Protokoll der Sitzung vom 04.11.2009

Wir kommen zur Abstimmung. Die antragstellenden Fraktionen von CDU und FDP haben um direkte Abstimmung gebeten, sodass wir direkt über den Inhalt des Antrags Drucksache 14/10014 abstimmen können. Wer dem Inhalt des Antrags zustimmen möchte, bitte Handzeichen geben. – Das sind die Abgeordneten der Fraktion der CDU und der Fraktion der FDP. Gegenstimmen? – Das sind die Abgeordneten der Fraktion der SPD, der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen sowie der fraktionslose Abgeordnete Sagel. Gibt es Enthaltungen zu diesem Antrag? – Das ist nicht der Fall. Damit ist der Antrag angenommen, und wir sind am Schluss von Tagesordnungspunkt 2.

Ich rufe auf:

3 CDU und FDP machen den Weg zu Lohndumping frei – Abschied von Mindestlöhnen, Ausweitung prekärer Beschäftigung

Antrag der Fraktion der SPD Drucksache 14/10020

Ich eröffne die Beratung und erteile für die antragstellende Fraktion der SPD dem Abgeordnetenkollegen Garbrecht das Wort. Bitte schön, Herr Kollege Garbrecht.

(Unruhe)

Alle diejenigen, die den Saal aufgrund dringender Verpflichtungen verlassen, darf ich bitten, das leise zu tun, damit wir die Beratungen hier fortsetzen können.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren – jedenfalls diejenigen Damen und Herren Abgeordnete, die mir noch zuhören wollen! Die Krise trifft besonders die Menschen mit geringen Einkommen, diejenigen, die sich in prekären und befristeten Arbeitsverhältnissen befinden, in der Leiharbeit.

„Die Betriebe müssen atmen können“, so lautet eine wohlfeile Formulierung. Ja, sie haben geatmet und

60.000 Leiharbeitnehmer ausgeatmet. Sie sind hier in Nordrhein-Westfalen in die Arbeitslosigkeit entlassen worden. Befristete Arbeitsverhältnisse laufen aus und werden nicht verlängert; ihre Zahl ist erheblich. Auch diese Menschen blicken in eine ungewisse und unsichere Zukunft.

Wenn diese Menschen in den Koalitionsvertrag von Schwarz-Gelb blicken, dann sehen sie wirklich schwarz. Für diese Menschen gibt es keinen Lichtblick, im Gegenteil. Größere Lasten kommen auf sie zu, nicht ein Mehr an sozialer Absicherung, was notwendig wäre, sondern ein Weniger. Das ist Ihre Botschaft an die Betroffenen. Sie setzen einen Zug auf die Schiene, der in die falsche Richtung fährt, aber dafür mit Volldampf.

(Beifall von der SPD)

Sie vertrauen den Stimmen, die heute prognostizieren, die Krise sei vorüber, das Wachstum komme. Sie vertrauen denjenigen, die bei der Prognose dieser Krise jämmerlich versagt haben.

Als Zugführer in Berlin haben Sie jemanden bestimmt, der in seiner früheren Tätigkeit als Minister eher als Wortakrobat auffiel. Dazu hat die „Financial Times“ vom 30. Oktober in einer Karikatur schon einen Formulierungsvorschlag gemacht: In Deutschland gibt es keine Arbeitslosigkeit, nur Leute ohne Jobs. – Ich habe nicht gedacht, dass sich schon vier Tage später die Befürchtungen bewahrheiten, wobei die „Rheinische Post“, in der Tat kein der Sozialdemokratie nahe stehendes Presseorgan in diesem Land, über den ersten öffentlichen Auftritt dieses Ministers resümierend feststellt: Er präsentierte sich als ein Minister des Ungefähren und Ungenauen.

Er hatte von der Verlängerung der Kurzarbeit über 24 Monate hinaus gesprochen. Nachträglich mussten ihn seine Pressesprecher korrigieren und klarstellen, es ginge nicht um die Verlängerung der Kurzarbeit über 24 Monate hinaus, sondern nur um die Prüfung, ob eine Verlängerung der Frist über den 31. Dezember 2009 hinaus möglich wäre.

