Protokoll der Sitzung vom 06.07.2005

Wenn Ihre Beteuerungen von Freiheit und Eigenverantwortung der Schulen, die Sie in Ihrem Entschließungsantrag wiederholen, aufrichtig sind, dann lassen Sie die Schulen doch ihren Weg gehen, statt ihnen im Handstreich zu verbieten, integrierte Naturwissenschaften zu unterrichten. - Oder reicht die Freiheit nur so weit, wie Sie in der Koalition zu denken bereit sind oder können?

Es geht um die wirklichen schulfachlichen Problemstellungen der Qualitätsentwicklung, nicht um Ihre Befindlichkeiten und das eingeschränkte Verstehen eines Konzeptes. Es sind die Fragen von Demographie, das Schaffen der Voraussetzungen für den Erhalt einer wohnortnahen Bildungsinfrastruktur, die gleichzeitig mehr höher qualifizierende Abschlüsse ermöglicht. Denn wir brauchen u. a. eine höhere Akademikerquote, weil wir sonst den Anschluss auf dem Weg in die Wissensgesellschaft verlieren.

Sie ignorieren konsequent die OECD-Studien, die schon für das Jahr 2020 prognostizieren, dass sich nur mehr gut 10 % der Arbeitsplätze in der manuellen Produktion befinden werden. - Wofür bilden Sie denn eigentlich die Schülerinnen und Schüler aus, denen Sie so gerne das Label „Praktisch begabt“ aufdrücken? Tatsächlich haben Sie bereits eine ganze Gruppe Jugendlicher abgeschrieben. Das drücken Sie in Ihrem Antrag eindeutig aus, wenn Sie schreiben:

„Alle Schulabgänger, die dazu befähigt sind, sollen gut für eine Berufsausbildung oder für ein Studium gerüstet sein.“

Statt der skandinavischen Grundhaltung, die Potenziale aller Schüler und Schülerinnen in der Spitze und in der Breite zu fördern, sie zum Lernen zu ermutigen, ihnen das Lernen zuzutrauen und statt Verantwortung für den Bildungserfolg zu übernehmen, schreiben Sie von vornherein Schülerinnen und Schüler in diesem Land komplett ab.

Ist das das gerechtere Schulwesen, von dem Sie sprechen, orientiert an christlichen Grundwerten? Ich fordere Sie auf, unserem Antrag zu folgen und Schulträgern, Kollegien, Eltern, Schülerinnen und Schülern damit zu signalisieren, dass Sie ihre Schulentwicklungsinitiativen wertschätzen, dass ihre Arbeit Vertrauensschutz genießt, dass Freiheit und Selbstverantwortung für Sie nicht bloße Lippenbekenntnisse sind.

(Beifall von den GRÜNEN)

Und ich fordere Sie auf, den schulpolitischen Teil Ihrer Koalitionsvereinbarung endlich schulfachlich zu fundieren und dahin gehend zu korrigieren, dass Sie Chancengleichheit und soziale Gerechtigkeit steigern, anstatt beides abzubauen. - Vielen Dank.

(Beifall von GRÜNEN und SPD)

Das Wort hat nun Frau Abgeordnete Ute Schäfer für die SPDFraktion.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Ministerin Sommer, Sie haben einen wichtigen Aufgabenbereich übernommen, in dem man ganz viel bewegen kann, ein Aufgabenfeld mit großer Verantwortung. Das verlangt Besonnenheit, Dialogbereitschaft und Gestaltungskraft. Ich möchte Ihnen zunächst einmal zu Ihrer Ernennung gratulieren.

Für die SPD-Fraktion biete ich Ihnen eine sachorientierte und faire Oppositionsarbeit an, im Inte

resse unserer Lehrerinnen und Lehrer und im Interesse der jungen Menschen in unserem Land. Ich verspreche Ihnen aber auch: Wir werden keine bequeme Opposition sein.

Sie wissen, Frau Ministerin Sommer, dass ich mich in besonderer Weise um Dialogbereitschaft und Transparenz bemüht habe. Ich wünsche mir, dass Sie das hier in Nordrhein-Westfalen nicht abbrechen.

