Protokoll der Sitzung vom 09.03.2010

Das, meine Damen und Herren, spiegelt die Realität eher wider, nicht aber die sich seit Jahren durch Talkshows ziehenden und von Medien verbreiteten Geschichten weniger Einzelner, die sich irgendwie durchs System schlängeln.

Deswegen sind auch die Ausführungen des Vizekanzlers über die spätrömische Dekadenz nicht nur ein offensichtlicher Frontalangriff auf den Sozialstaat, sondern er beleidigt damit auch Millionen von Menschen, die harte Arbeit leisten müssen und dafür Dumpinglöhne kassieren.

(Beifall von der SPD)

Und er stempelt die 11,7 Millionen Deutschen, die von Armut bedroht sind, die weder Arbeit noch Perspektive haben, zu Sozialschmarotzern ab, um von seiner Politik der Steuererleichterungen für wenige Wohlhabende abzulenken.

Und ohne das Verfassungsgerichtsurteil zu nennen, startet der Vizekanzler eine Attacke gegen den Leitsatz des Gerichtes, auf den unmittelbar verfassungsrechtlich abgesicherten Leistungsanspruch auf Gewährung einer menschenwürdigen Existenz. Wer in anderen Bezügen oder zumindest in früheren Zeiten die Verfassung und deren Interpretation durch das Bundesverfassungsgericht so ignoriert und in Zweifel gezogen hätte, der stände schnell als Feind der Grundrechte und der Verfassung im Visier. Aber gilt dieser Maßstab eigentlich nicht für die Sozialpolitik? Und gilt dieser Maßstab nicht auch für den Vizekanzler dieser Republik?

Es gibt auch andere Maßstäbe, die zum Teil auch von Liberalen gesetzt wurden. Ich möchte Lord Dahrendorf zitieren. Er hat von „Sense of Belonging“ – ich hoffe, dass ich das richtig ausgesprochen habe; ich übersetze es aber – gesprochen.

(Gerd Stüttgen [SPD]: Besser als Oettinger!)

“Besser als Oettinger“, höre ich gerade. Danke schön.

Der liberale Lord Dahrendorf hat von „Sense of Belonging“ – das bezeichnet das Zusammengehörigkeitsgefühl – gesprochen, wenn es um den notwendigen Zusammenhalt einer Gesellschaft geht. Das erfordert Solidarität der Starken mit den Schwachen und nicht deren Ausgrenzung.

Weiterhin hat Lord Dahrendorf gesagt:

Keine Gesellschaft kann es sich leisten, 10 % von ihren Chancen auszuschließen, ohne moralischen Schaden zu nehmen. … Wenn wir in zivilisierten Gemeinwesen leben wollen, dann müssen wir tun, was wir können, um die Ausgeschlossenen hereinzuholen in die Chancenwelt des sozialen Lebens.

In diesem Sinne, meine Damen und Herren – das möchte ich den Liberalen gerne mit auf den Weg geben –,

(Sylvia Löhrmann [GRÜNE]: Welchen Libera- len?)

ist auch der Vorschlag von Hannelore Kraft zu verstehen. Er hat nichts, aber auch rein gar nichts mit dem Vorschlag von Westerwelle und der von ihm vom Zaun gebrochenen Diskussion zu tun.

(Beifall von der SPD – Zurufe von der CDU)

Die Konsequenz aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist eindeutig: Höhere Regelsätze erfordern einen gesetzlichen Mindestlohn, da der Sozialstaat ansonsten auch in seiner Finanzierbarkeit und seiner Akzeptanz geschwächt würde. Wir brauchen ein Lohnabstandsgebot von oben. Das bedeutet, die Löhne müssen höher sein als die Sozialleistungen der Grundsicherung.

(Beifall von der SPD)

Und wer arbeitet, muss mehr haben als derjenige, der nicht arbeitet. Das ist heute so und muss auch in Zukunft so bleiben. Aber wer arbeitet, der muss dafür auch eine existenzsichernde Bezahlung erhalten.

(Beifall von der SPD)

Denn sozial ist nur existenzsichernde Arbeit.

Zum Lohnabstandsgebot, Herr Minister, erwarten wir auch noch Ihre Vorlage; Sie haben noch bis zum 9. Mai Zeit. Denn natürlich ist auch der § 28 des SGB XII, der das Lohnabstandsgebot regelt, nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts nicht mehr haltbar.

