Protokoll der Sitzung vom 21.01.2010

Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich heiße Sie herzlich willkommen zu unserer heutigen, der 141. Sitzung des Landtags Nordrhein-Westfalen. Mein Gruß gilt auch den Gästen auf der Zuschauertribüne sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Medien.

Für die heutige Sitzung haben sich 13 Abgeordnete entschuldigt; ihre Namen werden in das Protokoll aufgenommen.

Wir treten in die Beratung der heutigen Tagesordnung ein.

Ich rufe auf:

1 Innovation und Solidarität – Schlussfolgerungen der Landesregierung aus den Empfehlungen der Zukunftskommission NordrheinWestfalen

Regierungserklärung

Entschließungsantrag der Fraktion der CDU und der Fraktion der FDP Drucksache 14/10569

Entschließungsantrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Drucksache 14/10570

Der Ministerpräsident hat mir mit Schreiben vom 8. Januar 2010 mitgeteilt, dass er beabsichtigt, heute eine Regierungserklärung zu dem oben genannten Thema abzugeben.

Ich eröffne die Debatte und erteile Herrn Ministerpräsidenten Dr. Rüttgers das Wort.

Frau Präsidentin, werte Kolleginnen und Kollegen, guten Morgen! Im Mai 2008 habe ich die Zukunftskommission Nordrhein-Westfalen ins Leben gerufen. Unter dem Vorsitz von Lord Dahrendorf haben 22 hochrangige Experten aus Wissenschaft, Wirtschaft und Politik ein Jahr lang über die Zukunft NordrheinWestfalens nachgedacht. Man hat darüber nachgedacht, wie wir leben werden, vor allem aber darüber, wie wir leben wollen – nicht in einer fernen Zukunft, sondern in zehn, 20 Jahren.

Nordrhein-Westfalen im Jahr 2025 – das war der Horizont dieser Zukunftskommission. Und Nordrhein-Westfalen 2025 ist unser Konzept. Ich sage bewusst unser Konzept, meine Damen und Herren; denn es geht um alle Menschen in diesem Land.

Ich will eine breite öffentliche Debatte um unsere Zukunft in Nordrhein-Westfalen, eine Debatte, an

der sich alle beteiligen können und sollen, weil es alle angeht.

Diese Debatte mit den Berichten der Zukunftskommission anzustoßen, ist – das darf man, glaube ich, so feststellen – gelungen. Wir haben die Abschlussberichte im April 2009 der Öffentlichkeit vorgestellt. In fünf großen Foren zu den Themen Innovation, Integration, Energie, Kultur und Weiterbildung sowie zum Abschlussbericht haben die zuständigen Kabinettsmitglieder öffentlich mit Experten diskutiert.

Mit zwei Wettbewerben haben wir eine breite Öffentlichkeit vor allem junger Menschen in die Debatte einbezogen, nämlich mit dem Wettbewerb für Studierende „Vision 2025“ unter der Leitfrage „Wie gewinnen wir kreative Köpfe für das Land?“ und dem Jugendwettbewerb „Vision 2025 – wie sieht Deine Zukunft aus?“. Denn wir wollen vor allem von den jungen Menschen wissen, was ihnen am Herzen liegt,

(Sylvia Löhrmann [GRÜNE]: Keine Studien- gebühren! Kein Turbo-Abitur!)

wie sie ihre Zukunft gestalten wollen. Aus diesem Grund gab es auch ein breites Diskussionsangebot im Internet. Deshalb haben wir auch im März 2009 einen großen, international besetzten Kongress auf dem Petersberg und ein besonderes Forum für junge Menschen aus allen Teilen NordrheinWestfalens veranstaltet. Wir wollen dies in diesem Jahr mit der Petersberger Convention unter dem Titel „Zukunft 2.0 – Jenseits der Krise“ und einer weiteren Campusveranstaltung für junge Menschen fortsetzen; denn es ist wichtig, diese Diskussion immer wieder neu und engagiert zu führen. Nur dann kann Politik langfristig orientiert und nachhaltig sein.

