Protokoll der Sitzung vom 05.04.2006

Wenn die „WAZ“ am 30. März in einem Artikel titelt „Der schwere Weg nach oben“, dann beschreibt es das, was dieses Schulgesetz in Nordrhein-Westfalen im Grunde genommen einleitet: den schweren Weg nach oben.

Zusätzliche Lehrer und die Umwandlung von Hauptschulen in Ganztagsschulen sind nur ein Fassadenanstrich eines antiquierten Bildungsverständnisses und keine Qualitätsoffensive. Dieses ist keine Qualitätsoffensive. Sie wollen konsequent an der Festlegung des dreigliedrigen Schulsystems festhalten.

(Ralf Witzel [FDP]: Ja!)

So steht es in diesem Gesetz. Sie gehen dabei von einem Begabungsbegriff aus, der antiquiert ist, der keine Grundlage mehr hat und der gesellschaftliche Entwicklungen schlicht und einfach ausblendet.

Sie wollen das modernste und leistungsfähigste Schulsystem in Europa. Sie wollen eine Reform, haben Sie gesagt. Was Sie tatsächlich tun, ist ein Rückschritt zu teilweise seit Jahrzehnten überwundenen Regelungen.

Eine unlängst von der Europäischen Kommission durchgeführte Studie des Dänischen Technologischen Instituts kommt für Österreich zu dem Ergebnis, dass in den Ländern mit einem differenzierten Schulsystem der Einfluss der sozioökonomischen Hintergründe für die Schülerleistungen deutlich nachteiliger ist. Aus den Untersuchungen zum Thema Schulsystem wissen wir, dass Nordrhein-Westfalen eines der differenziertesten Systeme hat, die es überhaupt weltweit gibt.

Mit einem Schlenker verweist diese Studie auch darauf, dass für Deutschland diese Erkenntnisse genauso zutreffen. Wenn Frau van Dinther heute Morgen völlig richtig in diesem Hause feststellt, dass es darum geht, dass bei der Bildung der Eingangsklassen der weiterführenden Schulen eine stärkere Durchmischung möglich ist, dann kann ich ihr ausdrücklich nur zustimmen. Genau das müsste es sein. Wir müssten eine Durchmischung von Schülerinnen und Schülern haben.

Sie, meine Damen und Herren, etikettieren mit diesem Gesetzentwurf Schülerinnen und Schüler. Sie etikettieren sie nach Schulformen, weil Sie nämlich glauben, dass sie in unterschiedlichen Schulformen optimal gefördert werden können.

Sie sagen: Jedes Kind hat Anspruch auf eine individuelle und umfassende Förderung. – D’accord. Damit haben wir kein Problem. Doch diese umfassende Förderung ist in einem gegliederten Schulsystem nicht möglich, weil nicht die Kinder im Mittelpunkt stehen, sondern das System. Entsprechend liest sich auch Ihr Gesetz. Hier wird geprüft, gewichtet, beurteilt, um Kinder der vermeintlich begabungsgerechten Schule zuzuweisen.

Die umfassenden Potenziale, die Kinder mitbringen, schöpfen Sie damit nicht aus. Denn der Highway steht nicht allen Kindern zur Verfügung. Für manche gibt es halt nur Siedlungsstraßen oder Lieferantenzufahrten. Wenn es nach Ihnen geht, wird der Zugang zum Highway auch noch mit Passierstellen versperrt.

Frau Ministerin Sommer, Sie sind aus meiner Sicht eine ehrliche Haut in diesem Gesetzgebungsverfahren. Das Elternrecht hat Bestand, sagten Sie in der Pressekonferenz der letzten Woche. Ich vermute: Ihre tiefste pädagogische Überzeugung ist Ursache dieses Bekenntnisses. Nur leider stimmt sie so nicht.

