Protokoll der Sitzung vom 31.05.2006

Ich habe großes Verständnis dafür, dass Haushälter ihre Zahlen und Belastungen sehen. Wenn das

aber das ausschließliche Maß der Dinge ist, wenn also nur der sogenannte verengte Blick gilt und nicht der Blick aufs Ganze, Herr Minister, dann müssten auch bei Ihnen die Alarmglocken schrillen. Sie wissen genau, dass die Gesamtkosten des Systems bei einer Weiterführung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe nicht aus dem Ruder gelaufen wären und dass die Kosten im heutigen System nicht aus dem Ruder laufen. Was aus dem Ruder läuft, sind die veranschlagten Haushaltspositionen des Bundes.

Die Menschen im Land erleben die Realität anders, als wir das debattieren. Die Medienbegleitung bei diesem Prozess ist ja geradezu gigantisch. Vor 15 Monaten wurden in den Medien die Armut und alles Mögliche beklagt. Heute schreiben die gleichen Magazine, dieses System sei Kommunismus pur. Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Menschen im Land lassen sich nicht täuschen. Sie erleben natürlich eine Reduktion von Leistungen. Aber gleichzeitig sollen die Kosten ins Uferlose steigen und die Bundesagentur für Arbeit einen Milliardenüberschuss haben. Diese Gleichung geht nicht auf, und das ist wohl auch keinem zu erklären.

(Beifall von der SPD)

Die Überschüsse der Agentur für Arbeit sind zu einem großen Teil darauf zurückzuführen, dass gerade die Menschen, die Vermittlungshemmnisse haben, quasi durchgereicht werden.

Also: Den Veränderungsbedarf sehen wir auch. Aber wir sollten ihn mit Pragmatismus und ohne Ideologie angehen. Der Aussteuerungsbetrag für diejenigen, die die Agentur, ohne dass ihnen Maßnahmen zuteil werden, durchreicht, muss erhöht werden. Das führt dann auch zu Veränderungen im Bundeshaushalt.

Also: Keine Generalrevision, sondern ein etwas längerer Atem in der Frage ist angesagt.

Lassen Sie mich noch einmal sagen: Auch aus der Sicht der Sozialdemokraten ist eine Veränderung in diesem System notwendig – eine dauerhafte Veränderung, die insgesamt von etwas weniger Flügelschlagen begleitet wird.

Abschließend, Herr Ministerpräsident, will ich Ihren Amtskollegen aus Niedersachsen zitieren. Der warnte vor einem Streit – Kollege Schmeltzer ist eben kurz darauf eingegangen – zwischen Union und SPD über das Hartz-IV-Paket. Die Bündnispartner seien gezwungen, dem gegenwärtig wichtigsten Reformvorhaben zu einem Erfolg zu verhelfen, und dürften es nicht auf eine ideologische

Verhärtung ankommen lassen. Das sagte Ihr Kollege laut der Chemnitzer „Freien Presse“. Von der großen Koalition, so Wulff weiter, werde Großes erwartet. Er plädiere dafür, den Ländern und Kommunen bei einer Korrektur der Hartz-IVReform ein größeres Mitspracherecht zu geben.

Wir sind wie der Niedersächsische Ministerpräsident an einem Erfolg der großen Koalition im Interesse der Menschen interessiert. Sie, Herr Ministerpräsident, haben jedenfalls nach Ihren bisherigen Einlassungen dieses Interesse offensichtlich nicht. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der SPD)

Danke schön, Herr Garbrecht. – Für die CDU spricht nun der Abgeordnete Wilp.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich fand es schon wohltuend, wie Herr Garbrecht hier gesprochen hat. Ich glaube, das gibt uns die Möglichkeit, uns in der Sache auseinander zu setzen. Der Rundumschlag des Herrn Schmeltzer hat der Sache meiner Meinung nach überhaupt nicht gedient.

(Beifall von der CDU – Rainer Schmeltzer [SPD]: Wer will denn einen Rundumschlag? Schauen Sie doch nach links und rechts!)