Ich stelle hier noch einmal fest: Wir Sozialdemokraten wollen die Bezugsdauer auch im nächsten Jahr fortsetzen – nicht „prüfen“ wie Sie – und diese für Betriebe, die ihre Kurzarbeitenden weiterbilden, auch über 24 Monate hinaus verlängern.

Ich sage an dieser Stelle: Wir brauchen auch eine geförderte Altersteilzeit als Beschäftigungsbrücke für jüngere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Deshalb muss sie fortgesetzt werden. Das ist das, was Sie kategorisch ausschließen. Im Koalitionsvertrag steht etwas über die Verlängerung der Erwerbsbetätigung Älterer. Das ist nichts weiter als reine Augenwischerei und als eine Worthülse.

(Beifall von Svenja Schulze [SPD])

Im Übrigen ist es der Voraussicht von Sozialdemokraten zu verdanken, dass für die Arbeitnehmerin

nen und Arbeitnehmer ein Schutzschirm zur Beschäftigungssicherung in Deutschland existiert.

Wie hieß es noch gleich, nur, um es noch einmal in Erinnerung zu rufen? Ein Minister des Ungefähren und des Ungenauen. Das lässt nichts Gutes erwarten. Denn Schwarz-Gelb stellt sich blind für die brennenden sozialen und ordnungspolitischen Fragen von Armutslöhnen und Lohndumping.

Die Instrumente zur Schaffung und Sicherung existenzsichernder Löhne werden entschärft. Die bereits eingeführten Mindestlöhne stehen unter einem Vorbehalt. Es ist davon auszugehen, dass es keine neuen Branchen gibt, die in das Arbeitnehmerentsendegesetz aufgenommen werden. Nach diesem Gesetz wird neuen Mindestlöhnen eine Abfuhr erteilt. Durch ein doppeltes Veto der Arbeitgeber im Tarifausschuss und der FDP im Kabinett werden Mindestlöhne wirklich zu Grabe getragen.

Sie grenzen befristete Beschäftigung nicht ein, sondern ebnen den Weg in Kettenarbeitsverträge. Das gesetzliche Verbot sittenwidriger Löhne ist wirklich reine Augenwischerei. Schon heute sind Löhne, die Tariflöhne oder ortsübliche Löhne um mehr als ein Drittel unterschreiten, nach höchstrichterlicher Rechtsprechung sittenwidrig.

(Vorsitz: Präsidentin Regina van Dinther)

Das gesetzliche Verbot sittenwidriger Löhne ist keine Antwort auf die Forderung nach flächendeckenden Mindestlöhnen. Es ist nicht geeignet, die Negativentwicklungen in diesem Bereich zu stoppen. Die Löhne und die Lohnentwicklung stehen heute wegen des ausufernden Niedriglohnsektors unter Druck, befinden sich förmlich in einer Spirale nach unten. Und Sie wollen diese Spirale weiter befördern. Das ist eine von Ihnen gewollte Politik.

(Zustimmung von Svenja Schulze [SPD])

Als Deichgrafen, meine Damen und Herren, sind Sie nicht zu gebrauchen, denn bei drohender Flut schließen Sie nicht die Deichtore, nein, Sie öffnen sie.

(Svenja Schulze [SPD]: Ja!)

Das, meine Damen und Herren, hat Tradition. Sie – insbesondere Herr Minister Laumann – haben nämlich in diesem Land die Zumutbarkeit für Löhne bis an die Grenze der Sittenwidrigkeit salonfähig gemacht. Diese Grenze des Niedriglohns bei der Vermittlung und Verpflichtung zur Annahne von Arbeitsangeboten – egal ob im SGB III oder im SGB II – haben Sie, Herr Minister Laumann, im Auftrag der CDU in den Vermittlungsausschussgesprächen im Jahr 2003 verankert.

