde erwähnt - nur noch in drei anderen Ländern: in Baden-Württemberg, in Bremen und im Saarland. Es liegt nahe, der Dreiviertelmehrheit der anderen Länder zu folgen.
Was gegen den Gesetzentwurf der Grünen spricht, ist erstens der Zeitpunkt und zweitens - das ist schon erwähnt worden - die inhaltliche Beschränkung auf eine einzige Regelung, nämlich die Einführung der Zweitstimme.
Die nächste Landtagswahl steht erst für 2010 an. Damit die Wählerinnen und Wähler bei dieser Wahl eine zweite Stimme abgeben können, sollte das Landeswahlgesetz bis 2008 geändert sein. Das heißt, wir haben noch entsprechenden Vorlauf. Dann erst bedarf auch ein weiteres Vorhaben zum Landeswahlrecht der Realisierung: die Neueinteilung von Landtagswahlkreisen durch Änderung des Wahlkreisgesetzes. Auch das ist Ziel der Koalitionsvereinbarung.
Gemäß dem Wahlkreisgesetz vom 3. Februar 2004 hat das Innenministerium dem Landtag innerhalb von 27 Monaten nach Beginn der Wahlperiode über die Bevölkerungszahlen im Wahlgebiet zu berichten und darzulegen, ob und welche Änderungen es für geboten hält. Herr Witzel hat schon zu Recht ausgeführt, dass es dafür noch Zeit braucht. Diese Frist endet im September 2007. Mit der Beratung von Änderungen des Wahlkreisgesetzes sollte sinnvollerweise begonnen werden, nachdem ich meinen Bericht mit neuen Zahlen vorgelegt habe.
Einer Änderung des Landeswahlgesetzes stehen gegenwärtig auch inhaltliche Gründe entgegen. Es sind nämlich weitere Punkte zu bedenken, hinsichtlich deren aktueller Regelung die weitere Entwicklung abgewartet werden sollte.
So ist mit Änderungen des Bundeswahlgesetzes zu rechnen. Frau Düker, Sie wollten wissen, was das so sein könnte. Da ist einmal die Reduzierung todesfallbedingter Nachwahlen. Aber wir haben auch das Problem, dass eventuell parteifremde Bewerber auf einer Landesliste auftauchen können. Wir haben das Problem, dass ein neues System der Sitzverteilung zur Diskussion stehen könnte. Auch das Ausfüllen eines irrtümlich ausgegebenen Stimmzettels aus einem fremden Wahlkreis war Thema bei der Bundestagswahl. Da sind noch einige Punkte, die geregelt werden müssen. Diese sollten bei der Änderung des Landeswahlgesetzes möglicherweise als Gründen der Wahlrechtsharmonisierung berücksichtigt werden.
Derzeit wird im Bundesrat eine Gesetzinitiative zur Änderung des Bundeswahlgesetzes beraten, mit der aus Anlass der Nachwahl in Dresden bei der letzten Bundestagswahl todesfallbedingte Nachwahlen durch Mitwahl von Ersatzbewerbern für Direktkandidaten weitestgehend verringert werden sollen. Eine dahin gehende Regelung sollte auch im Landeswahlgesetz erfolgen. Die Änderung des Bundeswahlgesetzes wird voraussichtlich aber nicht allein den Punkt der Nachwahl treffen; das habe ich ausgeführt. Deswegen warten wir auch da ab, was noch auf uns zukommt.
Ich werde rechtzeitig einen Gesetzentwurf zur Änderung des Landeswahlgesetzes vorlegen, der alles das enthalten wird, was regelungsbedürftig ist. Zur parlamentarischen Beratung wird ausreichend Gelegenheit bestehen.
Für mich ist die Änderung des Kommunalwahlgesetzes im Hinblick auf die ein Jahr vor der nächsten Landtagswahl stattfindende Kommunalwahl zeitlich vorrangig. Hierzu werde ich schon im kommenden Jahr einen Gesetzentwurf erarbeiten lassen. Er wird insbesondere die in der Koalitionsvereinbarung getroffenen Absprachen berücksichtigen, aber auch Erfahrungen in der Wahlpraxis sowie Erfordernissen der Wahlrechtsharmonisierung Rechnung tragen. - Ich danke Ihnen, meine sehr geehrten Damen und Herren.
Vielen Dank, Herr Innenminister, für Ihren Beitrag. - Für die Grünen hat sich noch Frau Löhrmann gemeldet. Bitte schön, Frau Löhrmann.
Erstens. Wir bedanken uns für alle Hinweise, die dazu beitragen, dass unser Gesetzentwurf noch besser gemacht wird.
Der zweite Punkt ist an die FDP gerichtet: Manchmal müssen die Kleinen auch zusammenhalten. Wir sind etwas in Sorge, dass das, was Sie durchgesetzt haben, im Laufe des Verfahrens aufgrund der sich verändernden Bedingungen möglicherweise verloren geht. Wir haben gedacht: Wenn was im Sack ist, sollte man ihn möglichst schnell zumachen, damit die Dinge für die Zukunft geregelt sind.
letzten Legislaturperiode: Da gab es einen Gesetzentwurf der CDU zur Einführung der Zweitstimme, den die FDP damals unter Möllemann auf dem Weg zur Volkspartei abgelehnt hat, weil sie sagte: Wir schaffen das. Wir brauchen keine Zweitstimmen mehr. - So verändern sich die Dinge manchmal ein bisschen.
Am meisten hat mich aber der Beitrag der Kollegin der SPD gewundert. Unsere Partei hat die Einführung der Zweitstimme im Wahlprogramm beschlossen. Wir als Fraktion dieser grünen Partei sind natürlich diejenigen, die einen Gesetzentwurf im Parlament zur Umsetzung einbringen. Da verstehe ich die Differenzierung zwischen Partei und Fraktion überhaupt nicht.
Wenn Sie sich so viele Sorgen um die Kleinen machen, werde ich immer ganz hellhörig. Sie haben darauf hingewiesen, dass die Kleinen mit den Spitzenkandidaten vielleicht nicht so agieren sollten. Vor dem Hintergrund, welche Rolle Herr Steinbrück im Landtagswahlkampf und Herr Schröder im Bundestagswahlkampf für die SPD gespielt haben, wäre ich sehr vorsichtig, welche Partei aufgrund dieses Umstands programmatisch vielleicht Nachholbedarf in der politischen Diskussion hätte. - Herzlichen Dank.