Ich bleibe dabei: Wie Sie das gemacht haben, ist das meiner Meinung nach der Sache überhaupt nicht dienlich. Das war ein unqualifizierter verbaler Rundumschlag.

(Zurufe von der SPD)

Uns allen geht es um doch um die Menschen, die arbeitslos sind und Arbeit suchen. Wir haben zu fragen, ob die Instrumente, die wir beschlossen haben, die richtige Antwort sind. Da hilft es doch am besten und am ehesten, wenn wir zunächst einmal eine saubere Analyse vornehmen.

(Beifall von der CDU)

Dabei müssen wir feststellen, dass wir mit dem Instrumentarium, das wir beschlossen haben, nicht hinkommen und die Probleme nicht lösen können, die wir alle zu bewältigen haben.

(Beifall von der CDU – Rainer Schmeltzer [SPD]: Sie sagen wenigstens „das wir be- schlossen haben“!)

Wenn ich das richtig sehe, haben wir uns wahrscheinlich sogar alle – die einen mehr, die anderen weniger – in eine euphorische Stimmung ver

setzen lassen, die der Wirklichkeit nicht gerecht wird.

(Rainer Schmeltzer [SPD]: Von Ihren Partei- freunden!)

Nein, Sie waren das.

(Hannelore Kraft [SPD]: Doch!)

Darf ich Ihnen vorlesen – man hat ja auch Papiere gelesen –, was in dem Gesetzentwurf der Bundesregierung vom Oktober 2003 steht? Da heißt es so schön:

„Wegen der konjunkturellen Krise, aber auch wegen struktureller Defizite am Arbeitsmarkt ist die Entwicklung bei der Arbeitslosigkeit gegenwärtig nicht zufriedenstellend.“

(Hannelore Kraft [SPD]: Richtig!)

„Die Bundesregierung hat deshalb im Jahr 2002 die Kommission Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt mit dem Auftrag eingesetzt, Vorschläge zur Herstellung einer neuen Ordnung auf dem Arbeitsmarkt zu erarbeiten.“

So weit, so gut. Weiter heißt es dort:

„Die von der Kommission vorgelegten Vorschläge sind aus der Sicht der Bundesregierung geeignet, den Abbau der Arbeitslosigkeit nachhaltig zu beschleunigen.“

Dieses Projekt ist dann euphorisch als Jahrhundertwerk der Sozialpolitik gefeiert worden.

(Rainer Schmeltzer [SPD]: Vermittlungsaus- schuss! – Zuruf von Hannelore Kraft [SPD])

Nur, eines müssen wir jetzt auch zugeben, Frau Kraft: Das bisherige Ergebnis ist mehr als bescheiden.

(Rainer Schmeltzer [SPD]: Wer war denn daran beteiligt? – Weitere Zurufe von der SPD)

Eines ist klar: Die in die Reform gesetzten Erwartungen wurden in keiner Weise erfüllt. Die Zahl der Arbeitslosen ist nach wie vor erschreckend hoch, auch hier in Nordrhein-Westfalen. Daher verwundert es nicht, dass Korrekturen angemahnt werden. Die Bundeskanzlerin spricht in diesen Tagen von einem notwendigen zweiten Schritt, von einer grundlegenden Überholung. Andere wählen einen anderen Begriff dafür. Bisher hat keines der 13 Reformmodule der Hartz-Kommission die Erwartungen, die durch die hochtrabenden Ankündigungen geweckt wurden, erfüllt.

In einem Kommentar habe ich jetzt folgenden Satz gelesen – wenn ich zitieren darf –:

„Die ‚Jahrhundertreform’ der Regierung Schröder … hat das Zeug, zu einer Jahrhundertbaustelle der Sozialpolitik zu werden.“

(Beifall von der CDU)

Ich füge hinzu: Anderthalb Jahre nach In-KraftTreten wird das Gesetz in dieser Woche einer zweiten Überholung in 70 Punkten unterzogen. Das allein reicht jedoch nicht aus. Eine dritte Überarbeitung grundlegender Art ist bereits für den Herbst angesetzt.

