Protokoll der Sitzung vom 14.12.2005

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wer sich das Eckpunktepapier zur geplanten Schulgesetznovelle anschaut, dem stellt sich zunächst die Frage: Was haben der Ministerpräsident und seine Ministerin sich bloß dabei gedacht? – Nicht viel, lautet die einfache Antwort.

Wenn Sie versucht haben, Schule nach 39 Jahren Opposition zu denken, dann bleiben Sie gedanklich immer in einer selbst verordneten ideologischen Käseglocke gefangen, die auch einen Namen hat – das vermeintlich begabungsgerechte Schulsystem, das Sie wie eine Monstranz vor sich

hertragen. Kaum etwas ist in diesem Zusammenhang wissenschaftlich so obsolet wie der Begriff der Begabung.

Solch eine Käseglocke hat leider einen entscheidenden Fehler: Sie schränkt das Sichtfeld ein und bietet nur einen sehr begrenzten Horizont. Ich will das einmal an einem Punkt des Eckpunktepapiers herausarbeiten: In der Folge dieser Käseglockenperspektive glaubt man, die Erde sei eine Scheibe oder auch, man könne mithilfe eines Frühsortiersystems Kinder im Alter von acht bis neun Jahren in Güte- und Leistungsklassen einteilen.

(Beifall von den GRÜNEN)

Herr Ministerpräsident, Sie verwechseln Kinder mit Kartoffeln. Sie müssen sich zudem im Kabinett besser absprechen. Die Schulministerin begründet die Notwendigkeit der Auflösung der Grundschulbezirke im Schulausschuss damit, dass die Eltern ihre Kinder viel besser als die Schule kennen.

(Beifall von den GRÜNEN)

Der Ministerpräsident Rüttgers dagegen ergeht sich in einer Elternbeschimpfung, dass eben die Eltern, die so souverän und kompetent die Grundschule für ihr Kind aussuchen, bei der Übergangsentscheidung in die weiterführende Schule kläglich versagen. Deshalb muss man ihnen gegebenenfalls das Elternrecht entziehen; denn die Übergangsempfehlung der Grundschullehrkraft soll verbindlich werden – nicht verbindlicher, wie die Ministerin gerne abwiegelnd zu sagen pflegt, sondern verbindlich.

Was passiert Eltern, die sich nicht an die Empfehlung halten wollen? – Sie müssen ihre Kinder in einen sogenannten dreitägigen Prognoseunterricht schicken – an einer fremden Schule, mit einer fremden Grundschullehrkraft und einer fremden Lehrkraft einer weiterführenden Schule. Die Kinder sollen beweisen, dass sie die Leistungsstandards für Ende der Klasse 4 beherrschen, aber die Prüfung findet schon kurz nach dem ersten Halbjahr der vierten Klasse statt. Aufgrund von drei Testtagen entscheiden die fremden Lehrkräfte abschließend, ob das Kind abiturtauglich ist. Da hat es sich erledigt mit dem Elternrecht in Nordrhein-Westfalen.

(Beifall von GRÜNEN und SPD – Bernhard Recker [CDU]: Ist doch Quatsch!)

Die Eltern müssen sich doch vom Fraktionsvorsitzenden der CDU auf den Arm genommen fühlen, als dieser gestern zum Besten gab, der Elternwille finde nach wie vor Berücksichtigung – ich zitiere

Herrn Stahl nach „dpa“ –, wenn er mit dem Gutachten übereinstimmt.

(Sylvia Löhrmann [GRÜNE]: Unerhört! Zy- nisch ist das!)

Wie viel schwarz-gelben Zynismus sollen die Eltern noch über sich ergehen lassen?

Richtig spannend wurde es, als die Ministerin in der Pressekonferenz gestern ausführte, dass kein Kind zum Besuch des Gymnasiums gezwungen wird, wenn die Eltern das nicht wollen. Aber den Hauptschulbeschluss gibt es unwiderruflich per ordere de Mufti. Wen wollen Sie hier eigentlich für dumm verkaufen?

