Protokoll der Sitzung vom 17.05.2006

(Beifall von SPD und GRÜNEN)

Noch schlimmer: Auch auf dem Ausbildungsmarkt ist die Lage besorgniserregend. Im April waren es 4,9 % weniger Ausbildungsplätze als noch vor einem Jahr. Gleichzeitig stieg die Bewerberzahl um 8,7 %. Herr Ministerpräsident, an dieser Stelle bin ich von Ihnen und auch von Minister Laumann persönlich enttäuscht. Wir alle erinnern uns, wie sich Ihre Vorgänger die Hacken abgerannt haben für jeden einzelnen Ausbildungsplatz.

(Beifall von SPD und GRÜNEN)

Und Sie? – Wenn Sie so weitermachen, sparen Sie noch in zehn Jahren den Schuster.

In der Wirtschaftspolitik tut sich rein gar nichts. Sie schmücken sich nur mit fremden Federn. Sie schreiben sich die Polypropylen-Pipeline auf Ihr Konto. Ich würde sagen: Das ist ein Fall von Markenpiraterie.

(Beifall von der SPD)

Herr Linssen, Sie waren doch dabei. Sie erinnern sich doch. Minister Schwanhold hat 2002 die Genehmigung für die Pipeline erteilt und Minister Schartau 2004 den Startschuss gegeben. Jetzt ist das alles plötzlich Ihr Projekt. Sie haben es realisiert.

(Zuruf von der SPD: Peinlich!)

Wenn Sie Ihre Bilanz mit dem Kraftwerkserneuerungsprogramm aufbessern wollen, dann ist das mindestens genauso dreist. Diese Investitionsentscheidungen sind das Ergebnis der verlässlichen Energiepolitik Ihrer Vorgänger. Auch das darf man an dieser Stelle einmal festhalten.

(Beifall von SPD und GRÜNEN)

Im Bereich Wirtschaft darf ich Ihnen eine Überschrift aus der heutigen Presseschau, vorletzte Seite, nicht ersparen. „Die Welt“ titelt mit Blick auf die Kürzungen, die Sie unter anderem bei der

Filmstiftung vorgenommen haben, „Medienland ist abgebrannt“. Dem ist nichts hinzuzufügen.

(Beifall von SPD und GRÜNEN)

Meine Damen und Herren von der Regierung, eines muss Ihnen doch klar sein: Sich auf den Projekten der Vorgängerregierung auszuruhen, trägt nicht. Symbolpolitik und purer Aktionismus werden unser Land nicht weiterbringen. Die Menschen erwarten schlüssige Gesamtkonzepte.

(Vorsitz: Vizepräsident Edgar Moron)

Was erleben wir aber? Ein Stückwerk wie die angebliche Polizeireform. Wer heute nicht erklären kann, mit welchen Zielsetzungen und nach welchen Kriterien er reformieren will, der kann keine Akzeptanz erzielen. Da reicht eine Leerformel wie „mehr fahnden statt verwalten“ nicht.

Gleiches gilt für die Verwaltungsstrukturreform. Es werden einfach neue Türschilder aufgehängt. Es ist schon eine besondere Form von Logik – erklären Sie das einmal den Menschen draußen –, dass Sie 46 Sonderbehörden in die Bezirksregierungen, die Sie erklärtermaßen in nächster Zukunft abschaffen wollen, eingliedern. Das versteht in diesem Land kein Mensch, Herr Ministerpräsident. Schilda lässt grüßen!

(Beifall von SPD und GRÜNEN – Zuruf von der SPD: Herr Palmen wird das verstehen!)

Meine Damen und Herren, unser Verständnis von Politik ist ein anderes, auch in der Opposition. Auch wir ziehen Bilanz. Wir haben die vergangenen Monate genutzt.

(Zurufe von Peter Biesenbach [CDU] und Hendrik Wüst [CDU])

Nun warten Sie doch einmal ab. Ja, Sie sind neidisch auf die Ergebnisse, die da erzielt worden sind.

(Lachen von der CDU)

Wir arbeiten in zentralen Politikfeldern an schlüssigen Gesamtkonzepten für dieses Land.

(Ralf Witzel [FDP]: Einheitsschule!)

Warten Sie doch einmal ab. Ein zentrales Feld ist dabei der Bereich Familie und Betreuung. Darum haben wir die Enquetekommission „Chancen für Kinder“ beantragt – für uns! Wir erwarten uns davon wichtige Grundlagen für die notwendigen politischen Entscheidungen.

Daneben arbeiten wir auch an einem Gesamtkonzept Bildung,

(Ralf Witzel [FDP]: Einheitsschule!)

Bildungspolitik aus einem Guss, die beste Schule für NRW.

Anders als Sie, meine Damen und Herren von den regierungstragenden Fraktionen, hören wir den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, den Experten, aber auch den Betroffenen zu, bevor wir entscheiden. Sie hören nicht einmal bei Ausschusssitzungen zu. Sie sind beratungsresistent.