Beim Übergangsgutachten am Ende der Grundschule rudern Sie zurück und schwenken auf die Regelungen aus dem Jahr 1996 ein. Aber neu ist: Das Letztentscheidungsrecht der Eltern fällt. Der Prognoseunterricht ist eine absurde Maßnahme. Diese Regelung wird, wie Sie selber sagen, Frau Ministerin, nur für wenige Kinder zutreffen – vor allen Dingen dann, wenn die Eltern uneinsichtig sind und man sie disziplinieren muss.

Der Unterricht ist aber kein Unterricht, sondern eine Überprüfungssituation, in der Kinder beweisen müssen, dass sie entweder besser oder – man höre – sogar schlechter sind, als die abgebende Grundschule sie beurteilt hat.

Das ist übrigens, meine Damen und Herren, ein echter Beitrag zum Bürokratieabbau und eine wahrhaft christlich-liberale Koalition.

(Beifall von den GRÜNEN)

Diesen Gesetzentwurf kann man beim besten Willen nicht als Reform verstehen.

(Christian Weisbrich [CDU]: Nein?)

Er ist uns bleibt die Restauration eines Schulsystems, das selbst nach Auffassung des allseits geschätzten und akzeptieren Prof. Sinn, der Leiter des Ifo-Institutes ist und Ihnen politisch deutlich näher steht als uns, ein ökonomisch und uneffizientes Relikt aus der Vergangenheit ist –

(Zuruf von Ralf Witzel [FDP])

so die Schlussfolgerung von Prof. Sinn, die er für die „Wirtschaftswoche“ geschrieben hat.

(Christian Weisbrich [CDU]: Hat er sich mit dem Schulgesetz befasst? – Er hat sich mit irgendwas beschäftigt!)

Sie könnten beim Schulgesetz auch einmal die Dinge wahrnehmen, die außerhalb Ihrer Köpfe passieren.

(Beifall von SPD und GRÜNEN)

Herr Prof. Sinn schreibt für die „Wirtschaftswoche“

(Christian Weisbrich [CDU]: Das ist ja nicht zu fassen!)

und weist darauf hin, dass sich dieses System schlicht und ergreifend überholt hat.

Dieses System hat sich in Deutschland übrigens erstaunlich lange und erstaunlich lange erfolgreich gehalten. Doch, meine Damen und Herren, in den letzten Jahrzehnten haben sich die Gesellschaft und ihre Erfordernisse so weit geändert, dass dieses System kontinuierlich ungerecht, ineffizient und ungenügend geworden ist. Diese Wirklichkeit blenden Sie leider aus. Anstatt Aufstiegsmöglichkeiten zu schaffen, reden Sie viel von Durchlässigkeit. Sie reden viel von individueller Förderung.

(Zuruf von Ingrid Pieper-von Heiden [FDP])

Doch in Wahrheit verbauen Sie jungen Menschen Zukunftsperspektiven, hängen sie in den Zügen des Regionalverkehrs ab, während der Sprinter an ihnen vorbeirauscht – no future, no hope.

Ich hatte noch diese Woche zwei Hauptschulklassen zu Gast. Herr Recker ist noch da: Es waren die Hauptschüler aus der Pennefeld-Schule in Bonn, Herr Recker. Sie haben mir noch einmal eindringlich verdeutlicht, dass dieser Spruch „no future, no hope“ auf sie zutrifft, denn von 38 Schülern haben zurzeit ganze zwei eine Ausbildungsstelle.

Ihre Erkenntnisse über die Hauptschule in Pennefeld kann ich nicht teilen, aber vielleicht liegt das daran, dass Ihre Beziehungen zu der Hauptschule intensiver sind als meine.

(Zuruf von Christian Weisbrich [CDU])

Diese Kinder kommen aus einer ganz normalen Schule, an der wir keine Gewalt haben, in der das Leben einigermaßen normal abläuft, aber mit allen Schwierigkeiten, die diese Schülerinnen und Schüler mitbringen. Nach den Vorfällen der letzten Woche sollten wir bei diesem Gesetzentwurf erst Recht nachdenklich werden und nicht in Aktionismus verfallen.