(Sylvia Löhrmann [GRÜNE]: Skandalös ist das! – Beifall von GRÜNEN und SPD)

Spätestens jetzt muss auch Prof. Boes unsanft aufwachen, der versucht hat, dem Empfehlungsunfug noch irgendetwas Positives abzugewinnen und sich selbst dabei beschädigt, wenn er sich Assessment-Center für Acht- bis Neunjährige vorstellt, weil er sich scheut, die konsequente wissenschaftliche Debatte für den notwendigen Abbau von Lernbarrieren zu führen. Dabei führt auch er an, dass mindestens 40 % der Übergangsempfehlungen nicht stimmen.

Er hätte gleich noch ergänzen müssen, dass schon die Notengebung im Vorfeld, die zu der Grundschulempfehlung führt, ungerecht ist. Kinder von Vätern mit geringer Schulbildung müssen höhere Leistungen abliefern als Kinder von Vätern mit Abitur, um die gleiche Zensur zu erlangen, wie die Lernausgangslagenuntersuchung – LAU – nachgewiesen hat.

Herr Ministerpräsident, Sie kommen zusätzlich mit der Idee, die Schule jedes Jahr prüfen zu lassen, ob bei guten Leistungen Eltern der Umstieg ihres Kindes in die hierarchisch höhere Schulform – wohlgemerkt – „empfohlen“ werden soll. Die Idee ist schon einmal diskutiert worden, wurde aber gleich wieder von der Realität eingeholt. Wissen Sie, Herr Rüttgers, was Ihnen Hauptschullehrer und -lehrerinnen sagen, die ihre Klassenbesten weiterreichen sollen? – Ich lasse mir doch nicht meine Leistungsträger aus der Klasse ziehen.

(Zurufe von der CDU: Oh!)

Wer bleibt denn dann noch übrig? Die restlichen Schüler und Schülerinnen ziehen sich nur noch runter. Auch in der Realschule wird genau so argumentiert.

Aber Sie sorgen ja auf der anderen Seite dafür, dass die Durchlässigkeit zum Gymnasium sowie

so weiter verringert wird, indem Sie es von der S I abkoppeln – fünf Jahre in der Sekundarstufe I am Gymnasium, sechs Jahre in den übrigen Schulformen, unterschiedliche Zeitpläne für den Stoff in unterschiedlichen Bildungsgängen. Was glauben Sie eigentlich, Herr Ministerpräsident, wie viel von der ohnehin schon geringen Durchlässigkeit überhaupt noch übrig bleibt?

Meine Damen und Herren, es geht eben nicht um Eltern- oder Lehrerschelte, es geht um die Philosophie des Systems. Es geht darum, den wertschätzenden, zutrauenden Blick auf das Kind zu entwickeln. Die konsequente individuelle Förderung eines jeden Kindes, ohne es in eine Schublade zu zwingen, ist dann die logische Folge. Dafür müssen Sie aber ablassen von Ihrem „Begabungsgeschwurbel“.

(Beifall von den GRÜNEN)

Anstatt Lehrer und Lehrerinnen für individuelle Förderung durch Fortbildung zu professionalisieren, kündigt der Staatssekretär auch noch an, im Ministerium eine Arbeitsgruppe für Minderbegabte einzurichten. Versuchen Sie einmal, internationalen Bildungsexperten zu erklären, dass es vorkommen kann, dass mehr als ein Drittel einer Lerngruppe eine Klassenarbeit schlechter als mit einer Vier schreibt. Wenn Sie das Instrument, das die Lehrerinnen dazu verpflichtet, Rechenschaft darüber abzulegen, wie es in der Lerngruppe dazu kommen konnte, jetzt auch noch abschaffen wollen – den sogenannten Drittelerlass –, liefern Sie Schüler und Schülerinnen noch stärker schlechtem Unterricht aus. Mit den vorgelegten Eckpunkten unterwerfen sie die Kinder insgesamt der Benachteiligungslogik des Systems.