(Das Ende der Redezeit wird signalisiert.)

Also, auch aus diesen Gründen brauchen wir zwingend den Mindestlohn, und ich gehe davon aus, dass sich auch die Union insbesondere hinsichtlich der Arbeitnehmerfreizügigkeit dieser Position anschließen wird.

Herr Kollege!

Ich will nur noch zwei Sätze sagen, meine Damen und Herren, Herr Präsident.

Darüber hinaus muss für zumutbare Beschäftigung nach dem SGB II oder dem SGB III als zwingende Lohnuntergrenze die tarifliche oder die ortsübliche Bezahlung stehen. Bei der Abschaffung waren Sie leider die treibende Kraft, Herr Laumann. Sie könnten sich auch einmal auf der anderen Seite engagieren.

Herr Abgeordneter, kommen Sie bitte zum Ende Ihrer Rede.

Niedriglöhne können und dürfen kein Maßstab sein. Darin stimmen wir Bert Rürup eindeutig zu. Denn damit würde eine verfassungswidrige Abwärtsspirale in Gang kommen. Kehren Sie endlich um. Machen Sie sich nicht aus dem Staub. Stehen Sie zu Ihrer Verantwortung.

Herr Kollege Garbrecht.

Treten Sie mit uns für einen Lohnabstand durch Lohnanstand und für Mindestlöhne ein.

(Beifall von SPD und GRÜNEN)

Vielen Dank, Herr Abgeordneter Garbrecht. – Für die FDP-Fraktion hat Herr Dr. Romberg das Wort.

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kollegen! Frau Steffens, Herr Garbrecht, das waren imposante Wahlkampfreden. Die hätten Sie natürlich auf Ihren Ortsparteitagen gut halten können.

(Ralf Witzel [FDP]: Das war peinlich!)

Aber daran, ob sie heute ins Parlament gepasst haben, habe ich so meine Zweifel.

(Beifall von der FDP – Widerspruch von Horst Becker [GRÜNE])

Dieser Antrag der Grünen ist doch der plumpe Versuch, von der Tatsache abzulenken, dass die von Guido Westerwelle angestoßene Sozialstaatsdebatte absolut notwendig ist.

(Zurufe von SPD und GRÜNEN: Pfui!)

Die anhaltende Diskussion zeigt unmissverständlich, wie sehr das Thema die Menschen beschäftigt.

(Rainer Schmeltzer [SPD]: Das ist Stamm- tischniveau!)

Unser Sozialstaat wird immer teurer, aber auch immer weniger treffsicher. Das wurde jüngst auch durch die OECD-Studie belegt. Es reicht eben nicht aus, das Geld nur zu verteilen. Wir müssen dafür

sorgen, dass diejenigen, die das Ganze mit ihren Sozialabgaben und Steuern bezahlen, nicht überfordert werden.

(Beifall von der FDP)

Zugleich ist sicherzustellen, dass die Mittel den Bedürftigen auch tatsächlich helfen, wieder auf die eigenen Füße zu kommen.

(Zuruf von Horst Becker [GRÜNE])

Wir wollen Teilhabechancen verwirklichen und verbessern, und zwar für alle Bürger gemäß ihren Voraussetzungen und Fähigkeiten. Wir wollen, dass die Menschen spüren, dass sie gebraucht werden.

Das hat inzwischen allen gegenteiligen Behauptungen zum Trotz anscheinend auch die SPD nachdenklich gemacht. Nur so kann man erklären, dass Frau Kraft Vorschläge unterbreitet hat, über deren Brauchbarkeit im Detail noch viele Streitpunkte bestehen.

(Minister Karl-Josef Laumann: Aber die wol- len auch keine Tarifeinkommen! – Wider- spruch von der SPD)

Aber das zeigt dennoch, dass sie den Grundgedanken der FDP, dass der Sozialstaat erneuert werden muss, offenbar teilt.

(Beifall von der FDP)

So vernünftig es auch ist, auf das Lohnabstandsgebot zu verweisen, so unvernünftig ist das, was die Grünen in Bezug auf seine Umsetzung fordern. Ein Lohnabstandsgebot hilft wenig, wenn es gar keinen Lohn mehr gibt, weil die betroffenen Arbeitnehmer ihren Job verloren haben.