(Beifall von CDU und FDP)

Und nur dann kann sie eine erfolgreiche Politik für die Menschen in unserem Land sein.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, werte Kolleginnen und Kollegen, heute will ich Ihnen berichten, welche Schlussfolgerungen die Landesregierung aus den Empfehlungen der Zukunftskommission zieht. Ich verbinde das mit einem herzlichen Dank für die großartige Arbeit, die die Kommissionsmitglieder ein Jahr lang für uns in Nordrhein-Westfalen geleistet haben.

(Beifall von CDU und FDP)

Als wir den Abschlussbericht der Zukunftskommission im April 2009 vorgestellt haben, lebte Lord Ralf Dahrendorf noch. Am 17. Juni ist er gestorben. Als ich das erfahren habe, war ich erschüttert; denn mit ihm haben wir einen der wichtigen politischen Denker verloren. Es war ein Geschenk, ihn erleben zu dürfen.

Wir haben einen einzigartigen Menschen verloren, einen Menschen, der wie wenige andere die Frei

heit des Geistes verkörpert hat, einen großen Europäer und Vermittler zwischen den Kulturen. Er war ein Mensch voller Weisheit, Menschlichkeit und Humor. Ich war beeindruckt davon, wie sehr er in seinem Denken und Handeln stets Freiheit mit Gerechtigkeit, Selbstbestimmung und Solidarität verbunden hat. Innovation und Solidarität gehören zusammen – das war die Kernbotschaft Lord Dahrendorfs in seinem Abschlussbericht.

(Beifall von Sylvia Löhrmann [GRÜNE])

Eine Gesellschaft, die nur auf wissenschaftliche und wirtschaftliche Innovation setzt, droht auseinanderzufallen. Eine Gesellschaft, die sich mit der Erhaltung des Status quo begnügt und allenfalls Fragen der Verteilung stellt, droht zu erstarren.

(Beifall von CDU und FDP)

Nur wenn Innovation und Solidarität zusammenkommen, hat eine Gesellschaft freier Bürger Zukunft. Beides zu verbinden war immer das Markenzeichen von Nordrhein-Westfalen, von Karl Arnold über Johannes Rau bis heute. Ich will, dass das auch in Zukunft so bleibt.

(Beifall von CDU und FDP)

Als die Kommission vor gut eineinhalb Jahren mit der Arbeit begann, hat noch kaum jemand die globale Wirtschafts- und Finanzkrise vorhergesehen, die ein halbes Jahr später ausbrechen sollte. Seitdem erleben wir eine Wirtschaftskrise, die das Vertrauen in die Marktwirtschaft zu zerstören droht. Der Kerngedanke der Zukunftskommission, Innovation mit Solidarität zu verbinden, hat, so meine ich, durch die Krise noch einmal an politischer Bedeutung gewonnen.

Meine Damen und Herren, die Berichte der Zukunftskommission liefern eine exzellente Bestandsaufnahme der Lage unseres Landes. Wer wissen will, wie es um unser Land heute steht, muss diese Berichte lesen. Sie zeigen die Stärken unseres Landes und seine großartigen Entwicklungschancen, aber auch die Schwächen, an denen wir arbeiten müssen.

Politik beginnt mit der Wahrnehmung von Wirklichkeit. Die Zukunftskommission hat uns eine Agenda für dieses Land mit vier großen Schwerpunkten gegeben: Bildung, Arbeit, Wirtschaft und Gesellschaft.

Niemanden zurückzulassen, gerade die nicht, die keinen Erfolg auf dem normalen Bildungsweg haben, das ist die Kernaufgabe der Bildungspolitik.

Die notwendige Flexibilität mit Sicherheit zu verbinden, ist die Aufgabe für den Schwerpunkt Arbeit.

Wie Innovationen vorangebracht werden können, steht im Mittelpunkt des Konzepts für die Wirtschaft.

Die Einheit der Gesellschaft zu bewahren und dabei vor allem die Integration der Menschen mit einer Zuwanderungsgeschichte voranzutreiben, muss Schwerpunkt der Gesellschaftspolitik sein.