Zum Schluss wage ich allerdings auch eine Prognose: Eltern haben es kapiert. Unsere Schule ist ein Berechtigungswesen. Wer mit dem Hauptschulabschluss auf dem Arbeitsmarkt landet, muss sich schon um die meisten Lehrstellen in die Konkurrenz mit Abiturienten begeben. Sie werden mit ihren Kindern die Schulform Hauptschule nicht zwangsweise auffüllen lassen, über deren Zukunft schon längst eine Abstimmung mit den Füßen stattgefunden hat. Marco Finetti von der „Süddeutschen Zeitung“ bringt es auf den Punkt: Das Gesetz ist ein Rückfall in eine Schulpolitik und eine Pädagogik, die man glücklich zu überwinden glaubte. In Nordrhein-Westfalen wachen wir 40 Jahre zurück wieder auf.

(Beifall von GRÜNEN und SPD)

Danke, Frau Beer. – Für die FDP-Fraktion spricht nun Frau Pieper-von Heiden.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin froh, dass wir heute über dieses so wichtige Thema reden. Dafür bin ich der SPD-Fraktion auch dankbar. Aber das ist schon der gesamte Vorrat an Gemeinsamkeiten.

(Dr. Axel Horstmann [SPD]: Ist nicht schlimm!)

Seit der gestrigen Vorstellung des Eckpunktepapiers ist klar: Nordrhein-Westfalen ist auf dem Weg in ein neues Bildungszeitalter.

(Beifall von FDP und CDU – Rainer Schmelt- zer [SPD]: Das stimmt!)

Die Zeiten unter Rot-Grün, in denen ein Erlass den nächsten jagte, sind endgültig vorbei.

(Hannelore Kraft [SPD]: Gehen Sie doch mal in die Schulen! – Dr. Axel Horstmann [SPD]: Das sieht Herr Rüttgers aber anders!)

So ist das. Alle drei Wochen wurde bei Ihnen eine neue Sau durchs Dorf getrieben. Die neue Landesregierung legt ein Eckpunktepapier vor, aus dem ein novelliertes Schulgesetz aus einem Guss entstehen wird, welches den Schulen ein bisher nicht gekanntes Maß an Selbstständigkeit und Eigenverantwortung übertragen wird und dabei lediglich das Notwendige regelt, dieses dafür aber sehr präzise.

Es wird endlich eine verlässliche Richtschnur für schulisches Handeln geben, die nicht im Zickzack, sondern konsequent geradeaus gelegt und wohl durchdacht ist. Mit der Novellierung des Schulgesetzes schaffen wir die Grundlage für das modernste und zukunftsweisendste Schulsystem in ganz Deutschland.

(Beifall von der FDP – Zurufe von der SPD)

Hierfür danke ich Frau Ministerin Sommer ausdrücklich und betone, dass die Landesregierung die volle Unterstützung der FDP hat. Wir finden uns in allen Anliegen wieder, für die wir uns viele Jahre mit großer Überzeugung eingesetzt haben.

Selbstständigkeit, Qualität und Transparenz werden künftig zum Dreiklang in der nordrheinwestfälischen Schulpolitik.

(Rainer Schmeltzer [SPD]: Das kann nicht wahr sein!)

FDP und CDU machen Schluss mit der Chancenungerechtigkeit.

(Rainer Schmeltzer [SPD]: Die bauen Sie doch erst auf!)