Ich bedauere allerdings sehr, dass Sie diesem Wunsch mit Ihrer ersten Maßnahme nicht entsprechen konnten. Ich bedauere, dass Sie Maßnahmen übers Knie brechen müssen, die nicht Sie, sondern andere für Sie entschieden haben.

(Beifall von SPD und GRÜNEN)

Die hektische Änderung der Ausbildungsordnung zu Naturwissenschaften ohne ein faires Beteiligungsverfahren ist ein denkbar schlechter Start.

(Beifall von der SPD)

Jeder Kundige hier im Land hat sich allerdings im Rahmen der Regierungsbildung die Frage gestellt, wer im Koalitionsvertrag eigentlich die bildungspolitischen Wegmarken gesetzt hat.

(Sylvia Löhrmann [GRÜNE]: Das fragen wir uns auch!)

Ich kann nur sagen: Kompliment an die FDP! Der fleißige Herr Witzel lässt grüßen. Ich finde, Sie haben den großen Partner ziemlich gut über den Tisch gezogen.

(Beifall von der SPD)

Das wird an Ihrer Vereinbarung deutlich, die Frau Kollegin Beer schon ansprach, die Schulbezirke für die Grundschulen aufzuheben. Endlich kommt jetzt der freie Markt! Er wird aber nur für einige wenige zum Vorteil sein, nämlich die Kinder der Eltern, die Zeit und Ressourcen haben, sie durch das Land zu fahren. Ist das Ihr Beitrag dazu, Bildungserfolg und soziale Herkunft zu entkoppeln?

Bis jetzt gilt in Nordrhein-Westfalen - Herr Solf teilt ja die Einschätzung -: Die Grundschule soll eine wohnortnahe Schule und nach dem Grundgesetz eine Schule für alle Kinder sein. Sie hat eine sozial-integrative Funktion; das wissen Sie, Frau Ministerin Sommer. Es gilt: kurze Beine, kurze Wege. Aber nach den kalten, marktradikalen Vorstellungen der FDP, vor denen die CDUBildungspolitik leider kapituliert hat, wird das künftig nicht mehr so sein. Eltern sollen Grundschulen auswählen. Aber wonach? - Anzahl der Ausländer oder Spätaussiedler? Zustand der Gebäude? Ausstattung der Schule? Sponsoren der Schule?

Wissen Sie eigentlich, was Sie dem Schulträger damit aufbürden? Haben Sie begriffen, wie sehr Sie in die kommunale Planungshoheit eingreifen?

(Beifall von Sylvia Löhrmann [GRÜNE])

Haben Sie sich einmal Gedanken gemacht, ob nicht sogar das Konnexitätsprinzip greifen wird und die Kommunen beim Land Regress oder Schadenersatz einfordern können?

Und haben Sie sich einmal die aktuelle Pressemitteilung des Städte- und Gemeindebundes angesehen? Herr Dr. Schneider vom Städte- und Gemeindebund ist politisch sicher sehr unverdächtig, die Interessen der Sozialdemokraten zu vertreten. Wenn er an diesem Verfahren Kritik äußert, müssten Sie spätestens jetzt Ihre Positionierung überprüfen. Ich zitiere aus der Pressemitteilung vom 14.06. mit Genehmigung des Präsidenten:

„Eine Abschaffung der Schulbezirke im Grundschulbereich, wie von CDU und FDP geplant, würde die Kommunen als Schulträger in ein organisatorisches Chaos stürzen. Denn dann gäbe es kein Instrument mehr, die Schülerströme den vorhandenen Kapazitäten anzupassen. Daher sind die Schulbezirke in der bisherigen Form beizubehalten.“

(Beifall von SPD und GRÜNEN)

Sie streichen das alles mit einem Federstrich weg, Herr Witzel. Sie nehmen das nicht ernst. Das sind die Belange der Kommunen in unserem Land, für das Sie jetzt zuständig sind.

(Zuruf von der SPD: Sehr richtig!)