Nur zur Erinnerung: Die Bundestagsfraktionen von SPD und Grünen wollten als Grenze den ortsüblichen Lohntarif verankert wissen. Damitg sind wir an Ihnen gescheitert. Sie wollten und wollen immer den ungehemmten Zuwachs im Niedriglohnsektor.

Herr Laumann, Sie sind der Billigheimer der Löhne in diesem Lande, auch wenn Sie sich gerne anders darstellen.

(Beifall von der SPD – Widerspruch von Jo- sef Hovenjürgen [CDU])

Gerade Ihre Wahlparole „Sozial ist, was Arbeit schafft!“ zeigt Ihr Unverständnis für eine vernünftige, existenzsichernde Beschäftigung.

Wer die Augen vor der gesellschaftlichen Realität verschließt, prekärer Beschäftigung seinen Segen erteilt, die eben nicht dazu führt, dass die Menschen trotz Arbeit am gesellschaftlichen Leben teilhaben können, legt schon ein gehöriges Maß an Ignoranz an den Tag. Bei Ihnen ist das aber nicht nur Ignoranz, sondern gewollte Politik. Das macht den Unterschied zwischen Ihrem und unserem Sozialstaatsverständnis aus. Nach unserer Definition ist sozial nämlich nur das, was gute, existenzsichernde Arbeit für die Menschen schafft.

(Beifall von SPD und GRÜNEN)

Wohlfeil werden von Ihnen die Wahrung von Arbeitnehmerrechten und die Achtung der Tarifautonomie verkündet. Gleichzeitig akzeptieren Sie, dass fortan jede Allgemeinverbindlichkeitserklärung im Kabinett einvernehmlich erfolgen muss. War das eigentlich die Blaupause aus NRW? Hat sich mir irgendetwas nicht erschlossen? Bestimmt heute schon Herr Papke über die Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen auch hier im Land? Entscheidet er mit?

Sie legen in der Koalitionsvereinbarung auf Bundesebene die Hand an fast alle Zweige der Sozialversicherung, oft im Ungefähren und Ungenauen. Sie legen auch die Hand an die Unfallversicherung. Die eher harmlosen Formulierungen erschließen sich erst dann, wenn man – wie ich gestern bei der Eröffnung der Arbeitsschutzmesse in Düsseldorf – dem Arbeitgebervertreter genau zugehört hat. Dann weiß man, was gemeint ist. Leistung auf die Kernaufgaben zurückführen – so wird es schön formuliert, heißt aber nichts anderes als: Ausgaben kürzen! Heißt schlicht: Aufgaben des Arbeitsschutzes verschlechtern!

Nur zur Erinnerung: Die Leiharbeitnehmerinnen und Leiharbeitnehmer im Lande tragen das mit Abstand höchste Unfallrisiko aller Beschäftigten. Sie wollen den Weg zur Arbeit nicht mehr unter den Schutz der Unfallversicherung stellen. Auch hier treffen Sie die Leiharbeitnehmer, die den weitesten Weg zur Arbeit haben, am härtesten, im Übrigen aber auch alle anderen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in diesem Land. Erst vor kurzem ist veröffentlicht worden, dass sich die Wege zur Arbeit für alle extrem erhöht haben. Sie fordern von den Menschen Flexibilität, verweigern ihnen aber eine soziale Absicherung.

Eine Antwort auf die drohende Milieuverfestigung im prekären Bereich liefert dieser Koalitionsvertrag nicht. Aus der Perspektive derer, die in prekären Arbeitsverhältnissen arbeiten oder leben müssen, sind die Aussagen des Koalitionsvertrags eher ein Schlag ins Gesicht. Wo sind eigentlich die Haltelinien für Löhne im Land, wenn die Arbeitnehmerfreizügigkeit der neuen Beitrittsländer in Kraft tritt? Die Mindestlohnregelung atomisieren Sie in allen Bereichen. Wo sind denn die notwendigen Haltelinien? Wir Sozialdemokraten wollen, dass die Arbeit im Lande vorrangig erst einmal von den Menschen gemacht wird, die in diesem Land sind. Sie wollen eine Vereinfachung der Zuzugsregelung, der Erteilung von Aufenthalts- und Arbeitserlaubnissen, und zwar nicht nur für Saisonbetriebe in der Landwirtschaft, sondern auch in der Pflege.