Die von Ihnen hoch gelobte Durchlässigkeit zwischen den Schulformen wäre lobenswert; tatsächlich ist sie unrealistisch. 100 Schüler und Schülerinnen haben in Bonn zusätzlich die fünften Klassen der Hauptschulen besucht, weil sie von Gymnasien und Realschulen abgestuft worden sind. Der Sonderweg des Gymnasiums, den Sie in Ihrem Gesetz festschreiben, koppelt diese Schulform von den übrigen Schulformen ab. „Durchlässigkeit nach oben“ ist eine Worthülse. Hauptschülern ist es am Ende fast nicht möglich, nach oben durchzugehen.

An dieser Stelle zitiere ich Herrn Späth, der, gefragt nach den massiven strukturellen Veränderungen, die in unserem Bildungssystem notwendig sind, darauf hinwies, dass dieses Bildungssys

tem nicht in der Lage ist, Talente zu fördern. Dem kann ich eigentlich nichts mehr hinzufügen.

Meine Damen und Herren, gerade die Weisheit eines sehr konservativen Denkers wie Herrn Späth ist sicherlich auch für uns eine Möglichkeit, Sie mit auf den Weg zu nehmen. Lothar Späth hat nämlich im „Handelsblatt“ – man konnte es ganz deutlich lesen – geschrieben: „Neue Schulen braucht das Land!“ Nebenbei – besser spät, als nie – bekommt die Schulgesetzgebung in diesem Kontext eine ganz neue Dimension.

Beratungsresistenz ist weder ein Zeichen von Kompetenz noch von Tatkraft. Im Sinne unserer Kinder und Jugendlichen, im Sinne der Zukunftsfähigkeit dieses Landes kann ich nur hoffen, dass Sie doch noch die Konsequenzen aus den Anregungen von Fachleuten aus den Anhörungen ziehen und diesen Gesetzentwurf noch einmal grundlegend überarbeiten.

(Zuruf von Ingrid Pieper-von Heiden [FDP])

Die Vorfälle in Berlin geben dazu Anlass.

Frau Ministerin Sommer, Sie haben eben gesagt, dass Sie nie die Situation erlebt haben, dass sich Hauptschullehrer an eine andere Schule versetzen lassen wollten. – Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass die Hauptschulleiter aus Bochum einen Brandbrief an Ihr Ministerium geschickt haben, der zumindest auf eine Dimension hinweist, die in unserem Land auch vorhanden ist.

Wie sagt Erich Kästner so schön:

(Zuruf von Christian Weisbrich [CDU])

„Erst wenn die Mutigen klug und die Klugen mutig geworden sind, wird das zu spüren sein, was irrtümlicherweise schon oft festgestellt wurde: ein Fortschritt der Menschheit.“

Es wäre zu wünschen, dass dieser Prozess noch vor Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens in NRW einsetzen würde.

(Beifall von SPD und GRÜNEN – Edgar Mo- ron [SPD]: Das bezweifele ich!)

Vielen Dank, Frau Kollegin Hendricks. – Als nächster Redner hat für die Fraktion der CDU Kollege Recker das Wort. Herr Kollege, ich unterstelle, dass Sie es nicht in den falschen Hals bekommen: Man kann 14 Minuten reden, man muss aber nicht zwingend 14 Minuten reden.

(Ministerin Christa Thoben: Das ist wie mit der Ladenöffnungszeit!)

Mit Sicherheit nicht! – Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Bevor ich einige wenige grundsätzlich abschließende Bemerkungen mache, möchte ich mit Ihrer Erlaubnis, Frau Präsidentin, mit einem Zitat zum Thema Selbstständigkeit aus „Neue deutsche Schule“ vom 10. März 2005 beginnen:

„Selbstständigkeit bedeutet Konkurrenz der Schulen untereinander. Die Eltern müssen das Recht haben zu entscheiden, in welche Schule sie ihr Kind schicken. Das gilt auch für die Grundschulen.“

Für dieses Zitat ist der ehemalige Fraktionsvorsitzende der SPD, Edgar Moron, verantwortlich. So viel zum Unterschied zwischen Anspruch und Wirklichkeit, meine Damen und Herren.