Rot-Grün hat es in der Vergangenheit nicht hinbekommen, Kinder mit Migrationshintergrund oder aus sozial schwierigem Umfeld angemessen zu fördern. Gerade diese sind doch aber unsere Pisa-Verlierer. Mit großer Arroganz und Ignoranz haben Sie uns vor fünf Jahren im Schulausschuss gesagt, es sei unanständig, zu fordern, jedes Kind müsse bei der Einschulung deutsch sprechen können. Wir finden das nicht unanständig, sondern halten es für eine unabdingbare Voraussetzung für Chancengerechtigkeit. Jedes Kind wird künftig zwei Jahre vor der Einschulung auf seine Sprachfertigkeiten hin getestet, und im Bedarfsfall erhält es eine verbindliche Förderung.

Nach dem ersten Kraftakt gleich nach der Landtagswahl mit 1.000 Neueinstellungen von Lehrern werden wir auch im kommenden Jahr 1.000 neue Vollzeitlehrerstellen und weitere 610 Teilzeitstellen schaffen. Davon sind allein 900 Lehrerstellen für die Grundschulen und zum Aufbau einer Stellenreserve vorgesehen. Sie haben eine solche früher immer abgelehnt. Neuerdings können auch Sie sich damit anfreunden. Willkommen im Club!

Nun zu Ihrem „Aufregerthema“: Seien Sie sich sicher, die Aufhebung der Schulbezirksgrenzen bei gleichzeitig erhöhter Ressourcenausstattung von Problemschulen und der dadurch entstehende faire Wettbewerb um die besten Konzepte wird einen ungeahnten Qualitätsschub für unsere Grundschulen mit sich bringen und Eltern die Möglichkeit geben, ohne Umgehung von Vorschriften und Gesetzeslagen im Falle noch vorhandener Aufnahmekapazitäten die am besten geeignete Schule für ihr Kind zu wählen. Wir wollen doch, dass Schulen neben den Kernkompetenzen, die sie anbieten müssen, ihr eigenes Profil ausbilden. Wollen Sie dies interessierten Eltern und Kindern vorenthalten, nur weil sie nicht nebenan wohnen? Das ist doch vorsintflutlich. Zum Wohle des Kindes wollen wir Eltern dies künftig ermöglichen.

Alle Entscheidungen sollen im Übrigen zum Wohle des Kindes getroffen werden – so auch die Empfehlung der Schulform am Ende der Grundschulzeit. Weichen Grundschulgutachten und Vorstellungen der Eltern voneinander ab und kommt es im gemeinsamen Gespräch zwischen Eltern, Grundschule und gewünschter weiterführender Schule zu keiner Einigung, so muss ein

dreitägiger Probeunterricht die Grundlage für eine pädagogische Prognose liefern.

Rund 30 % unserer Grundschüler geraten derzeit aus unterschiedlichen Gründen in die für sie falsche Schullaufbahn. Das kann doch so nicht weitergehen. Unser Anliegen ist es, Über- oder Unterforderung von Kindern möglichst zu vermeiden und Kinder individuell zu fördern. Entgegen der Abschulungspraxis der letzten Jahre führen FDP und CDU Erleichterungen zum schulischen Aufstieg von Schülerinnen und Schülern ein, und zwar am Ende eines jeden Schuljahres. Und da sprechen Sie von Bildungsungerechtigkeit! Da muss ich mich doch sehr wundern.

Viele Aspekte zur Qualitätssicherung sind im Eckpunktepapier bereits enthalten. Nicht zuletzt ist die Aufhebung des Drittelerlasses dazu geeignet, mehr Förder- und Forderqualität in den Unterricht zu bringen und zum Ende des Schönschreibens von Noten zu kommen, tatsächliche Ergebnisse und Leistungen widerzuspiegeln und daraus gegebenenfalls pädagogisch-didaktische Konsequenzen zu ziehen.

Meine Damen und Herren, nicht, dass Sie meinen, ich könnte es bei der Fülle der auf den Weg zu bringenden Maßnahmen vergessen haben: Erstmals in diesem Lande wird ein Schulgesetz die schulische Förderung hoch begabter Kinder festschreiben.