Es geht munter weiter mit der FDP-Dominanz: Zukünftig gibt es ein Grundschulgutachten, das Eltern vorschreibt, welche weiterführende Schule ihr Kind besuchen muss. Der Elternwille hat in Nordrhein-Westfalen zukünftig keine Bedeutung mehr.

(Beifall von SPD und GRÜNEN)

De facto gilt nur noch die Aussage der Grundschule - liberal, also zurück in die 60er-Jahre. Damals gab es Aufnahmeprüfungen.

(Theo Kruse [CDU]: Genau so!)

Damals hat die Tagesform eines zehnjährigen Kindes darüber entschieden, welche weiterführende Schule es besuchen wird.

(Oh-Rufe von CDU und FDP)

Zukünftig wird es die Tagesform eines neunjährigen Kindes sein, weil auch diese Planungen in Ihrer Schublade liegen. Auslese zum frühestmög

lichen Zeitpunkt ist kinderfeindlich, aber offensichtlich gelb gewollte und schwarz tolerierte Bildungspolitik. Ist das Ihr Beitrag, den Bildungserfolg von der sozialen Herkunft abzukoppeln?

(Ralf Witzel [FDP]: So ist das!)

Die Eltern in Nordrhein-Westfalen werden sich zukünftig wieder in Bittstellermanier vor die Tore stellen müssen, diesmal vor die Tore der Grundschulen.

Ich denke, es ist kein Geheimnis, dass Ihre neoliberalen Vorstellungen nicht mit unseren bildungspolitischen Zielen übereinstimmen. Frau Ministerin Sommer, ich wünsche Ihnen, dass Sie sich hier einen Spielraum der Vernunft schaffen können und sich nicht zu einer Erfüllungsgehilfin dieses Koalitionsvertrages machen müssen.

(Beifall von SPD und GRÜNEN)

Für Unruhe sorgt auch Ihre Ankündigung, Kinder demnächst ein volles Jahr früher einzuschulen. Das stößt nicht überall im Land auf uneingeschränkte Gegenliebe. Hier müssen Sie schnell für Klarheit sorgen. Sie müssen auch schnell sagen, wie Sie das finanzieren wollen, was Sie in den Koalitionsvertrag geschrieben haben. Sie haben sehr viel versprochen. Für Ihre Versprechungen im Koalitionsvertrag benötigen Sie ca. 15.000 Lehrerstellen. Das sind in toto, Herr Dr. Linssen, 750 Millionen €. Ich denke, das wissen Sie sehr gut.

Ich brauche Ihnen die Zahlen nicht aufzuzählen - die 8.000 für die Einschulung mit fünf Jahren, die 2.400 für den Ganztag, die 1.200 für den Englisch-Unterricht oder die erste Fremdsprache in den ersten beiden Schuljahren. Dabei habe ich noch gar nicht die 4.000 Lehrerstellen erwähnt, die Sie im Wahlkampf versprochen haben, um den Unterrichtsausfall zu stoppen und die Klassen kleiner zu machen.

(Edgar Moron [SPD]: "Unterrichtsgarantie" haben Sie gesagt!)

Man darf gespannt sein. Denn mit 4.000 neuen Lehrerstellen können Sie jede Klasse in Nordrhein-Westfalen um die gewaltige Menge von 0,8 Schülern verkleinern. Damit haben Sie noch nicht eine Stunde gegen den Unterrichtsausfall investiert. Haben Sie das alles auf Ihrer Agenda? Wenn Sie dies alles umsetzen wollen, müsste Frau Ministerin Sommer gleich 3.000 zusätzliche neue Lehrerstellen ankündigen können; denn Sie müssen mindestens jedes Jahr 3.000 neue Lehrerstellen schaffen, wenn Sie die 15.000 tatsächlich umsetzen wollen. Wir alle sind sehr gespannt, wie Sie das finanzieren wollen. Sie haben sich ja zum

anderen Tagesordnungspunkt schon geäußert, Herr Dr. Linssen.

(Zuruf von Hans Peter Lindlar [CDU])