(Beifall von SPD und GRÜNEN)

Uns ist klar: Sorgfalt geht vor Schnelligkeit. So verstehen wir verantwortungsvolle Politik. Nach dem gleichen Prinzip gehen wir auch in den Feldern Arbeit und Ausbildung, Wirtschaft, sozialer Zusammenhalt und Gesellschaft der Zukunft vor. Wir wissen: Die Antworten und die Konzepte von gestern werden nicht dabei helfen, die Probleme von morgen zu lösen. Deshalb ist das Wichtigste für Politiker, lernfähig zu bleiben. Das werden wir leisten.

(Beifall von der SPD)

Es geht im Kern in vielen dieser Bereiche, die ich genannt habe, auch um die Rolle, die wir dem Staat in unserer Gesellschaft zuweisen. Dies ist das zentrale Thema.

In den letzten Jahren wurde es zunehmend modern, den Staat schlecht – und seine Aufgaben kleinzureden. Ich gestehe gerne ein: Auch wir Sozialdemokraten waren daran – allerdings weniger als andere – ein bisschen mit beteiligt. Wenn es nach Ihnen gegangen wäre, dann wäre mit der Bundestagswahl im letzten Jahr der Startschuss für eine weitgehende Entstaatlichung unserer Gesellschaft erfolgt. Von diesen Plänen ist Gott sei Dank auf Bundesebene nicht mehr viel übrig geblieben. Da ist die SPD vor, meine Damen und Herren!

(Beifall von der SPD)

Nur die Landesregierung Nordrhein-Westfalen klammert sich noch an dieses gescheiterte Projekt. Sie realisieren offensichtlich gar nicht, welche Verschiebung da gerade in der öffentlichen Meinung stattfindet. Gehen Sie raus! Reden Sie mit den Menschen! Dann merken Sie: Die Menschen erwarten, dass der Staat funktioniert und dass er stark genug ist, sie zu schützen – nicht nur bei der inneren Sicherheit, sondern auch und gerade im Feld der sozialen Gerechtigkeit und der Chancengleichheit.

Auch hier lassen Sie mich unverdächtige Zeugen benennen. Die Bertelsmann-Stiftung hat mit ihrer Repräsentativumfrage „Staat der Zukunft“ im Au

gust 2005 folgende Zahlen erhoben: Mehr als 90 % der Bundesbürger erwarten, dass der Staat für gleiche Bildungschancen sorgt. 89 % erwarten von ihm, dass er Gerechtigkeit sicherstellt.

(Zuruf von Helmut Stahl [CDU])

Herr Papke, im Vokabular der FDP kommt der Begriff gar nicht vor.

(Beifall von SPD und GRÜNEN)

Dass er für individuelle Entfaltungsmöglichkeiten sorgt, wird dagegen nur von jedem Zweiten als wichtig erachtet. Das sollte Ihnen doch zu denken geben, Herr Papke. Mit Ihrer Formel „Freiheit vor Gleichheit“

(Dr. Gerhard Papke [FDP]: Richtig!)

werden Sie den Erwartungen der Menschen nicht gerecht. Für uns wird es immer beim Gleichklang von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit bleiben, meine Damen und Herren.

(Beifall von SPD und GRÜNEN)

Ähnliches geht aus dem Bericht „Perspektive Deutschland“ der Initiative von McKinsey, Stern, ZDF und anderen hervor.

76 % der Teilnehmer an dieser Studie – einer Repräsentativbefragung -wünschen, dass die sozialen Unterschiede künftig geringer beziehungsweise viel geringer sein sollen als heute. Auf die Frage, wie das erreicht werden kann, weisen die Teilnehmer vor allem dem Staat eine aktive Rolle zu. Die Autoren bilanzieren das mit der Feststellung, der Ruf nach mehr Staat sei lauter als im Vorjahr.

Ihr Programm „Privat vor Staat“ verliert offensichtlich ständig Anhänger, Herr Ministerpräsident. Die Menschen haben begriffen, dass es nicht der richtige Weg ist, den Staat finanziell und organisatorisch so zu schwächen, dass er den Schwächeren und Schwächsten nicht mehr helfen und die Stärkeren – falls erforderlich – nicht mehr in ihre Schranken weisen kann.

Deshalb sind wir der Überzeugung, dass Ihr Weg ein Irrweg ist. Er würde unser Land spalten und am Ende dazu führen, dass es in der Konkurrenz zu anderen Ländern nicht mehr wettbewerbsfähig wäre. Deshalb treten wir dafür ein, auch zukünftig einen starken und handlungsfähigen Staat zu erhalten.

Das bedeutet ausdrücklich nicht, dass wir beharren oder verharren wollen. Es muss beim Staat eine Effizienzsteigerung geben. Aber es darf nicht

der Grundsatz „Privat vor Staat“ wie eine Monstranz voran getragen werden.