Wenn man den Bericht des Bundesrechnungshofes zur Durchführung der Grundsicherung für Arbeitsuchende liest, wird deutlich, dass bereits jetzt gravierender Handlungsbedarf besteht. Das lässt sich doch nicht leugnen. Sie brauchen nur die erste Seite der Zusammenfassung dieses Berichtes zu lesen – dann wissen Sie, worum es geht.

(Zurufe von der SPD)

Da steht – wenn ich zitieren darf –:

„Die Vermittlungsaktivitäten der Grundsicherungsstellen wiesen in der Mehrzahl der vom Bundesrechnungshof geprüften Fälle bei wesentlichen Qualitätsmerkmalen unterschiedliche, zum Teil erhebliche Mängel auf. So hatten die Grundsicherungsstellen mit einem Drittel der erwerbsfähigen Hilfebedürftigen noch keinerlei strategische Gespräche geführt, obwohl die betroffenen Personen seit durchschnittlich siebeneinhalb Monaten Leistungen bezogen. Entgegen der gesetzlichen Verpflichtung hatten sie in etwa der Hälfte der geprüften Fälle keine Eingliederungsvereinbarungen geschlossen. Durchschnittlich warteten die zu aktivierenden erwerbsfähigen Hilfebedürftigen drei Monate auf ein qualifiziertes Erstgespräch zur Abstimmung einer Vermittlungsstrategie und vier Monate auf eine Eingliederungsvereinbarung, mit der die notwendigen Integrationsmaßnahmen verbindlich festgelegt wurden. In vier von zehn geprüften Fällen, in denen die Grundsicherungsstellen mit den erwerbsfähigen Hilfebedürftigen Integrationsempfehlungen vereinbart hatten, war nicht zu erkennen, dass sie diese auch nachhaltig verfolgten. In sechs von zehn geprüften Fällen gingen die Grundsicherungsstellen Anhaltspunkten für sanktionsrelevante Sachverhalte nicht nach.“

Das ist kein Bericht der CDU; das ist der Bericht des Bundesrechnungshofes. Wenn wir den lesen, dann muss uns doch klar sein: Es kann so nicht weitergehen. Wenn wir nicht über das Konzept reden, brauchen wir über die Hartz-IV-Empfänger erst gar nicht zu sprechen. Es geht jetzt in erster

Linie darum, wie wir dieses Instrumentarium optimieren können, um so den Betroffenen besser helfen zu können.

In den vergangenen Jahren waren im Bundeshaushalt 14 Milliarden € für das Arbeitslosengeld II eingeplant. Tatsächlich lagen die Kosten um 10 Milliarden € höher. Wer war denn dafür zuständig, die Kosten einzuplanen? Die Gesamtkosten für die Langzeitarbeitslosen inklusive Verwaltungskosten, Kosten für Unterkunft und Eingliederungsleistungen lagen im vergangenen Jahr bei 44,4 Milliarden €. In diesem Jahr sind 24,4 Milliarden € eingesetzt. Das ist etwa die gleiche Größenordnung wie 2005. Man geht davon aus – zumindest sagen das ernst zu nehmende Stimmen –, dass man damit nicht hinkommt.

Die Zahl der Arbeitslosengeldbezieher war erheblich höher, als man das zunächst eingeschätzt hatte. Sie lag bis zu einem Drittel höher. Die Zahl der Bedarfsgemeinschaften wuchs ebenfalls erheblich. Ich sage ganz deutlich: Mir geht es heute darum zu klären, was wir an diesem System ändern müssen. Das Prinzip des Förderns und Forderns ist bisher nur mangelhaft umgesetzt worden. Besonders die Arbeitsgemeinschaften von Kommunen und Arbeitsagenturen sind mit der Fülle der ihnen zugewiesenen Aufgaben anscheinend überfordert.

Die Arbeitsvermittlung muss von unnötiger Bürokratie entlastet werden. Ansonsten geht viel zu viel Zeit für das eigentliche Kerngeschäft, nämlich die Arbeitsvermittlung, verloren.

Und die Arbeitsvermittlung kann nur vor Ort erfolgreich sein. Das lässt sich nicht von oben zentralistisch verordnen. Erforderlich sind der regionale Bezug und die regionale Verantwortung.