„Pflege muss am Bett ankommen“ ist, glaube ich, eine Aussage von Ihnen. Wir haben Sie gefragt: Wo steht das Bett, und – vor allen Dingen –wer steht vor dem Bett? Ist es eine ausgebildete Fachkraft, die sich mit dem zu Pflegenden verständigen kann? Mit Billigpflege nach dem Motto „Satt und sauber“ werden wir den demografischen Wandel und die Herausforderungen, die für ihn stehen, nicht bewältigen können. Ihre eigenen und die Landesversäumnisse bei der Ausbildung qualifizierter Pflegekräfte können Sie damit nicht kaschieren. Das geht unserer Überzeugung nach zu Lasten älterer Menschen.

Interessant ist im Übrigen auch das, was nicht im Koalitionsvertrag steht: Kein Wort zur Frage von Praktika! Keine Aussage zu der notwendigen sozialen Absicherung der Solo-Selbständigen! Kein Wort dazu, wie wir zukünftig die Absicherung unsteter Beschäftigungsverläufe regeln wollen! Kein Wort dazu, wie wir gerade für diese Menschen die drohende Altersarmut verhindern können!

Was die Politik jetzt schaffen muss, ist, Vertrauen und Verlässlichkeit für Arbeitsverhältnisse herzustellen, die Rechte auf gute Arbeit zu stärken und den Menschen eine Perspektive aufzuzeigen. All das, meine Damen und Herren, leistet diese schwarzgelbe Bundesregierung mit ihrem Koalitionsvertrag nicht. Sie werden dieser Verantwortung nicht gerecht. Sie setzen keine Schutzplanken für die Menschen, und zwar weder im Bund noch hier im Land. – Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall von SPD und GRÜNEN)

Danke schön, Herr Garbrecht. – Für die CDU spricht nun der Kollege Post.

Frau Präsidentin ! Meine Damen und Herren ! Lieber Herr Kollege Garbrecht, Es wäre günstig, wenn Sie zu dem Tagesordnungs

punkt, den Sie angemeldet haben, den Koalitionsvertrag vorher gelesen hätten.

(Beifall von der CDU)

Es ist schon phänomenal, was Sie an interpretatorischen und weißseherischen Fähigkeiten entwickeln. In Ihrer märchenhaften Interpretation stellen Sie Behauptungen auf, die nirgends im Koalitionsvertrag so ausgewiesen sind. Sie reden von verschlechterten Arbeitsbedingungen, eingeschränkten Arbeitnehmerrechten und von gesetzlichen Mindestlöhnen in NRW, die demnächst überhaupt nicht mehr ausgerufen würden, beziehungsweise unterstellen, den Mindestlöhnen würde ans Fell gegangen. Sie behaupten, das Verbot sittenwidriger Löhne sei Augenwischerei. Sie behaupten, dass es durch Kettenbefristungen zu mehr prekären Beschäftigungsverhältnissen käme. Bitte, lesen Sie doch das Papier! Es hat zwar viele Seiten, aber es wäre sinnvoll, wenn man darauf genauer einginge.

(Günter Garbrecht [SPD]: Ich habe es auf- merksam gelesen!)

Wenn Sie behaupten, dass aus dem Papier größere Lasten und weniger Absicherungen hervorgingen, dann hätte ich erwartet, dass Sie das wenigstens in Ihrem eigenen Zirkelschluss, in Ihrer eigenen Rede begründen und beweisen würden. Aber auch das ist nicht geschehen. Sie behaupten, dass eine Ausweitung der Minijobs der Brückenfunktion nicht mehr gerecht würde. Ist Ihnen entgangen, dass Minijobs immer nur mit der Konjunktur gestiegen und mit der Konjunktur gefallen sind? – Erkundigen Sie sich doch einmal bei der Verwaltung dieser Minijobversicherungen, bei der Knappschaft.

(Günter Garbrecht [SPD]: In Bochum!)