(Beifall von CDU und FDP)

Lord Dahrendorf hat die Befähigung aller Bürger zur Kernaufgabe moderner Bildungspolitik gemacht. Sie ist für ihn – ich zitiere – „der Schlüssel zum Leben in einer freien und offenen Gesellschaft“.

Mit dieser Idee hat Lord Dahrendorf einen mutigen Vorschlag gemacht. Er will den klassischen Bildungsbegriff weiterentwickeln. Die alte Trennung zwischen sogenannter Bildung und praktisch orientierter Ausbildung muss überwunden werden. Stattdessen muss die Befähigung in den Mittelpunkt rücken. Jeder soll befähigt sein, etwas aus sich zu machen, und damit auch die Chance haben, sozial aufzusteigen. Wir brauchen dafür einen neuen, einen umfassenden Begriff von Bildung.

Die Fähigkeit zu abstraktem und analytischem Denken ist genauso wichtig wie die Fähigkeit zu emotionalen Zuwendungen. Künstlerische Talente zu entfalten, ist genauso bedeutsam wie die Fähigkeit, soziale und professionelle Netzwerke aufzubauen und zu erhalten. Das Ideal der Befähigung des Menschen, sich selbst umfassend zu bilden, also das Humboldt’sche Bildungsideal, ist nicht veraltet. Im Gegenteil, es war nie so aktuell wie heute.

(Beifall von CDU und FDP)

Aber das ist heute, im Zeitalter der globalisierten Wissensgesellschaft, keinesfalls einfacher, sondern schwieriger geworden. Das Internet bietet uns heute eine schier unübersehbare Menge an Informationen. Nie war es einfacher, sich Wissen anzueignen – so scheint es.

Aber es gibt keinen Automatismus, dass mehr Information auch zu mehr Bildung führt. Viele Menschen stehen ratlos vor der steigenden Wissens- und Informationsflut der Medien. Es droht die Spaltung der Gesellschaft in diejenigen, die mit dem neuen Wissen umgehen können, und in diejenigen, die damit überfordert sind. Es muss uns gelingen, alle Kinder und Jugendlichen für die Wissensgesellschaft zu befähigen. Deshalb müssen wir, wie Lord Dahrendorf sagt, vor allem denjenigen besondere Aufmerksamkeit widmen, die auf dem normalen Bildungsweg nicht erfolgreich sind. Denn niemand, meine Damen und Herren, niemand darf zurückbleiben.

(Beifall von CDU und FDP)

Bildung umfassend zu denken, heißt auch, Bildung nicht zu ökonomisieren. Ökonomischer Nutzen ist wichtig. Heutzutage gibt es eine ganze Reihe sogenannter Bildungsexperten, die Bildungsziele einzig und allein der Verwertungslogik des Marktes

unterordnen. Ihr Bildungskonzept zielt ausschließlich auf Praxisnähe und Beschäftigungsfähigkeit ab. Das greift zu kurz. Das führt zu kultureller Armut, zu einem zu kurzfristigen Denken. Genau das will Lord Dahrendorf verhindern. Ich teile seine Auffassung. Bildung hat ihren eigenen Wert. Sie trägt ihren Lohn in sich und muss für alle zugänglich und erreichbar sein.

(Beifall von CDU und FDP)

Lord Dahrendorf und die Kommission plädieren für eine verstärkte frühkindliche Bildung, für neue Chancen für Schulabbrecher, für die Modernisierung des dualen Systems und für Weiterbildung. Die Landesregierung teilt diese Auffassung. Jedes Kind hat ein Recht auf Bildung und Entfaltung. Mit dem Ende dieser Legislaturperiode werden wir deshalb rund 2,7 Milliarden € mehr für Kinder, Jugend und Bildung ausgegeben haben als die Vorgängerregierung.

(Beifall von CDU und FDP)

Meine Damen und Herren, es geht aber nicht nur um Quantität, sondern es geht vor allen Dingen um Qualität – darum, dass Kinder so viel Zuwendung wie möglich erfahren, darum, dass ihre Talente so früh wie möglich entdeckt und gefördert werden, und auch darum, dass sie vor Armut, Missbrauch und Verwahrlosung geschützt werden. Nur wenn einer Gesellschaft das gelingt, hat sie Zukunft.